Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die erforderliche Form eines Heil- und Kostenplans.

Form eines Heil- und Kostenplans für Zahnersatz bei Kassenpatienten
BGH, Urteil vom 2. Mai 2024 – III ZR 197/23

Der III. Zivilsenat befasst sich mit zahlreichen Vorschriften aus dem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der bei einer Krankenkasse gesetzlich versicherte Beklagte ließ sich von der Streithelferin in Ober- und Unterkiefer je eine Totalprothese auf Basis eines Implantatsystems einsetzen. Der von der Streithelferin vor der Behandlung erstellte und dem Beklagten ausgehändigte Heil- und Kostenplan sah einen Festzuschuss der Krankenkasse von rund 1.000 Euro und einen vom Beklagten zu tragenden Eigenanteil von rund 12.700 Euro vor. Nach Abschluss der Behandlung stellte die Streithelferin dem Beklagten rund 14.800 Euro in Rechnung. Der Beklagte leistete keine Zahlungen. Die von dem klagenden Abrechnungsunternehmen aus abgetretenem Recht erhobene Klage auf Zahlung des Rechnungsbetrags hatte in den Vorinstanzen nur in Höhe von rund 4.300 Euro Erfolg.

Der BGH verweist die Sache auf die Revision der Klägerin an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG bedurfte der Heil- und Kostenplan nicht der Schriftform.

Nach § 630c Abs. 3 BGB muss ein Arzt einen Patienten vor der Behandlung über die voraussichtlichen Kosten informieren, wenn er weiß, dass die vollständige Übernahme der Kosten durch einen Dritten nicht gesichert ist. Ein solcher Heil- und Kostenplan bedarf der Textform, sofern sich aus anderen Vorschriften nicht weitergehenden Formanforderungen ergeben.

Im Streitfall ist die Textform (§ 126b BGB) eingehalten. Vorschriften, die für einen Heil- und Kostenplan die Schriftform (§ 126 BGB) vorsehen, greifen im Streitfall nicht.

Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) muss ein Zahnarzt für Wunschleistungen, die über das Maß einer zahnmedizinisch notwendigen Behandlung hinausgehen, einen Heil- und Kostenplan schriftlich (d.h. in der Form des § 126 BGB) vereinbaren. Wenn die Versorgung mit Zahnersatz zahnmedizinisch geboten ist, geht eine Behandlung aber nicht schon deshalb über das Maß des zahnmedizinisch Notwendigen hinaus, weil sie nicht die wirtschaftlich günstigste ist. Zahnmedizinisch notwendig ist vielmehr grundsätzlich jede Behandlungsmethode, die der Erreichung des gebotenen Behandlungszwecks dient. Diese Begriffsdefinition liegt auch den Vorschriften über befundbezogene Festzuschüsse in § 55 SGB V zugrunde.

§ 28 Abs. 2 Satz 4 SGB V schreibt eine schriftliche Vereinbarung für den Fall vor, dass der Versicherte bei Zahnfüllungen eine überobligatorische Versorgung (z.B. Inlays aus Gold oder Keramik statt Plastikfüllung) wählt. Diese Vorschrift ist für Zahnersatzleistungen indes nicht einschlägig.

Die Regelungen über das Verfahren zur Bewilligung von Festzuschüssen für Zahnersatz in § 87 Abs. 1a SGB V sehen die Erstellung eines Heil- und Kostenplans durch den Zahnarzt und dessen Prüfung durch die Krankenkasse vor, nicht aber ein Schriftformerfordernis.

Entgegen der Auffassung des OLG ergibt sich ein Schriftformerfordernis im Streitfall auch nicht aus § 8 Abs. 7 Satz 2 und 3 des Bundesmantelvertrags-Zahnärzte (BMV-Z). Diese Vorschrift verweist für Zahnfüllungen auf § 28 Abs. 2 SBG V und für Zahnersatz auf § 55 SGB V und damit auch auf § 87 Abs. 1a SGB V. Ein Schriftformerfordernis stellt § 8 Abs. 7 Satz 3 BMV-Z nur für den Fall auf, dass der Patient seine Anspruchsberechtigung in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nachweist und deshalb eine rein privatärztliche Behandlung stattfindet.

Nach der Zurückverweisung wird das OLG zu prüfen haben, ob der erstellte Heil- und Kostenplan inhaltlich ordnungsgemäß und die gestellte Rechnung in vollem Umfang berechtigt ist.

Praxistipp: Entspricht ein Heil- und Kostenplan mit einem gesetzlich Versicherten nicht den maßgeblichen Formvorschriften, kann der Arzt die von der Kasse nicht übernommenen Mehrkosten auch nicht auf der Grundlage von Geschäftsführung ohne Auftrag oder ungerechtfertigter Bereicherung geltend machen. Dem Patienten kann es aber nach Treu und Glauben verwehrt sein, sich auf den Formmangel zu berufen (BGH, U. v. 3.11.2016 – III ZR 286/15 – MDR 2017, 18).

Anwaltsblog 25/2024: Müssen Anwaltsschriftsätze das Aktenzeichen des Gerichts enthalten?

Erneut hatte sich der BGH mit der Frage befassen, ob fristgemäß einzureichende Anwaltsschriftsätze das (korrekte) Aktenzeichen des Gerichts aufweisen müssen (BGH, Beschluss vom 29.05.2024 – IV ZB 14/22):

Der Kläger hat gegen ein Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren wurde beim Oberlandesgericht unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführt. Auf Antrag des Klägers, der das Aktenzeichen 20 U 231/21 sowie das Rubrum des unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführten Berufungsverfahrens trug, ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum 25. Februar 2022 verlängert worden. Am 21. Februar 2022 ist über das besondere elektronische Anwaltspostfach eine Berufungsbegründung eingereicht worden, die wiederum das Aktenzeichen 20 U 231/21 sowie das Rubrum des unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführten Berufungsverfahrens trug und in die elektronische Akte des Verfahrens 20 U 231/21 eingeordnet wurde. Nach einem Hinweis des OLG, dass mangels Eingangs einer Berufungsbegründung die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig beabsichtigt sei, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 14. März 2022, der erneut unter dem Aktenzeichen 20 U 231/21 eingereicht und in die Akte dieses Verfahrens eingeordnet wurde, auf die Übermittlung der Berufungsbegründung am 21. Februar 2022 hingewiesen. Das Berufungsgericht hat sodann die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Das Berufungsgericht hätte das Rechtsmittel nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen dürfen. Der am 21. Februar 2022 eingegangene Schriftsatz hat die Frist gewahrt. Die Angabe des falschen Aktenzeichens steht für sich genommen dem fristgerechten Eingang der Berufungsbegründung nicht entgegen. Das Gesetz schreibt in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO – die gemäß § 520 Abs. 5 ZPO auch auf die Berufungsbegründung anzuwenden sind – die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Für den Eingang der Berufungsbegründung ist es dabei unerheblich, ob der Schriftsatz anhand des Aktenzeichens bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist in die für diese Sache angelegte Akte eingeordnet wurde. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt.

Der Berufungsbegründung muss allerdings zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren sie eingereicht werden soll. Unrichtige Angaben schaden nur dann nicht, wenn auf Grund sonstiger, innerhalb der Berufungsbegründungsfrist erkennbarer Umstände für Gericht und Prozessgegner zweifelsfrei feststeht, welchem Rechtsmittelverfahren die Begründung zuzuordnen ist. Wurde durch die Angabe eines falschen Aktenzeichens eine Unsicherheit darüber herbeigeführt, in welcher Sache die Rechtsmittelbegründung eingereicht wurde, ist diese nach dem Inhalt der schriftsätzlichen Ausführungen des Rechtsanwalts dem richtigen Verfahren zuzuordnen. An diesen – auch für die elektronische Übermittlung geltenden – Grundsätzen gemessen war die Berufungsbegründung vom 21. Februar 2022 – auch wenn sie das falsche Aktenzeichen trägt – ohne Zweifel dem richtigen Berufungsverfahren zuzuordnen. Denn der Schriftsatz enthält das richtige Rubrum des Berufungsverfahrens sowie im Eingangssatz und im Antrag eine ausdrückliche Bezugnahme auf die mit der Berufung angefochtene – nach Gericht, Entscheidungsdatum und erstinstanzlichem Aktenzeichen zutreffend bezeichnete – Entscheidung.

Fazit: Dem fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes bei Gericht steht es nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz irrtümlich mit einem unzutreffenden Aktenzeichen versehen ist. Allein entscheidend ist, dass er vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt ist (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 – MDR 2024, 592).

Anmerkung: Die Verwerfung seiner Berufung als unzulässig hat den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verletzt. Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht (Rechtsbeschwerde). Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat. Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Der Gesetzgeber sollte de lege ferenda dieses missliche Rechtsdefizit beenden, um eine schnelle und kostengünstige Reparatur der sog. Pannenfälle (G. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 8 mwN.) zu ermöglichen.

AG Frankfurt am Main: Zulässigkeit einer Wertfestsetzung

Einige interessante Grundsätze zur Wertfestsetzung hat das AG Frankfurt am Main (Beschl. v. 16.4.2024 – 453 F 2070/22 UE) in Erinnerung gerufen:

Im Rahmen eines Stufenklageverfahrens hatte eine Partei beantragt, den Streitwert festzusetzen. Der Prozess war noch nicht beendet, da noch keine Entscheidung oder Einigung über den Zahlungsantrag vorlag. Es wurde vom AG der Streitwert festgesetzt. Gegen diesen Beschluss legte die andere Partei Beschwerde ein.

Die Beschwerde ist zulässig. Gemäß § 63 Abs. 1 GKG ist eine Beschwerde gegen eine vorläufige Wertfestsetzung zwar nicht zulässig. Da der Beschluss jedoch nicht als vorläufig ausgewiesen war, ist im Zweifel von einer normalen Wertfestsetzung auszugehen, die gemäß §§ 63 Abs. 2, 68 Abs. 1 GKG beschwerdefähig ist.

Die Beschwerde ist begründet. Eine Wertfestsetzung hätte noch gar nicht erfolgen dürfen. Gemäß § 63 Abs. 2 GKG erfolgt eine solche erst, wenn das Verfahren beendet ist. Dies ist hier nicht der Fall, da die Entscheidung über den Zahlungsantrag noch offen ist. Demgemäß ist der Beschwerde abzuhelfen (§ 63 Abs. 3 S. 1 GKG) und der Beschluss aufzuheben.

Benötigt einer der Rechtsanwälte eine Wertfestsetzung, um z. B. eine Vorschusskostenrechnung zu schreiben, hat er nicht die Möglichkeit, gemäß § 33 RVG einen Antrag auf Wertfestsetzung zu stellen. Ein solcher Antrag ist erst zulässig, wenn die Vergütung fällig ist, mithin  die Angelegenheit beendet ist (§ 8 RVG). Ein Recht auf Vorschusszahlung gegen den Auftraggeber (§ 9 RVG) ist hierfür gerade nicht ausreichend (BFH v. 30.10.2023 – IV S 26/23, BFH/NV 2024, 37). Der Rechtsanwalt darf der Vorschussrechnung vielmehr den von ihm für angemessen gehaltenen Gegenstandswert zu Grunde legen.

Montagspost: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit von Videoaufnahmen in einem Mietshaus.

Erstellung und Verwertung von Videoaufnahmen zu Beweiszwecken
BGH, Urteil vom 12. März 2024 – VI ZR 1370/20

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit Fragen der Datenschutz-Grundverordnung und der Zivilprozessordnung.

Die Klägerin, ein landeseigenes Wohnungsunternehmen, hat an die Beklagten seit dem Jahr 2007 zwei Wohnungen zur eigenen Nutzung vermietet. In den Jahren 2016 und 2017 erhielt die Klägerin von Dritten Mitteilungen, die auf eine unberechtigte Untervermietung hindeuteten. Die Klägerin mahnte die Beklagte deswegen mehrfach ab. Ende 2017 beauftragte sie eine Detektei. Diese überwachte rund einen Monat lang vom Treppenhaus aus den Eingangsbereich der Wohnungen mit versteckten Videokameras. Im Januar 2018 erklärte die Klägerin unter Berufung auf die von der Detektei gewonnenen Erkenntnisse die außerordentliche Kündigung der beiden Mietverhältnisse.

Das AG hat die Beklagten antragsgemäß zur Räumung verurteilt und deren Widerklage auf Zahlung einer Geldentschädigung abgewiesen. Das LG hat die Räumungsklage abgewiesen, einen Anspruch der Beklagten auf Geldentschädigung hingegen wie schon das AG verneint.

Die Revisionen beider Parteien bleiben erfolglos.

Das LG hat die Kündigung zu Recht als unwirksam angesehen. Die als Beweis für die behauptete Untervermietung angeführten Erkenntnisse aus der Videoüberwachung sind rechtswidrig erstellt worden und dürfen nicht verwertet werden.

Der BGH legt zunächst dar, dass die Videoaufnahmen nach der für den Streitfall noch maßgeblichen Regelung in § 4 Abs. 1 BDSG aF rechtswidrig waren. Die überwachten Treppenhausbereiche sind keine öffentlichen Räume iSv § 6b BDSG aF. Die Erlaubnistatbestände in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG aF sind jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil das Interesse der Beklagten und der anderen im Haus wohnenden Mieter an einer Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und am Schutz ihrer personenbezogenen Daten (Art. 7 GRCh) das Interesse der Detektei an der Erfüllung ihres Auftrags und das Interesse der Beklagten an der Aufdeckung mutmaßlicher Vertragsverstöße überwiegt. Maßgeblich dafür ist insbesondere, dass der Klägerin und der Detektei mildere Mittel zur Verfügung standen, etwa eine Scheinanmietung oder die Befragung von Nachbarn und anderen Dritten.

Der BGH legt sodann dar, dass die Frage, ob die Videoaufnahmen als Beweismittel im Zivilprozess verwertet werden dürfen, gemäß § 286 ZPO zu beurteilen ist. Im Ausgangspunkt sind zwar die Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung maßgeblich. Art. 6 Abs. 3 Satz 1 DSGVO enthält aber eine Öffnungsklausel, die den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Anwendung der Vorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die öffentliche Hand genauer festzulegen und zu konkretisieren. Zu diesen konkretisierenden Regelungen gehören § 286 und §§ 355 ff. ZPO.

Nach § 286 Abs. 1 ZPO ist die Verwertung der rechtswidrig erstellten Videoaufnahmen im Streitfall jedenfalls deshalb unzulässig, weil die Beklagten eine unbefugte Untervermietung bestreiten und eine Auswertung der Aufnahmen zum Zwecke der Würdigung, ob die darin dokumentierten – als solche unstreitigen – Vorgänge als Indiztatsachen den Schluss auf eine unbefugte Untervermietung zulassen, die Verletzung der grundrechtlich (Art. 13 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) geschützten Interessen der Beklagten vertiefen und perpetuieren würde. Maßgeblich ist dafür insbesondere, dass die Klägerin keiner Beweisnot ausgesetzt ist, weil ihr mildere Mittel zur Verfügung stehen, um den Sachverhalt aufzuklären.

Ebenfalls zu Recht hat das LG einen Anspruch der Beklagten auf Geldentschädigung verneint. Es liegt zwar eine schwerwiegende Beeinträchtigung der räumlichen Privatsphäre und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vor. Der Eingriff trifft die Beklagten aber nicht im Kern ihrer Persönlichkeit. Zudem ist der Klägerin nur Fahrlässigkeit vorzuwerfen.

Praxistipp: Heimliche Videoaufnahmen sollten nur dann als Beweismittel angeboten werden, wenn andere zumutbare Wege der Beweisführung nicht zur Verfügung stehen.

Anwaltsblog 24/2024: Versäumung einer Rechtsmittelfrist bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung

War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft ist (§ 233 Satz 2 ZPO). Mit dem beschränkten Anwendungsbereich dieser Vermutung im Anwaltsprozess hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 28. März 2024 – AnwZ (Brfg) 3/24):

 

Der Kläger, der im Jahr 1999 auf seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet hatte, beantragte 2022 seine Wiederzulassung. Die Anwaltskammer lehnte den Antrag ab. Die daraufhin mit dem Ziel der Wiederzulassung erhobene Klage hat der Bayerische Anwaltsgerichtshof mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 11. Dezember 2023 zugestellten Urteil abgewiesen. Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils lautet auszugsweise: „Die Beteiligten können die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils […] beantragen […]. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.“ Mit am 8. Januar 2024 per Boten beim Bayerischen Anwaltsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger die Zulassung der Berufung gegen das Urteil beantragt.

Der BGH als Berufungsgericht verwirft den Antrag als unzulässig, weil der Kläger ihn nicht fristgemäß formgerecht gestellt hat. Nach § 112e Satz 2 BRAO iVm. § 125 Abs. 1 Satz 1, § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen – wie der Antrag auf Zulassung der Berufung -, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Dem genügte die Einreichung per Boten am 8. Januar 2024 nicht. Die Frist zur Beantragung der Zulassung der Berufung ist durch die Zustellung des vollständigen Urteils in Gang gesetzt worden. Dem Fristanlauf stand insbesondere nicht die vom Kläger gerügte Passage der Rechtsmittelbelehrung entgegen, wonach dem Zulassungsantrag vier Abschriften beigefügt werden sollen. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist u.a. dann unrichtig, wenn sie einen nicht erforderlichen Zusatz enthält, der fehlerhaft oder irreführend ist und dadurch generell geeignet ist, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen und materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Der vom Kläger gerügte Zusatz zum notwendigen Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung ist im Grundsatz dem § 81 Abs. 2 VwGO entnommen, nach dem der Klage und allen Schriftsätzen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden sollen. Der Zusatz ist zwar insofern unrichtig, als die Vorschrift im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument nach § 55a Abs. 5 Satz 3 VwGO keine Anwendung findet. Diese Unrichtigkeit ist aber ihrer Art nach nicht geeignet, die Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung zu erschweren. Der beanstandete Zusatz gibt die Beifügung von Abschriften nicht als Zwang aus, dessen Nichtbeachtung auf die formelle Wirksamkeit des Zulassungsantrags von Einfluss ist, sondern lediglich als dringende Bitte. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, wie der Zusatz irrige Vorstellungen über die formellen Voraussetzungen eines Antrags auf Zulassung der Berufung hervorrufen und dadurch die Rechtsmitteleinlegung erschweren könnte.

Dem Kläger war auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er nicht ohne Verschulden an der formwirksamen Einlegung des Zulassungsantrags gehindert war. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn der Beteiligte nicht die Sorgfalt hat walten lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. Dabei steht das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden des Beteiligten gleich. Nach diesen Maßstäben hat der Kläger die Fristversäumung verschuldet. Der Prozessvertreter des Klägers hätte wissen können und müssen, dass der Antrag auf Zulassung der Berufung als elektronisches Dokument einzureichen ist. Die vom Kläger erfolglos gerügte Passage der Rechtsmittelbelehrung begründete bereits keinen Anlass, von der formgerechten Einreichung des Antrags auf Zulassung der Berufung als elektronisches Dokument abzusehen.

Soweit sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers außerdem darauf beruft, die Geschäftsstelle des Anwaltsgerichtshofs habe auf seine telefonische Rückfrage hin mitgeteilt, der Antrag könne dort abgegeben werden und seiner Bitte, den Empfang zu quittieren, könne ebenfalls nachgekommen werden, wären diese Umstände schon deshalb nicht geeignet, eine unrichtige Vorstellung über die an die Form der Rechtsmitteleinlegung zu stellenden Anforderungen hervorzurufen, weil mit dem behaupteten bloßen Einverständnis mit der vom Prozessvertreter gewünschten Form der Schriftsatzeinreichung keine Aussage über etwaige Formerfordernisse getroffen wurde. Selbst wenn man das Einverständnis der Geschäftsstelle des Anwaltsgerichtshofs mit der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers gewünschten Vorgehensweise bei der Schriftsatzeinreichung als Auskunft verstehen wollte, dass diese Form der Einreichung keinen Bedenken begegne, wäre diese Auskunft erkennbar fehlerhaft. Denn sie stünde in offenkundigem Widerspruch zur Gesetzeslage. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hätte sich deshalb nicht darauf verlassen dürfen.

 

Fazit: Nach § 233 Satz 2 ZPO wird ein Fehlen des Verschuldens zwar vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist. Dabei darf auch ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf die Richtigkeit einer durch das Gericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen. Gleichwohl muss von ihm erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart kennt. Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kann er deshalb nicht uneingeschränkt, sondern nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber zu einem nachvollziehbaren und daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwalts geführt hat. Die Fristversäumung ist mithin auch in den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (BGH, Beschluss vom 25. November 2020 – XII ZB 256/20 –, MDR 2021, 252).

Blog-Update Haftungsrecht: Ersatz von Desinfektionskosten unterliegt einer Plausibilitätskontrolle (BGH)

In seinem Urteil vom 23.4.2024 (Az. VI ZR 348/21) hatte sich der BGH erneut mit Desinfektionskosten in der Corona-Pandemie zu befassen.

Kurzzusammenfassung des Sachverhalts

Der PKW des Geschädigten (Kläger) wurde bei einem Verkehrsunfall mit einem bei der beklagten Haftpflichtversicherung versicherten Kfz beschädigt. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach stand außer Streit. Die Werkstatt stellte dem Kläger für Corona-Schutzmaßnahmen insgesamt 157,99 € (inklusive 16 % Mehrwertsteuer) in Rechnung, die er an die Werkstatt zahlte. Die Beklagte hielt die Kosten nicht für ersatzfähig. Das AG Hamburg-Harburg hat der Klage in voller Höhe nebst Zinsen stattgegeben Das LG Hamburg kürzte im Berufungsverfahren den Betrag auf 33,18 € nebst Zinsen.

Bisherige Aussagen zur Ersatzfähigkeit von Desinfektionskosten

Auf Basis der bisherigen Rechtsprechung des BGH (BGH v. 12.12.2022 – VI ZR 324/21, sh. dazu Zwickel, MDR 2023, R92) wurde vielfach davon ausgegangen, Corona-Desinfektionskosten seien generell in der von der Werkstatt bzw. dem Sachverständigen berechneten Höhe ersatzfähig. Begründet wurde das vom BGH mit dem sog. Werkstattrisiko. Demnach sind objektiv nicht erforderliche Kosten zu ersetzen, wenn sich der Geschädigte auf die Grundsätze der Risikotragung berufen kann (sh. dazu ausführlich Zwickel, https://blog.otto-schmidt.de/mdr/2024/01/23/bgh-zum-werkstattrisiko-wer-zahlt-fuer-ueberhoehte-reparaturrechnungen/ und https://blog.otto-schmidt.de/mdr/2024/06/04/blog-update-haftungsrecht-werkstattrisiko-sachverstaendigenrisiko-bgh/, Stand: 19.6.2024). Die subjektbezogene Schadensbetrachtung gebietet es, den Schädiger das Risiko für überhöhte oder fehlerhafte Rechnungen tragen zu lassen. Der Schädiger hat auch für überhöhte Preise und für gar nicht erbrachte Leistungen Schadenersatz i. S. d. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB zu zahlen. Im Gegenzug hat er einen Anspruch auf Abtretung der Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt bzw. den Sachverständigen Zug um Zug gegen seine Schadenersatzleistung.

Besondere Bedeutung der Plausibilitätskontrolle

Die vorliegende BGH-Entscheidung macht nun deutlich, dass Kosten auch bei Anwendung dieser Grundsätze der Risikotragung nicht in unbeschränkter Höhe ersatzfähig sind. Die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos greifen nämlich dann nicht, wenn dem Geschädigten ein Auswahl- oder Überwachungsverschulden vorzuwerfen ist. Ein Auswahlverschulden liegt vor, wenn die Auswahl der Werkstatt bzw. des Sachverständigen unsorgfältig erfolgt, z. B. wenn zu vereinbarende Preise dem Geschädigten in keiner Weise erkennbar sind und er sich damit zufrieden gibt. Nach Vertragsschluss bleibt der Geschädigte zur Überwachung der Werkstatt bzw. des Sachverständigen verpflichtet. Es wird erwartet, dass er moniert, wenn die Werkstatt deutlich von den vereinbarten Preisen abweicht oder erkennbar überhohe Preise aufruft. Insbesondere ist der Geschädigte zu einer sog. Plausibilitätskontrolle der bei Vertragsschluss vereinbarten oder später berechneten Preise verpflichtet. Hätte der Geschädigte die Überhöhung bzw. Nichterbringung von Leistungen erkennen können, kann er sich nicht auf die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos berufen. Einen solchen Fall des Auswahlverschuldens bejaht der BGH vorliegend. Er führt aus:

„Es [Das Berufungsgericht…] ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass sich der Klägerin im Rahmen der ihr obliegenden Plausibilitätskontrolle geradezu aufdrängen musste, dass diese Kosten für Desinfektionsmaßnahmen deutlich überhöht waren. Das Berufungsgericht hat das jedermann zur Verfügung stehende alltägliche Erfahrungswissen während der Pandemie als Grundlage der der Klägerin obliegenden Plausibilitätskontrolle herangezogen und angenommen, dass besondere Sachkunde für diese Prüfung nicht erforderlich war.“ (BGH v. 23.4.2024 – VI ZR 348/21)

Ersatzfähig sind in einem solchen Fall des Nichteingreifens der Grundsätze der Risikotragung nur die objektiv erforderlichen Kosten. Im Wege der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) kam das Berufungsgericht zum Ergebnis, dass im Streitfall Desinfektionskosten nicht in Höhe der berechneten 157,99 € sondern von 33,18 € erforderlich waren.

Fazit

Der Entscheidung des BGH ist uneingeschränkt zuzustimmen. Auch die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos können nicht dazu führen, dass überhöhte Rechnungen oder gar nicht durchgeführte Arbeiten stets vollumfänglich zu zahlen sind. Dadurch würde das dem Geschädigten obliegende Wirtschaftlichkeitsgebot ad absurdum geführt werden. Zu Recht misst daher der BGH der einer Anwendung der Grundsätze zum Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisiko gedanklich vorgeschalteten Frage nach einer vom Geschädigten durchzuführenden Plausibilitätskontrolle besondere Bedeutung zu.

Mit anderen Worten: Die Geister eines sehr weitgehenden Ersatzes objektiv nicht nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erforderlicher Kosten, die der BGH unter dem Gesichtspunkt des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos gerufen hat, wird er jetzt auf dem Weg einer dem Geschädigten obliegenden Plausibilitätskontrolle z.T. wieder los. Dadurch gewinnen Aspekte der objektiven Erforderlichkeit doch wieder an Bedeutung (sh. dazu schon Zwickel, MDR 2023, R92). Zu ersetzen ist dann nämlich nur der objektiv erforderliche Betrag.

Für Ersatzbegehren von Desinfektionskosten gilt nach dem BGH-Urteil demnach:

Grundsätzlich sind Desinfektionskosten ersatzfähig. Bei Anwendbarkeit der Grundsätze zum Werkstatt- und Sachverständigenrisiko gilt dies auch für überhöhte Kosten.

Dem Geschädigten sind aber überhöhte Desinfektionskosten bei einer Plausibilitätskontrolle regelmäßig erkennbar, da eine Desinfektion während der Corona-Pandemie in fast allen Bereichen üblich war. In einem solchen Fall sind nur die objektiv erforderlichen Kosten der Hygienemaßnahmen zu ersetzen.

Blog powered by Zöller: Der moderne Zivilprozess kommt näher

Deutschland hinkt bei der Digitalisierung des staatlichen Sektors weit hinterher, und für die Justiz gilt dies in besonderem Maße. Sich aus den verkrusteten Strukturen der Reichsjustizgesetze des vorvorigen Jahrhunderts zu lösen, fällt offenbar schwer. Doch jetzt scheint die Rechtspolitik die Zeichen der Zeit erkannt zu haben und den Zivilprozess für zeitgemäße Verfahrensweisen öffnen zu wollen.

Dass es nicht in jedem Fall erforderlich ist, Parteien, Rechtsanwälte und Beweispersonen zu einer Sitzung im Gerichtssaal zusammenzurufen, sondern dass mit Einsatz elektronischer Übertragungstechnik auch per Video verhandelt werden kann, hat sich in einer Novellierung des § 128a ZPO niedergeschlagen, die nach einem Umweg über den Vermittlungsausschuss soeben das parlamentarische Verfahren durchlaufen hat und am Tag nach der Verkündung im BGBl. in Kraft treten wird. Sie bietet, anders als der ursprüngliche Gesetzesbeschluss, die Grundlage für ein flexibles und praktikables, auf die konkreten Gegebenheiten abgestelltes Verfahrensmanagement des Gerichts und ermöglicht eine vollvirtuelle Verhandlung nur im Rahmen von landesrechtlich zugelassenen Modellversuchen; ein Videostreaming von Gerichtsverhandlungen, wie es der Bundestag zunächst zulassen wollte, ist ausgeschlossen. Die neue Gesetzesfassung ist hier abrufbar und wird in Kürze in der Online-Version des ZÖLLER, auch für alle Bezieher der gedruckten Ausgabe kostenfrei zugänglich, kommentiert.

Einen viel größeren Schritt in die Zukunft unternimmt aber das Bundesministerium der Justiz (BMJ) mit dem soeben veröffentlichten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit. Mit diesem Gesetz sollen die Länder ermächtigt werden, an bestimmten Amtsgerichten für Zahlungsklagen bis zu 5.000 Euro ein vereinfachtes, digital unterstütztes Verfahren anzubieten. Die Klage kann dort auf einem sicheren Übermittlungsweg, persönlich oder mit anwaltlicher Vertretung, in digitaler Form eingereicht werden. Die Vorschriften über frühen ersten Termin oder schriftliches Vorverfahren gelten dann nicht. Das Gericht entscheidet vielmehr, ob eine mündliche Verhandlung überhaupt geboten ist und führt diese, einschließlich einer etwaigen Beweisaufnahme, im Regelfall mittels Video oder einer anderen Übertragungstechnik durch. Ansonsten wird der Prozess über eine elektronische Kommunikationsplattform abgewickelt, die auch zur Bereitstellung oder gemeinschaftlichen Bearbeitung elektronischer Dokumente durch die Verfahrensbeteiligten und das Gericht genutzt werden kann. Das Gericht soll anordnen können, dass die Parteien ihren Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen und dass sie ergänzenden oder erläuternden Vortrag dem jeweiligen Streitstoff zuordnen. Die Verkündung von Urteilen oder Beschlüssen wird durch deren Zustellung ersetzt. Der Erprobungszeitraum ist auf zehn Jahre angesetzt. Es ist aber zu hoffen, dass eine begleitende Evaluierung stattfindet, die es ermöglicht, das Verfahren zu perfektionieren und möglichst bald in den Regelbetrieb zu überführen. Über die weitere Entwicklung wird im ZÖLLER-Blog fortlaufend unterrichtet werden.

Der größte Fortschritt ist aber von der vom BMJ auf Antrag der Justizministerkonferenz eingesetzten Reformkommission zu erwarten, die den Zivilprozess in seiner Gesamtheit mit einem interdisziplinären Ansatz grundlegend neu denken soll. Schon Ende des Jahres sollen erste Ergebnisse vorliegen. Auch hierüber wird selbstverständlich hier berichtet.

Anwaltsblog 23/2024: Voraussetzungen wirksamer Einreichung elektronischer Gerichtsschriftsätze durch Rechtsanwälte

Zum wiederholten Male innerhalb kurzer Zeit musste sich der BGH mit den sich aus § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO ergebenden Anforderungen an die Übermittlung eines elektronischen Dokuments befassen (BGH, Beschluss vom 7. Mai 2024 – VI ZB 22/23):

Ein die Klage teilweise abweisendes Urteil des Landgerichts ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, RA L., am 8. November 2022 zugestellt worden. Am 24. November 2022 ist aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) des RA L. Berufung beim OLG eingelegt und diese mit am 14. Dezember 2022 wiederum vom beA des RA L. aus versandtem Schriftsatz begründet worden. Beide Schriftsätze waren nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, sondern lediglich mit einer einfachen Signatur (maschinenschriftliche Namensangabe und grafische Wiedergabe der handschriftlichen Unterschrift) von RAin W. versehen, die nach den Angaben im Briefkopf angestellte Rechtsanwältin in der Kanzlei des RA L. ist. Das OLG hat die Berufung als unzulässig verworfen. Die innerhalb der Berufungsfrist elektronisch eingegangene Berufung sei nicht formwirksam eingelegt, da sie nicht den Anforderungen des § 130a ZPO entsprochen habe. Denn die Berufungsschrift sei weder qualifiziert elektronisch signiert noch von dem elektronischen Anwaltspostfach der verantwortenden Person versandt worden. Das gelte auch für die Berufungsbegründung vom 14. Dezember 2022.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die elektronische Einreichung der Berufungsschrift am 24. November 2022 nicht den Anforderungen des § 130a ZPO entsprach, so dass die Klägerin die am 8. Dezember 2022 abgelaufene einmonatige Berufungsfrist versäumt hat. Gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Die Bestimmung stellt damit zwei Wege zur rechtswirksamen Übermittlung von elektronischen Dokumenten zur Verfügung. Zum einen kann der Rechtsanwalt den Schriftsatz mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Zum anderen kann er auch nur einfach signieren, muss den Schriftsatz aber sodann selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 4 ZPO, etwa über ein beA nach den §§ 31a und 31b BRAO (§ 130 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 ZPO), einreichen. Die einfache Signatur hat in dem zuletzt genannten Fall die Funktion zu dokumentieren, dass die durch den sicheren Übermittlungsweg als Absender ausgewiesene Person mit der die Verantwortung für das elektronische Dokument übernehmenden Person identisch ist; ist diese Identität nicht feststellbar, ist das Dokument nicht wirksam eingereicht. Ein elektronisches Dokument, das – wie hier die Berufungsschrift – aus einem persönlich zugeordnetem beA (vgl. § 31a BRAO) versandt wird und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, ist nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt.

Nach diesen Grundsätzen ist die elektronisch übermittelte Berufungsschrift nicht formgerecht eingereicht worden. RAin W. hat das Dokument nicht mit einer qualifizierten, sondern nur mit einer einfachen elektronischen Signatur versehen. Dies genügte trotz der Übermittlung des Dokuments über ein beA den Anforderungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO nicht, weil als Absender des Dokuments der Inhaber des beA – RA L. – und nicht die ausweislich der einfachen Signatur das Dokument verantwortende Person – RAin W. – ausgewiesen war. Allein aufgrund der Tatsache, dass das Dokument über das beA von RA L. übermittelt wurde, kann nach der Regelungssystematik des § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO nicht davon ausgegangen werden, dass er das Dokument nicht nur übermitteln, sondern auch die Verantwortung für seinen Inhalt übernehmen wollte, auch wenn er zur Vertretung der Klägerin berechtigt war. Von der auch bei einfacher Signatur durch einen anderen Rechtsanwalt bestehenden Möglichkeit, die Übernahme der Verantwortung für den Inhalt des über sein beA übermittelten elektronischen Dokuments durch Anbringung seiner eigenen elektronischen Signatur zum Ausdruck zu bringen, hat RA L. keinen Gebrauch gemacht.

Entgegen der Ansicht der Klägerin kann auf die Erfüllung der nach § 130a ZPO bestehenden Anforderungen an die Übermittlung eines elektronischen Dokuments nicht deshalb verzichtet werden, weil sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschriftsleistung vergleichbare Gewähr für die Identifizierung des Urhebers der Verfahrenshandlung und dessen unbedingten Willen, die volle Verantwortung für den Inhalt des Dokuments zu übernehmen und diesen bei Gericht einzureichen, ergeben würde. Entsprechende Umstände liegen hier nicht vor. Soweit die Klägerin darauf verweist, aus dem bisherigen Prozessverlauf sei klar zu erkennen, dass RAin W. die Verantwortung für die Berufungsschrift übernehmen wollte, mag RAin W. zwar durchgehend als alleinige Sachbearbeiterin in Erscheinung getreten sein. Damit steht hinsichtlich der Berufungsschrift angesichts deren Übermittlung über das beA von RA L. aber nicht zweifelsfrei fest, dass die Einreichung dieses Dokuments ihrem unbedingten Willen entsprach. Im Hinblick auf RA L. bietet der Umstand, dass er im Briefkopf der Berufungsschrift als Kanzleiinhaber und RAin W. als seine Angestellte ausgewiesen ist, keine der Unterschrift bzw. der sie gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO ersetzenden elektronischen Signatur vergleichbare Gewähr dafür, dass er die volle Verantwortung für den Inhalt des Dokuments übernehmen wollte.

 

Fazit: Nur wenn ein Mitglied einer mandatierten Anwaltssozietät einen Schriftsatz, den ein anderes Mitglied der Anwaltssozietät verfasst und einfach elektronisch signiert hat, in qualifiziert elektronischer Form signiert und diesen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht einreicht, ist dies wirksam. Eines klarstellenden Zusatzes („für“) bei der einfachen Signatur des Schriftsatzverfassers bedarf es nicht (BGH Beschl. v. 28.2.2024 – IX ZB 30/23, MDR 2024, 590).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um Rechtsfragen aus dem Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs.

Rechtsbeziehungen im bargeldlosen Zahlungsverkehr
BGH, Urteil vom 14. Mai 2024 – XI ZR 327/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit Fragen des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte, der Drittschadensliquidation, der Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens und der Verjährung.

Die Kläger zeichneten am 3.3.2012 einen Investmentauftrag, mit dem sie sich zur Zahlung von 750.000 Euro auf ein Konto verpflichteten, das die beklagte Bank für eine Tochtergesellschaft der Investmentgesellschaft führte. Die Kläger überwiesen einen Teilbetrag von 350.000 Euro von einem Konto bei einer Landesbank. Diese übermittelte den Zahlungsauftrag über eine weitere Landesbank an die Beklagte. Die Beklagte schrieb den Betrag dem Empfängerkonto am 6.3.2012 gut. Zu diesem Zeitpunkt lag der Beklagten eine Verfügung der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) vom 1.3.2012 vor, in der der besagten Investmentgesellschaft jede Entgegennahme von Publikumseinlagen untersagt und sämtliche Kontoverbindungen und Depots gesperrt wurden.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten aus eigenem Recht und aus abgetretenem Recht der beiden Landesbanken Schadensersatz in Höhe von 350.000 Euro Zug um Zug gegen Abtretung ihrer Ansprüche aus dem Investmentvertrag. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Zu Recht hat das OLG die Klage als hinreichend bestimmt angesehen. Ansprüche aus eigenem und aus abgetretenem Recht bilden allerdings unterschiedliche Streitgegenstände. Deshalb muss aus dem Klagevorbringen hervorgehen, in welcher Reihenfolge diese Gegenstände geltend gemacht werden. Im Streitfall ergibt sich die Reihenfolge jedoch schon aus dem materiellen Recht. Die aus abgetretenem Recht abgeleiteten Ansprüche auf Drittschadensliquidation können nur dann bestehen, wenn den Klägern kein eigener Anspruch gegen die Beklagte zusteht. Die Ansprüche aus eigenem Recht haben deshalb Vorrang.

Ebenfalls zu Recht hat das OLG entschieden, dass die Beklagte eine Warn- und Hinweispflicht verletzt hat. Im bargeldlosen Zahlungsverkehr muss eine Bank einen Beteiligten zwar nur dann auf mögliche Risiken hinweisen, wenn sie aufgrund einer auf massiven Verdachtsmomenten beruhenden objektiven Evidenz den Verdacht einer Veruntreuung schöpft. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall angesichts des Inhalts der behördlichen Verfügung vom 1.3.2012 aber gegeben.

Entgegen der Auffassung des OLG entfaltet das dem bargeldlosen Zahlungsverkehr zugrunde liegende Clearingabkommen zwischen den beteiligten Banken jedoch keine Schutzwirkung für den betroffenen Bankkunden. Der BGH hält insoweit an seiner Rechtsprechung fest, wonach es eines solchen Schutzes nicht bedarf, weil der Bankkunde seine Schäden im Wege der Drittschadensliquidation geltend machen kann.

Die im Streitfall geltend gemachten Ansprüche aus eigenem Recht sind deshalb unbegründet.

Die Ansprüche erweisen sich nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand auch auf der Grundlage abgetretenen Rechts nicht als begründet.

Entgegen der Auffassung des OLG ist der unter Beweis gestellte Vortrag der Beklagten, die beiden Landesbanken hätten einen Hinweis auf die Verfügung vom 1.3.2012 unbeachtet gelassen, entscheidungserheblich. Zugunsten der Kläger spricht zwar die Vermutung aufklärungspflichtigen Verhaltens. Die Behauptung, mit der die Beklagte diese Vermutung widerlegen will, ist aber nicht „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt. Die Beklagte hat hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Richtigkeit ihre Behauptung aufgezeigt, indem sie auf eine Vorgabe des von der Finanzmarktaufsicht eingesetzten Untersuchungsbeauftragten Bezug genommen hat, der zufolge nur Soll-Buchungen untersagt waren, nicht aber Gutschriften. Das OLG wird deshalb den Beweisangeboten der Beklagten nachgehen müssen.

Ebenfalls zu Unrecht hat das OLG angenommen, dass Ansprüche aus Drittschadensliquidation erst dann zu verjähren beginnen, wenn der Geschädigte Kenntnis von Schaden und Schädiger hat. Maßgeblich ist vielmehr der Kenntnisstand des Anspruchsinhabers, hier also der beiden Landesbanken. Diesbezügliche Feststellungen wird das OLG gegebenenfalls noch zu treffen haben.

Praxistipp: Wenn nicht auszuschließen ist, dass sich ein auf abgetretenes Recht gestützter Anspruch aus Drittschadensliquidation wegen einer Pflichtverletzung des ursprünglichen Anspruchsinhabers als unbegründet erweist, empfiehlt es sich, diesem den Streit zu verkünden, um die Möglichkeit eines Regresses offenzuhalten.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den ordnungsgemäßen Nachweis einer Prozessvollmacht.

Vorlage der Prozessvollmacht
BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2024 – VI ZB 88/21 und VI ZB 16/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit § 80 Satz 1 ZPO.

Die Klägerin begehrt in zwei Verfahren Schadensersatz wegen angeblich wahrheitswidriger Behauptungen in früheren Rechtsstreitigkeiten. Das LG hat beide Klagen abgewiesen. Das OLG hat die Berufungen (aus unterschiedlichen Gründen) als unzulässig verworfen. Die Klägerin hat dagegen durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Beklagten haben die ordnungsgemäße Bevollmächtigung dieses Anwalts bestritten.

Die Klägerin hat daraufhin eine auf den Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof lautende Prozessvollmacht vorgelegt. Diese ist von einem anderen Rechtsanwalt unter Bezugnahme auf eine ihm von der Klägerin erteilte Generalvollmacht unterschrieben. Die Prozessvollmacht liegt im Original vor, die Generalvollmacht als Kopie, die der damalige Geschäftsführer der Klägerin zur Bestätigung seiner damals geleisteten Unterschrift unterschrieben hat.

Der BGH verwirft die Rechtsbeschwerden als unzulässig.

Eine Prozessvollmacht ist gemäß § 80 Satz 1 ZPO im Original vorzulegen. Wenn sie durch einen Bevollmächtigten erteilt worden ist, gilt dasselbe für dessen Vollmacht. Ein anderweitiger Nachweis der Bevollmächtigung ist ausgeschlossen.

Im Streitfall hätte deshalb auch die Generalvollmacht im Original vorgelegt werden müssen. Die Unterschrift auf der vorgelegten Kopie ist nicht ausreichend. Sie kann auch nicht als Genehmigung der bisherigen Prozessführung angesehen werden, weil der frühere Geschäftsführer der Klägerin zum Zeitpunkt dieser Unterschrift nicht mehr zur Vertretung berechtigt war.

Praxistipp: Eine vollmachtlose Prozessführung kann mit Rückwirkung genehmigt werden. Die Genehmigung muss durch die Partei erfolgen oder durch einen Vertreter, dessen Vertretungsmacht in der Form des § 80 Satz 1 ZPO nachgewiesen ist.