Anwaltsblog 12/2025: Wann ist die Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB rechtsmissbräuchlich?

Der BGH hatte zu entscheiden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit bei einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag der Widerruf des Verbrauchers rechtsmissbräuchlich ist (BGH, Urteil vom 20. Februar 2025 – VII ZR 133/24):

 

Die Klägerin begehrt vom Beklagten Werklohn für eine Verkehrsflächenreinigung. Durch den PKW des Beklagten kam es am 31. August 2020 auf der Bundesautobahn 5 im Bereich der Ausfahrt Karlsruhe zu einer Verunreinigung der Verkehrsfläche durch eine Ölspur. Der Beklagte beauftragte die Klägerin am selben Tag vor Ort schriftlich mit der Reinigung der Fahrbahn. Er unterzeichnete zudem ein ihm ausgehändigtes, gesondertes Blatt mit einer Widerrufsbelehrung. Diese enthielt weder einen Hinweis auf das Muster-Widerrufsformular noch wurde ihm ein solches ausgehändigt. Die Klägerin reinigte die Verkehrsfläche und rechnete hierfür 1.975,43 € brutto ab. Der Beklagte erklärte auf Anraten seines Haftpflichtversicherers mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 den Widerruf des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags.

Das Amtsgericht hat die auf Zahlung von 1.975,43 € gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Klageforderung zuerkannt. Der Beklagte habe den Werkvertrag nicht wirksam widerrufen. Allerdings habe ihm aufgrund des außerhalb von Geschäftsräumen erfolgten Vertragsschlusses ein gesetzliches Widerrufsrecht gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB zugestanden. Der Beklagte sei jedoch nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB daran gehindert, sich auf sein Widerrufsrecht zu berufen. Bei Nassreinigungsarbeiten auf Straßen handele es sich um Arbeiten, die aufgrund des Gefährdungspotentials für andere Verkehrsteilnehmer mit Zeitdruck durchgeführt werden müssten. Bei diesen Arbeiten bestehe nur ein kurzes Zeitfenster – im Streitfall höchstens eineinhalb Stunden – in dem überhaupt ein Widerruf durchgeführt werden könne. Es komme hinzu, dass Nassreinigungsarbeiten üblicherweise vom Träger der Straßenbaulast beauftragt würden; dieser habe sodann gegen den Schädiger einen Anspruch auf Ersatz der Reinigungskosten. Bei einer Beauftragung des Reinigungsunternehmers durch den Träger der Straßenbaulast stehe diesem kein Widerrufsrecht zu. Es wäre daher eine ungerechtfertigte Bevorzugung des Beklagten, wenn seine Ersatzpflicht als Schädiger nur deshalb entfiele, weil er den Reinigungsunternehmer selbst beauftragt habe und er diesen Vertrag wegen eines kleinen Fehlers bei der Widerrufsbelehrung auch noch nach Ausführung der Leistung widerrufen könne.

Die Revision hat Erfolg und führt zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Ausübung des Widerrufsrechts durch den Beklagten sei rechtsmissbräuchlich, ist rechtsfehlerhaft. Allerdings ist es weder nach Unionsrecht noch nach nationalem Recht ausgeschlossen, der Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1 BGB im Einzelfall den Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenzuhalten. Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung. Es setzt der Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt. Insbesondere muss § 242 BGB dann in Betracht gezogen werden, wenn die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften einen im Einzelfall bestehenden Interessenkonflikt nicht hinreichend zu erfassen vermag und für einen der Beteiligten ein unzumutbar unbilliges Ergebnis zur Folge hätte. Dagegen berechtigt § 242 BGB nicht zu einer reinen Billigkeitsjustiz. Gründe der Rechtssicherheit verbieten es vielmehr, Vorschriften des zwingenden Rechts unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben auch dort anzutasten, wo besondere gesetzliche Regelungen den Interessenkonflikten bereits Rechnung tragen. Hiervon ausgehend kommt ein Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts wegen Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB nur ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer, in Betracht. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bereits das gesetzliche Regelungsgefüge zum Verbraucherwiderrufsrecht die als schutzwürdig erkannten Interessen sowohl des Verbrauchers auf der einen als auch des Unternehmers auf der anderen Seite berücksichtigt. Die darin liegenden gesetzlichen Wertungen dürfen nicht durch die Anwendung von § 242 BGB umgangen werden.

Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Es hat den Ausnahmecharakter des Einwands des Rechtsmissbrauchs nicht berücksichtigt und ist insoweit von einem unzutreffenden Wertungsmaßstab ausgegangen. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen die Annahme eines Verstoßes gegen Treu und Glauben wegen Rechtsmissbrauchs nicht. Die Dringlichkeit der Reinigungsarbeiten aufgrund des mit der Ölspur verbundenen Gefährdungspotentials sowie die kurze Ausführungsdauer sind keine Umstände, die ausnahmsweise den Einwand rechtfertigen könnten, die Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts durch den Beklagten sei rechtsmissbräuchlich. Das Berufungsgericht verkennt insoweit, dass bereits das Gesetz in § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB (dringende Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten auf Aufforderung des Verbrauchers) und § 356 Abs. 4 BGB (Erlöschen des Widerrufsrechts bei vollständiger Leistungserbringung) derartige Umstände berücksichtigt und den Interessen des Unternehmers Rechnung trägt, indem es unter den dort geregelten Voraussetzungen ein Widerrufsrecht des Verbrauchers verneint. Liegen in diesen Fällen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verneinung des Widerrufsrechts nicht vor, kann die darin liegende gesetzliche Wertung nicht durch den Rückgriff auf § 242 BGB umgangen werden. Es müssen dann vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die den nur ausnahmsweise in Betracht kommenden Einwand des Rechtsmissbrauchs rechtfertigen können. Solche weiteren Umstände, die eine besondere Schutzbedürftigkeit des Unternehmers begründen, sind nicht erkennbar. Der Umstand, dass üblicherweise der Träger der Straßenbaulast Nassreinigungsarbeiten beauftragt, diesem kein Widerrufsrecht zusteht und er den Schädiger im Anschluss wegen der Kosten der Reinigung nach § 7 StVG oder § 823 BGB in Regress nehmen kann, kann den nur ausnahmsweise eingreifenden Einwand des Rechtsmissbrauchs ebenfalls nicht begründen. Das Berufungsgericht verkennt insoweit, dass sich die Klägerin dafür entschieden hat, die Nassreinigungsarbeiten nicht auf der Grundlage eines Vertrags mit dem Träger der Straßenbaulast durchzuführen, sondern hierüber einen Vertrag mit dem Beklagten als Verbraucher abzuschließen. Sie hat sich damit bewusst dem Regime des Verbrauchervertrags und damit dem Risiko einer Widerruflichkeit der Willenserklärung des Beklagten zu diesem Vertrag ausgesetzt.

Die Anforderungen an die gebotene Belehrung im Fall eines Widerrufsrechts des Verbrauchers gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB ergeben sich aus Art. 246a § 1 Abs. 2 EGBGB. Diese Vorschrift regelt den gesetzlichen Mindestinhalt einer Widerrufsbelehrung. Danach ist der Unternehmer verpflichtet, den Verbraucher über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular aus der Anlage 2 zu Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGBGB zu informieren. Die gesetzlichen Informationspflichten dienen dem vom nationalen Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU verfolgten Zweck, dem Verbraucher eine ungehinderte Ausübung des Widerrufsrechts zu ermöglichen. Der Verbraucher soll durch die Belehrung nicht nur von seinem Widerrufsrecht Kenntnis erlangen, sondern auch in die Lage versetzt werden, dieses ohne Schwierigkeiten wirksam auszuüben. Das Muster-Widerrufsformular bezweckt dabei unter anderem die Vereinfachung des Widerrufsverfahrens für den Verbraucher. Danach weist die Widerrufsbelehrung der Klägerin keinen nur geringfügigen Fehler auf, vielmehr hält sie die gesetzlichen Mindestvorgaben nicht ein. Denn die Klägerin hat in der Widerrufsbelehrung keinen Hinweis auf das Muster-Widerrufsformular erteilt und dieses dem Beklagten auch nicht ausgehändigt.

 

Fazit: Der Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB wegen Rechtsmissbrauchs kommt nur ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer, in Betracht. Das gesetzliche Regelungsgefüge zum Verbraucherwiderrufsrecht berücksichtigt bereits die als schutzwürdig erkannten Interessen sowohl des Verbrauchers auf der einen als auch des Unternehmers auf der anderen Seite. Die darin liegenden gesetzlichen Wertungen dürfen nicht durch die Anwendung von § 242 BGB umgangen werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um Ansprüche auf Verfahrenskostenvorschuss zwischen getrenntlebenden Ehegatten.

Kein Verfahrenskostenvorschuss für vor- oder außergerichtliche Beratung
BGH, Beschluss vom 5. Februar 2025 – XII ZB 187/24

Der XII. Zivilsenat befasst sich mit der Reichweite von § 1360a Abs. 4 BGB.

Die Beteiligten sind miteinander verheiratet und leben seit September 2022 dauerhaft getrennt. Kurz nach der Trennung ließ sich die Antragstellerin von ihrer späteren Verfahrensbevollmächtigten wegen der Trennungsfolgen rechtlich beraten. Die Rechtsanwältin richtete ein Schreiben an den Antragsgegner, in dem sie ihn unter anderem aufforderte, eine separate Wohnung zu beziehen, Trennungs- und Kindesunterhalt zu zahlen und Auskunft zum Trennungsvermögen zu erteilen. Ferner verlangte sie die Übernahme von Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von rund 1.300 Euro. Das auf Zahlung dieses Betrags gerichtete Begehren hatte in den beiden ersten Instanzen Erfolg.

BGH weist den Zahlungsantrag ab.

Kraft der Verweisung in § 1361 Abs. 4 Satz 4 BGB ist ein Ehegatte auch nach einer Trennung gemäß § 1360a Abs. 4 BGB verpflichtet, dem anderen Ehegatten im Rahmen der Billigkeit die Kosten eines Rechtsstreits vorzuschießen, wenn dieser eine persönliche Angelegenheit betrifft und der andere Ehegatte nicht in der Lage ist, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen, die auch von anderen Gerichten und einem Teil der Literatur vertreten wird, ergibt sich aus § 1360a Abs. 4 BGB kein Anspruch auf Vorschuss für vor- oder außergerichtliche Kosten. Gegen einen solchen Anspruch spricht nicht nur der Wortlaut der Vorschrift, sondern auch die Entstehungsgeschichte und die in den Gesetzesmaterialien zutage getretene Intention des Gesetzgebers. Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift scheidet jedenfalls deshalb aus, weil nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber für den Zugang zur Beratungshilfe von einem vergleichbaren Vorrangverhältnis ausgegangen wäre wie für den in § 1360a Abs. 4 BGB geregelten Vorrang von privatrechtlichen Ansprüchen im Verhältnis zu Prozesskostenhilfe.

Der geltend gemachte Anspruch kann auch nicht auf die Unterhaltspflicht des Antragsgegners gestützt werden, Aufwendungen für Prozesskosten gehören nicht zum allgemeinen Lebensbedarf. Für vor- oder außergerichtliche Kosten gilt nichts anderes.

Praxistipp: Über einen Antrag auf Beratungshilfe entscheidet gemäß § 4 BerHG das Amtsgericht, in dessen Bezirk der Rechtsuchende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Zuständig ist gemäß § 24a Abs. 1 RPflG der Rechtspfleger.

Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Gericht eine beantragte Zeugenvernehmung zurückweisen?

Unter welchen Voraussetzungen ein Gericht eine Partei mit einem Beweismittel (hier: Zeugenvernehmung) wegen dessen Nichterreichbarkeit ausschließen darf, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2025 – XII ZR 5/23):

 

Die Beklagte ist zur Zahlung rückständiger Miete für eine Gaststätte in Höhe von 22.120,10 € nebst Zinsen verurteilt worden. Mit ihrer Berufung hat sie behauptet, es sei mündlich eine Mietreduzierung vereinbart worden, und zum Beweis das Zeugnis ihrer Mutter angeboten. Das Berufungsgericht hat von der Vernehmung der Zeugin abgesehen und den Beweis als nicht erbracht angesehen. Die Zeugin sei reise- und verhandlungsunfähig. Eine Beweisaufnahme in  Form einer Video-Übertragung sei auf unabsehbare Zeit nicht durchführbar, sodass die Beklagte beweisfällig geblieben sei. Die Verurteilung wurde daher lediglich auf 20.902 € nebst Zinsen korrigiert und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Die Beklagte rügt mit Recht, dass sie durch die angefochtene Entscheidung in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist. Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Steht der Aufnahme des Beweises ein Hindernis von ungewisser Dauer entgegen, so hat das Gericht nach § 356 ZPO durch Beschluss eine Frist zu bestimmen, nach deren fruchtlosem Ablauf das Beweismittel nur benutzt werden kann, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts dadurch das Verfahren nicht verzögert wird.

Im vorliegenden Fall fehlt es hinsichtlich der Vernehmung der angebotenen Zeugin bereits an einem Hindernis iSv. § 356 ZPO. Denn das Berufungsgericht hat nicht sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die Durchführung der Zeugenvernehmung ausgeschöpft. Aufgrund der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen war die Zeugin zwar nicht reisefähig. Sie konnte danach weder vor dem Berufungsgericht noch vor dem vom Berufungsgericht für eine Videovernehmung ausgewählten Amtsgericht erscheinen. Daraus ergibt sich aber noch keine Undurchführbarkeit der Zeugenvernehmung. Vielmehr standen dem Berufungsgericht dazu weitere Möglichkeiten zur Verfügung, welche die Reisefähigkeit der Zeugin nicht voraussetzten. So bestand die Möglichkeit, die Zeugin nach § 375 Abs. 1 Nr. 2 ZPO durch ein Mitglied des Berufungssenats zu vernehmen. Hätte dem entgegengestanden, dass ein unmittelbarer Eindruck von der Zeugin unerlässlich war, hätte das Berufungsgericht eine Vernehmung der Zeugin durch den vollbesetzten Senat in deren Wohnung gemäß § 219 Abs. 1 ZPO in Erwägung ziehen und erforderlichenfalls durchführen müssen. Dagegen hat das Berufungsgericht neben der von ihm verworfenen schriftlichen Beantwortung der Fragen lediglich eine Videovernehmung versucht, was mangels Reisefähigkeit der Zeugin gescheitert ist. Zwar hat das Berufungsgericht daneben noch eine mangelnde Verhandlungsfähigkeit der Zeugin angeführt. Abgesehen davon, dass es bei Zeugen nicht auf die Verhandlungs-, sondern auf die Vernehmungsfähigkeit ankommt, fehlt es an einer Begründung, warum die Zeugin nicht zu einer Aussage in der Lage gewesen sein sollte. Allein ihr Alter von seinerzeit 83 Jahren und ihre fehlende Reisefähigkeit genügen dazu nicht.

 

Fazit: Die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Mai 2021 – XII ZR 152/19 –, MDR 2021, 958).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Vollstreckung eines Beseitigungstitels, die der Zustimmung eines Dritten bedarf.

Zwangsvollstreckung bei Nutzungsrechten Dritter
BGH, Beschluss vom 6. März 2025 – I ZB 38/24

Der I. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen von § 887 ZPO.

Die Schuldnerin ist rechtskräftig zur Beseitigung baulicher Maßnahmen auf einem mit einer Reitanlage bebauten Grundstück verurteilt. Zu der Anlage gehören Pferdeboxen, die die Schuldnerin gegen Entgelt zum Einstellen von Pferden an Dritte überlassen hat. Die Einsteller sind vertraglich zur Mitnutzung von Teilen der Anlage (Reithalle, Reitplatz, Führanlage) berechtigt, deren Beseitigung die Gläubiger anstreben. Die Gläubiger begehren die Ermächtigung, die Beseitigung auf Kosten der Schuldnerin selbst vornehmen zu lassen, und die Verurteilung der Schuldnerin zur Zahlung eines Kostenvorschusses. Das AG hat den Anträgen stattgegeben. Das OLG hat sie zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde der Gläubiger bleibt ohne Erfolg.

Eine Zwangsvollstreckung nach § 887 ZPO ist nicht zulässig, wenn ein Dritter zur Nutzung oder Mitnutzung des zu beseitigenden Objekts berechtigt ist und der Dritte weder seine Zustimmung erteilt hat noch zur Duldung der Maßnahmen verurteilt worden ist.

Im Streitfall gehören die vermieteten Pferdeboxen zwar nicht zu den zu beseitigenden Anlagen. Den Einstellern steht an diesen Anlagen aber zumindest ein vertragliches Mitbenutzungsrecht zu. Schon deshalb darf eine Vollstreckung nach § 887 ZPO nur mit ihrer Zustimmung stattfinden. Ob die Einsteller an den zu beseitigenden Anlagen Mitbesitz erworben haben, ist unerheblich.

Ob eine Vollstreckung nach § 888 ZPO zulässig wäre, bedarf keiner Entscheidung, weil diesbezügliche Anträge nicht gestellt sind.

Praxistipp: Wenn nicht feststeht, ob eine Zustimmung erforderlich ist und vorliegt, empfiehlt es sich, in erster Linie eine Vollstreckung nach § 887 ZPO und hilfsweise ein Zwangsgeld nach § 888 ZPO zu beantragen. Dann muss der Schuldner darlegen, dass und aus welchen Gründen ihm die Vornahme der titulierten Handlung unmöglich ist und was er konkret unternommen hat, um eine Zustimmung des Dritten zu erhalten (BGH, B. v. 27.11.2008 – I ZB 46/08, Tz. 12 – MDR 2009, 748).

BGH: Zulässigkeit und Prüfungsumfang bei Rechtsmitteln

Nicht nur die unteren Instanzen werden beständig mit mehr oder weniger nicht zielführenden Eingaben beschäftigt, manche davon erreichen auch den BGH. Im hier zu berichtenden Fall führte ein solcher Fall sogar zu zwei Entscheidungen des BGH (Beschl. v. 13.3.2024 und 4.12.2024 – II ZB 17/23)!

Das LG hatte einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die von dem Antragsteller gegen den Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde wurde von dem OLG zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde wurde von dem OLG nicht zugelassen, jedoch vom Antragsteller gleichwohl eingelegt.

Der BGH verwarf zunächst die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Der Beschluss des OLG ist unanfechtbar (§ 577 Abs. 1 S. 2, § 574 Abs. 1 S. 1, § 127 Abs. 2 ZPO). Die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde ist gleichfalls unanfechtbar, da es im Beschwerdeverfahren an einer dem § 544 ZPO (Nichtzulassungsbeschwerde) entsprechenden Vorschrift fehlt. Der Gesetzgeber hatte von einer solchen Möglichkeit im Beschwerdeverfahren bewusst abgesehen. Die Zulassung einer außerordentlichen Beschwerde ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Der Antragsteller muss den Beschluss des OLG mithin hinnehmen.

Die Konsequenz dieser Entscheidung war: Der Kostenbeamte des BGH musste dem Antragsteller eine Festgebühr in Höhe von 132 € in Rechnung stellen (GKG Anlage 1 Nr. 1826), und zwar ohne Rücksicht darauf, dass der vorstehend geschilderte Beschluss keine Kostenentscheidung erhielt. Die erwähnte Gebühr entsteht kraft Gesetzes (§ 22 Abs. 1 S. 1 GKG). Zwar ist das Verfahren für die Beantragung von Prozesskostenhilfe, einschließlich des diesbezüglichen Beschwerdeverfahrens, grundsätzlich kostenfrei; dies gilt jedoch nicht für eine unzulässige Rechtsbeschwerde. Gegen die Kostenanforderung legte der Antragssteller Erinnerung ein und verwies darauf, dass die vorherige Entscheidung unrichtig sei.

Damit konnte er keinen Erfolg haben. Die Erinnerung ist allerdings gemäß § 66 Abs. 1 GKG zulässig. Auch bei dem BGH ist der Einzelrichter zur Entscheidung berufen. Die Erinnerung ist jedoch unbegründet. Im Rahmen eines Erinnerungsverfahrens können nur noch die Entscheidungen im Kostenansatzverfahren auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Eine erneute Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung, auf der die Kostenrechnung beruht, ist nicht möglich. Die Erinnerung wurde daher zurückgewiesen. Diese Entscheidung erging zum Glück für den Antragsteller kostenfrei und auch ohne Kostenerstattungspflicht (§ 66 Abs. 8 ZPO).

Fazit: Beim Einlegen unzulässiger Rechtsmittel muss stets an die Kostenkonsequenz gedacht werden. Dies muss der Rechtsanwalt gegenüber dem Mandanten immer deutlich kommunizieren. Hier ging es nur um eine recht niedrige Festgebühr. Wenn sich jedoch die Gebühren nach dem Streitwert richten, können sehr unliebsame Überraschungen drohen!

Anwaltsblog 10/2024: Befangenheit eines Richters bei Mitwirkung an Versäumnisurteil in erster Instanz?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob der Vorsitzende eines Berufungssenats gemäß § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist, wenn er in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hatte, das in dem die Instanz abschließenden streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2025 – I ZB 40/24):

 

In einem Wettbewerbsprozess war Vorsitzender Richter am OLG K., damals noch als Vorsitzender einer Zivilkammer des Landgerichts, in erster Instanz am Erlass eines (ersten) Versäumnisurteils gegen die Beklagte beteiligt. Durch Endurteil, erlassen ohne die Beteiligung von K., erhielt die Kammer das Versäumnisurteil im Wesentlichen aufrecht. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. K. sitzt dem zuständigen Berufungssenat des OLG vor. Die Beklagte meint, er sei wegen Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen. Der Berufungssenat hat das Ablehnungsgesuch der Beklagten für unbegründet erklärt.

Der BGH ist mit dem OLG der Ansicht, dass ein Richter, der in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil gegen den Beklagten mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist, nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen ist. Er möchte die Rechtsbeschwerde daher zurückweisen, sieht sich an einer solchen Entscheidung aber gehindert, weil er damit von der Rechtsprechung des 5. Senats des BAG abwiche. Nach dessen Auffassung ist ein Richter, der in der Vorinstanz ein Versäumnisurteil erlassen hat, das auf Grund eines Einspruchs in einer neuen Entscheidung, an der ein anderer Richter mitgewirkt hat, aufgehoben oder bestätigt worden ist, gegen die nunmehr Berufung eingelegt wird, jedenfalls dann gemäß § 41 Nr. 6 ZPO von der weiteren Ausübung des Richteramts im Berufungsverfahren ausgeschlossen, wenn es sich – wie vorliegend – um ein nach § 331 Satz 1 ZPO gegen den säumigen Beklagten erlassenes Versäumnisurteil handelt, das gemäß § 343 ZPO aufrechterhalten worden ist (BAG, Beschluss vom 7. Februar 1968 – 5 AR 43/68). Deshalb ist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 RsprEinhG beim 5. Senat des BAG anzufragen, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält:

Nach Ansicht des Senats hat das OLG zu Recht entschieden, dass K. im vorliegenden Berufungsverfahren nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen ist. Danach ist ein Richter in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt, von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen. Dieser Ausschlussgrund greift nicht ein, wenn der Richter – wie im Streitfall – in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist. Es liegt zwar eine Mitwirkung in einem früheren Rechtszug vor, die sich nicht lediglich auf die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters erstreckt. Die Mitwirkung betrifft jedoch nicht den Erlass der angefochtenen Entscheidung. Nach § 511 Abs. 1 ZPO findet die Berufung gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt. Vorliegend ist das die erste Instanz beendende Urteil nicht das Versäumnisurteil vom 8. März 2023, an dem K. mitgewirkt hat, sondern das Urteil vom 23. November 2023 aufgrund streitiger mündlicher Verhandlung, an dem K. nicht mitgewirkt hat. Dass mit dem angefochtenen Urteil ein unter Mitwirkung des Richters erlassenes Versäumnisurteil aufrechterhalten worden ist, stellt keine Mitwirkung des Richters an der angefochtenen Entscheidung dar. Bei einem zulässigen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil ist das Gericht zu einer vollständigen Prüfung der Sache verpflichtet, und zwar auch dann, wenn der durch § 342 ZPO bewirkte Wegfall der Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht zu einer Veränderung der Tatsachengrundlage führt. Insbesondere kann und muss es die Schlüssigkeit der Klage ohne Bindung an das Versäumnisurteil neu beurteilen.

Es ist nicht geboten, die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO über ihren Wortlaut hinaus auf die Mitwirkung an einem ersten Versäumnisurteil anzuwenden, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist. Die ZPO wird von dem Gedanken geprägt, dass Richterinnen und Richter grundsätzlich auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn sie sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet haben. Das Verfahrensrecht sieht sie dazu in der Lage, ihre rechtliche Beurteilung fortlaufend zu überprüfen, sei es innerhalb desselben Verfahrens, sei es in einem nachfolgenden Verfahren. Die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO stellt eine begrenzte Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Rechtsmittelverfahrens sollen Richterinnen und Richter eine Entscheidung, an der sie selbst mitgewirkt haben, nicht in einem späteren Rechtszug überprüfen. Darüber hinaus eröffnet § 42 Abs. 1 Fall 2, Abs. 2 und 3 ZPO jeder Partei das Recht, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Für eine analoge Anwendung des § 41 Nr. 6 ZPO fehlt es daher bereits an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.

 

Fazit: Der Ausschlussgrund des § 41 Nr. 6 ZPO greift nicht ein, wenn der Richter in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Abrechnung von Nebenkosten durch einen der Umsatzsteuerpflicht unterliegenden Vermieter.

Umsatzsteueranteile in Nebenkosten
BGH, Urteil vom 15. Januar 2025 – XII ZR 29/24

Der XII. Zivilsenat befasst sich mit einer komplexen Gemengelage aus Zivil- und Steuerrecht.

Die Klägerin hat von der Beklagten Gewerberäume in einer Wohn- und Teileigentumsanlage angemietet. Der Mietvertrag sieht vor, dass die Klägerin die vereinbarte Miete samt Nebenkosten und die monatlichen Vorauszahlungen zuzüglich der jeweils geltenden Mehrwertsteuer zu zahlen hat. Die Beklagte hat gemäß § 9 Abs. 1 und 2 UStG auf die in § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG vorgesehene Steuerbefreiung für die Vermietung von Grundstücken verzichtet. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer hat auf die in § 4 Nr. 13 UStG vorgesehene Steuerbefreiung für Leistungen, die sie an die Wohnungs- und Teileigentümer erbringt, hingegen nicht verzichtet.

In der Abrechnung für das Jahr 2018 hat die Gemeinschaft der Beklagten Betriebskosten einschließlich der von ihr gezahlten Umsatzsteuerbeträge in Rechnung gestellt. Die Beklagte hat die entsprechenden Bruttobeträge zuzüglich 19 % Umsatzsteuer in die Nebenkostenabrechnung der Klägerin eingestellt. Diese hat die abgerechneten Kosten zunächst bezahlt, verlangt nun aber die in der Abrechnung der Gemeinschaft enthaltenen Umsatzsteuerbeträge in Höhe von rund 730 Euro zurück.

Das AG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Das LG hat die Klage abgewiesen.

Die Revision der Klägerin bleibt ohne Erfolg.

Aufgrund der vertraglichen Vereinbarung und des von der Beklagten gemäß § 9 Abs. 1 und 2 UStG erklärten Verzichts ist die Klägerin verpflichtet, auf die geschuldete Miete Umsatzsteuer zu zahlen. Dies gilt auch für die Nebenkosten. Diese sind steuerrechtlich keine durchlaufenden Posten, sondern Teil des geschuldeten Entgelts.

Soweit in den umlagefähigen Kosten Umsatzsteuerbeträge enthalten sind, die die Beklagte als Vorsteuer von ihrer Steuerschuld abziehen kann, darf sie der Klägerin allerdings nur die Nettobeträge zuzüglich Umsatzsteuer in Rechnung stellen.

Ein Vorsteuerabzug setzt jedoch voraus, dass die Beklagte eine von einem Unternehmer ausgestellte Rechnung besitzt, in der die Umsatzsteuer ausgewiesen ist. Die Abrechnung der Eigentümergemeinschaft genügt dieser Anforderung nicht, weil die Gemeinschaft von der Umsatzsteuer befreit ist und deshalb keine Umsatzsteuer ausweisen darf.

Deshalb hat die Klägerin die von der Gemeinschaft in Rechnung gestellten Bruttobeträge zuzüglich Umsatzsteuer zu erstatten.

Praxistipp: Eine im Mietvertrag enthaltene Vereinbarung, dass die Miete zuzüglich der geltenden Umsatzsteuer zu zahlen ist, verpflichtet den Vermieter nicht, auf die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG zu verzichten oder darauf hinzuwirken, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer auf die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 13 UStG verzichtet.

Trauer um ZÖLLER-Autor Max Vollkommer

Am 23. Februar ist Prof. Dr. Max Vollkommer im Alter von 93 Jahren verstorben. Er war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Zivilrecht, Zivilprozessrecht und Arbeitsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich aber schon zuvor, beginnend mit seiner Tätigkeit als Richter am Landgericht München I und weit über die Emeritierung hinaus vor allem der wissenschaftlichen Durchdringung und praktischen Förderung der Zivilrechtspflege gewidmet. Besonders intensiv beschäftigte er sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und den formalen Abläufen des Zivilverfahrens. Sein Anliegen, Rechtsverluste im Zivilprozess nach Möglichkeit zu verhindern, fand den nachhaltigsten Ausdruck in seiner Habilitationsschrift „Formenstrenge und prozessuale Billigkeit“ von 1973, aber auch in rund 100 Aufsätzen und weit über 200 Urteilsanmerkungen brachte Vollkommer seine Gedanken zu einem gerechten Zivil- und Zivilprozessrecht zur Geltung. Von 1974 bis 2016 bearbeitete er in 20 Auflagen maßgebliche Teile des ZPO-Kommentars ZÖLLER und trug dadurch zu der wissenschaftlich fundierten Praxisorientierung dieses Erläuterungswerks bei. Zum materiellen Recht leistete er namhafte Beiträge mit der Kommentierung des Allgemeinen Schuldrechts im BGB-Kommentar von Jauernig und einem Lehrbuch zum Anwaltshaftungsrecht.

Der Verlag Otto Schmidt, das Autoren-Team des ZÖLLER und das Lektorat sind sehr traurig und werden Max Vollkommer ein ehrendes Andenken bewahren.

Näheres zur Persönlichkeit Max Vollkommers und seinen Werken demnächst in der MDR.

Anwaltsblog 9/2025: Folgen der verzögerten Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses (eEB)

Wie ein ungewöhnlich langer Zeitraum (sechs Wochen) zwischen dem Zeitpunkt der elektronischen Übersendung eines gerichtlichen Dokuments und dem eEB des Rechtsanwalts angegebenen Zustelldatum zu bewerten ist, hatte das OLG Celle zu entscheiden (OLG Celle, Beschluss vom 31. Januar 2025 – 20 U 8/24):

In einem Berufungsverfahren hat der Senat den Kläger gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mit Beschluss vom 28. Oktober 2024 auf die Aussichtslosigkeit seiner Berufung hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Wochen ab Zustellung gegeben. Die elektronische Eingangsbestätigung aus dem System des Klägervertreters weist als Datum des Eingangs auf seinem Server den 5. November 2024 um 13:08:24 Uhr aus. Am 16. Dezember 2024 (13:31:08 Uhr) hat der Klägervertreter das elektronische Empfangsbekenntnis zurückgesandt und als Zustelldatum den 16. Dezember 2024 angegeben. Mit Beschluss vom selben Tag hat der Senat den Klägervertreter aufgegeben mitzuteilen, ob es sich bei der Datumsangabe um ein Versehen handele und – verneinendenfalls – die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals zu der elektronischen Übersendung des Senatsbeschlusses vom 28. Oktober 2024 bis zum 23. Dezember 2024 angeordnet. Daraufhin hat der Kläger beantragt, ihm eine Frist zur Erwiderung bis zum 23. Januar 2025 einzuräumen. Diesen Antrag hat der Senat zurückgewiesen, aber darauf hingewiesen, nicht vor dem 14. Januar 2025 über die Berufung des Klägers zu entscheiden. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2025 hat der Kläger Stellung genommen.

Das OLG stellt fest, dass der Schriftsatz vom 13. Januar 2025 erst nach Ablauf der insoweit nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO gesetzten Frist eingegangen. Der Hinweisbeschluss vom 28. Oktober 2024 ist dem Klägervertreter schon deutlich vor dem 16. Dezember 2024 gemäß § 173 Abs. 3 ZPO zugestellt worden. Davon ist der Senat überzeugt, nachdem der Kläger seiner sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist und sich – trotz entsprechender Hinweise des Senats – nicht substantiiert zu den Umständen erklärt hat, die die Richtigkeit des vorliegenden Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Zudem hat er – trotz gerichtlicher Anordnung – auch nicht das beA-Nachrichtenjournal des Klägervertreters vorgelegt. Die Zustellung eines elektronischen Dokuments an einen Rechtsanwalt nach § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO wird gem. § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch ein eEB nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Für die Rücksendung des eEB in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des eEB setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen. Darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein eEB nicht ausgelöst wird. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt insoweit gemäß § 175 Abs. 3 ZPO (= § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F.) gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. Der Gegenbeweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem anderen Zeitpunkt erreicht hat, ist damit zwar nicht ausgeschlossen; nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im eEB. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, also jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden. An die Führung des die Beweiswirkungen eines anwaltlichen Empfangsbekenntnisses beseitigenden Gegenbeweises sind strenge Anforderungen zu stellen. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz bzw. ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis für sich genommen noch nicht. An den Beweis der Unrichtigkeit des eEB dürfen aber auch keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Es gelten die Grundsätze der sekundären Darlegungslast, wenn konkrete Umstände – wie beispielsweise ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im eEB angegebenen Zustelldatum – die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Das ist bei der Annahme- bzw. Empfangsbereitschaft als Voraussetzung für die Zustellung gegen EB nach §§ 173, 175 ZPO der Fall. Zu der subjektiven Willensentscheidung, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen, können nur die betreffende Partei und ihr Prozessbevollmächtigter vortragen. Für das Empfangsbekenntnis hat das zur Folge, dass sich der Prozessgegner zu Umständen, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, substantiiert erklären muss. Er kann sich daher nicht damit begnügen, pauschal die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zu behaupten, sondern muss seinerseits erklären, wann sein Rechtsanwalt die Nachricht zum ersten Mal gelesen hat und wie es zu der Verzögerung kam.

Außerdem kann nach §§ 142, 144 ZPO die gerichtliche Anordnung getroffen werden, das beA-Nachrichtenjournal des Rechtsanwalts vorzulegen, wenn begründete Zweifel an der Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses bestehen, wenn auch die Beweislast damit nicht übergeht. Denn in der beA-Infrastruktur wird für jede Nachricht, die gesendet oder empfangen wird, ein Eintrag als sog. Nachrichtenjournal erzeugt. .Die beA-Nachrichten inklusive des zugehörigen Journals werden nach 120 Tagen automatisch gelöscht. Ob Rechtsanwälte darüber hinaus gemäß § 50 BRAO die beA-Nachrichten und damit auch das Nachrichtenjournal vor der Löschung zu exportieren und zu archivieren haben, kann dahinstehen, weil der Zeitraum der automatischen Löschung von 120 Tagen im Zeitpunkt der Anordnung durch den Senat noch nicht verstrichen war. Dabei ist zwar stets zu berücksichtigen, dass auch das beA-Nachrichtenjournal lediglich objektive Umstände nachzuweisen vermag, aber keinen unmittelbaren bzw. zwingenden Rückschluss im Hinblick auf die (subjektive) Willensentscheidung des Empfängers zulässt, das elektronische Dokument als zugestellt entgegenzunehmen. Allerdings muss sich die betroffene Partei gleichwohl substantiiert zu den Umständen erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses – etwa wegen der zeitlichen Diskrepanz – zweifelhaft erscheinen lassen, und es kann ggf. auf einen (konkludenten) Annahmewillen geschlossen werden. Diesen Maßstab zugrunde gelegt ist der Senat davon überzeugt, dass die Zustellung des Hinweisbeschlusses nach § 173 Abs. 3 ZPO tatsächlich schon so früh – mithin (deutlich) vor dem 29. November 2024 – erfolgt ist, dass die Stellungnahmefrist im Zeitpunkt des Schriftsatzes vom 23. Dezember 2024 und erst recht bei Eingang des Schriftsatzes vom 13. Januar 2025 bereits abgelaufen war. Der Kläger ist weder seiner sekundären Darlegungslast nachgekommen noch hat er das beA-Nachrichtenjournal seines Prozessbevollmächtigten vorgelegt. Vielmehr hat er den Hinweisbeschluss des Senats vom 16. Dezember 2024 ignoriert und die benannten Ungereimtheiten in Bezug auf die zeitlichen Abläufe nicht erklärt. Der Gegenbeweis zu dem in dem elektronischen Empfangsbekenntnis von dem Klägervertreter angegebenen Datum ist damit – trotz der an ihn zu stellenden strengen Anforderungen – geführt; es ist ausgeschlossen, dass die Zustellung (erst) am 16. Dezember 2024 erfolgt ist.

 

Fazit: Ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem dokumentierten Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis des Rechtsanwalts angegebenen Zustelldatum erbringt den Beweis der Unrichtigkeit der Datumsangabe für sich genommen noch nicht. In einem solchen Fall kann die Partei nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtet sein, sich substantiiert zu den Umständen zu erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, und zu dem tatsächlichen Zeitpunkt der subjektiv empfangsbereiten Kenntnisnahme vorzutragen. Außerdem kann das Gericht nach §§ 142, 144 ZPO die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals des Rechtsanwalts der Partei anordnen. Erklärt sich die Partei nicht und legt auch das beA-Nachrichtenjournal ihres Rechtsanwalts nicht vor, kann der Beweis der Unrichtigkeit des in dem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums geführt sein.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Aufklärungspflichten eines Vermittlers von Darlehen zur Finanzierung einer Wohnimmobilie.

Verharmlosung von Risiken
BGH, Urteil vom 20. Februar 2025 – I ZR 122/23

Der I. Zivilsenat stellt klar, dass das Ausfüllen eines Beratungsprotokolls nicht ohne weiteres ausreicht.

Die Kläger beabsichtigten im Jahr 2020 den Kauf eines Einfamilienhauses. Ein mit dem Verkäufer vereinbarter Notartermin im November 2020 konnte nicht stattfinden, weil die Kläger keine Finanzierungsmöglichkeit fanden. Die Kläger wandten sich daraufhin an die als Darlehensvermittlerin tätige Beklagte. Diese vermittelte ihnen einen Darlehensvertrag in Höhe von 350.000 Euro, den sie im Dezember 2020 abschlossen. Im Januar 2021 – zwei Wochen vor dem vereinbarten neuen Notartermin – teilte der Verkäufer mit, er wolle das Haus aus persönlichen Gründen doch nicht veräußern. Die Bank verlangte von den Klägern eine Nichtabnahmeentschädigung in Höhe von rund 35.000 Euro.

Die Klage auf Erstattung dieses Betrags hatte in erster Instanz zur Hälfte Erfolg. Das OLG wies die Klage hingegen vollständig ab.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Ein Darlehensvermittler, der im Zusammenhang mit der Vermittlung eines Immobiliar-Verbraucherdarlehensvertrags im Sinne von § 491 Abs. 3 BGB Beratungsleistungen im Sinne von § 511 Abs. 1 BGB anbietet, unterliegt gemäß § 655a Abs. 3 BGB den in § 511 BGB normierten Pflichten. Dazu gehört gemäß § 511 Abs. 2 BGB die Pflicht, sich über den Bedarf, die persönliche und finanzielle Situation sowie über die Präferenzen und Ziele des Darlehensnehmers zu informieren und auf dieser Grundlage und unter Zugrundelegung realistischer Annahmen hinsichtlich der zu erwartenden Risiken eine ausreichende Zahl an Darlehensverträgen auf ihre Geeignetheit zu prüfen.

Im Streitfall musste die Beklagte die Kläger danach unter anderem auf die finanziellen Belastungen hinweisen, die zu erwarten sind, wenn der beabsichtigte Kauf nach dem bindenden Abschluss des Darlehensvertrags nicht zustande kommt.

Entgegen der Auffassung des OLG genügt zur Erfüllung dieser Pflicht nicht der im Beratungsprotokoll der Beklagten vermerkte Hinweis auf drohende Kosten aufgrund von Vertragsstrafen oder Nichtabnahmeentschädigungen. Im Rahmen der geschuldeten umfassenden Aufklärung darf ein reales Risiko nicht so verharmlost werden, dass der Eindruck entsteht, es sei nur theoretischer Natur.

Das OLG hätte deshalb den Sachverhalt weiter aufklären müssen.

Der Kläger hat bei seiner Anhörung durch das OLG angegeben, der zuständige Mitarbeiter der Beklagten habe in dem Beratungsgespräch erklärt, so weit, wie das jetzt schon alles sei, habe er noch nie erlebt, dass ein Geschäft jetzt platze; sollte es dazu kommen, werde man gemeinsam eine Lösung finden. Wenn diese Angaben zutreffen, hat die Beklagte ihre Aufklärungspflicht verletzt. Für eine Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens bleibt dann grundsätzlich kein Raum.

Praxistipp: Wenn geltend gemacht wird, der Inhalt eines Beratungsprotokolls sei nicht zutreffend oder nicht vollständig, sollte der tatsächliche Inhalt des Gesprächs möglichst detailgetreu vorgetragen werden. Sofern keine Zeugen zur Verfügung stehen, sollte ausdrücklich eine Vernehmung oder persönliche Anhörung der eigenen Partei angeboten werden.