Neuer Online-Leitfaden zum Güterichterverfahren

Vor sieben Jahren hat der Gesetzgeber das zuvor in Modellprojekten erfolgreich erprobte Güterichterverfahren in den Prozessordnungen sämtlicher Gerichtsbarkeiten verankert. Seither kann das Prozessgericht die Parteien vor einen nicht entscheidungsbefugten, speziell ausgebildeten Richter verweisen, der den Parteien die Möglichkeit bietet, unter Einsatz von Methoden der alternativen Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation eine eigenverantwortliche Lösung ihres Konflikts zu finden, die sich u.U. völlig vom Gegenstand des Prozesses und den dort vertretenen Positionen löst.

Dieses Verfahren führt aber in der gerichtlichen Praxis noch immer ein Schattendasein. Während es an einigen Gerichten reichlich und mit ausgezeichneten Ergebnissen genutzt wird, findet es an den meisten in äußerst geringem Umfang, zum großen Teil überhaupt nicht statt (vgl. die statistischen Auswertungen unter www.gueterichter-forum.de). Noch immer werden die von ihm gebotenen Möglichkeiten nur unzulänglich ausgeschöpft, was auch auf Unklarheiten zu rechtlichen Fragen und zum methodischen Vorgehen zurückzuführen ist, wie z.B.:

Wann ist eine Verweisung vor den Güterichter angezeigt – und wie ist sie vorzunehmen? Was ist bei der Vorbereitung der Güterichterverhandlung zu beachten? Wie geht man mit Blockaden oder Störungen der Verhandlung um? Wie kann die Vertraulichkeit des Gesprächs gesichert werden? Wie lassen sich Dritte einbeziehen? Müssen Anwälte im Mediationsgespräch dabei sein und welche Rolle spielen sie dort? Welche Möglichkeiten bieten sich beim Abschluss des Verfahrens? Was ist bei der Einbeziehung weiterer Regelungen in den Vergleich zu beachten? Welche Kosten- und Gebührenregelungen greifen ein, z.B. bei Mehrvergleich oder PKH-Berechtigung?

Aus jahrelanger wissenschaftlicher Begleitung der Praxis sind mir diese Fragestellungen bestens bekannt, aber auch die großen Chancen bewusst, die das Güterichterverfahren für eine rasche, belastungsarme, interessengerechte und nachhaltige Konfliktlösung bietet. Gemeinsam mit der erfahrenen Güterichterin und Mediatorin Harriet Weber habe ich daher die 2018 als MDR-Sonderheft erschienene „Arbeitshilfe für Richter, Rechtsanwälte und Gerichtsverwaltung“ in aktualisierter und stark erweiterter Fassung neu aufgelegt, und zwar in Form eines im Internet abrufbaren Online-Leitfadens. Diese Publikationsform bietet neben der ständigen Verfügbarkeit den unmittelbaren Zugang zu Gerichtsentscheidungen und anderen Quellen sowie zu aktuellen Meldungen auf meiner Website www.gueterichter-forum.de.

Hinweis: Der Leitfaden ist als reiner Online-Beitrag über das Beratermodul Otto Schmidt Zivil- und Zivilverfahrensrecht abrufbar (auch im Rahmen eines kostenlosen Probeabos oder Datenbank-Tests. Ebenso enthalten im juris PartnerModul Zivil- und Zivilprozessrecht und juris PartnerModul Notare.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Verjährung von Amtshaftungsansprüchen gegen Notare.

Verjährung des notariellen Amtshaftungsanspruchs
Urteil vom 10. Oktober 2019 – III ZR 227/18

Mit der Frage, wann ein Laie die für den Verjährungsbeginn erforderliche Kenntnis von einer notariellen Pflichtverletzung hat, befasst sich der III. Zivilsenat.

Der Kläger hatte Ende 2006 eine Eigentumswohnung erworben. Im notariellen Vertrag, den der Beklagte als Notarvertreter beurkundet hat, ist vermerkt, der Käufer habe den Vertragsentwurf mehr als zwei Wochen zuvor erhalten und ausreichend Gelegenheit gehabt, ihn zu prüfen oder überprüfen zu lassen. Später betrieb der Kläger die Rückabwicklung der Verträge, weil er den Kaufpreis als überteuert ansah. Sein Versuch, die an dem Geschäft Beteiligten in Anspruch zu nehmen, schlug fehl, unter anderem wegen Insolvenz der als Schuldner in Frage kommenden Gesellschaften. Daraufhin nahm der Kläger Ende 2016 den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch, weil ihm der Vertragsentwurf entgegen § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 2 BeurkG und abweichend von den Angaben im Vertrag erst kurz vor dem Beurkundungstermin zur Verfügung gestellt worden sei. Die Klage blieb in den ersten beiden Instanzen erfolglos.

Die Revision des Klägers bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Der BGH tritt den Vorinstanzen darin bei, dass die geltend gemachten Ansprüche verjährt sind. Er knüpft an seine schon zu § 852 Abs. 1 BGB a.F. ergangene Rechtsprechung an, wonach die für den Verjährungsbeginn erforderliche Kenntnis vom Bestehen des Anspruchs bereits dann vorliegt, wenn dem Gläubiger Tatsachen bekannt oder infolge von grober Fahrlässigkeit unbekannt sind, die aus seiner Sicht auf eine Pflichtverletzung hinweisen. Abweichend von der Auffassung der Revision sieht der erkennende Senat insoweit keine Unterschiede zwischen der Rechtsprechung für Notar-, Anwalt- und Arzthaftungssachen. Im Streitfall ergaben sich für den Kläger hinreichende Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung des Beklagten schon aus dem Umstand, dass die im beurkundeten Vertrag enthaltenen Angaben zur Überlassung des Vertragsentwurfs nach seinem eigenen Vortrag objektiv unzutreffend waren und damit gegebenenfalls auch für einen Laien ohne weiteres erkennbar war, dass der Beklagte möglicherweise gegen rechtliche Vorgaben verstieß. Die Verjährung begann deshalb, sobald der Kläger zusätzlich Kenntnis davon erhielt, dass keine anderweitigen Ersatzmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Letzteres war spätestens im Jahr 2012 der Fall. Die im Jahr 2016 erhobene Klage konnte die Verjährung deshalb nicht mehr hemmen.

Praxistipp: Etwas anderes kann gelten, wenn der Notar den Geschädigten über den Inhalt oder Umfang der ihn treffenden Pflichten unzutreffend belehrt hat und für den Geschädigten nicht ohne weiteres ersichtlich ist, dass die Belehrung fehlerhaft ist.

OLG Frankfurt: „Ende“ des selbständigen Beweisverfahrens

In einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt (Beschl. v. 21.08.2019 – 13 W 40/19) hatte der Sachverständige nach Einleitung eines selbständigen Beweisverfahrens ein Ergänzungsgutachten vorgelegt. Dieses ging den Parteien am 14.3.2019 zu. Mit Schriftsatz vom 13.5.2019 beantragte der Antragsgegner, dem Antragsteller eine Frist zur Klageerhebung zu setzen und den Streitwert festzusetzen. Der Antragsteller erhielt diesen Schriftsatz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen. Mit Schriftsatz vom 29.5.2019 (also innerhalb der eingeräumten Frist) beantragte der Antragsteller jedoch, dem Sachverständigen weitere Fragen zur Beantwortung vorzulegen. Das Landgericht wies diesen Antrag zurück. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers.

Diese sofortige Beschwerde ist nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zulässig, da das Landgericht ein das Verfahren betreffendes Gesuch zurückgewiesen hatte. Die entscheidende Frage war, ob das selbständige Beweisverfahren bereits beendet war oder nicht. Eine Frist nach § 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO hatte das Landgericht nicht gesetzt. Demgemäß kam es darauf an, ob hier der in § 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO maßgebliche angemessene Zeitraum, um Einwendungen gegen das Gutachten mitzuteilen, schon abgelaufen war. Zur Bestimmung dieses Zeitraums kann keine verbindliche Frist herangezogen werden. Es kommt immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an, wie z. B. den Umfang und die Schwierigkeit der Sache sowie die Verständlichkeit des Gutachtens oder auch die bisherige Dauer des Verfahrens. Für den angemessenen Zeitraum sind Fristen von ein bis sechs Monaten in der Diskussion, jedoch in der Regel nicht mehr als drei Monate. Hier waren seit der Mitteilung des Gutachtens elf Wochen vergangen, mithin weniger als drei Monate. Außerdem ging der Antrag innerhalb der eingeräumten Stellungnahmefrist zu dem Antrag des Antragsgegners ein. Das Landgericht hatte seinerseits zuvor auf eine Fristsetzung verzichtet. Vor diesem Gesamthintergrund war der angemessene Zeitraum hier gerade noch nicht abgelaufen, als der Antrag des Antragstellers einging.

Somit hob das Oberlandesgericht den Beschluss des Landgerichts auf und gab dem Landgericht die Gelegenheit, einen sachgerechten weiteren Beschluss zu treffen.

Fazit: Ein selbständiges Beweisverfahren kann von alleine zu Ende gehen. Es empfiehlt sich daher – falls das Gericht keine Fristen setzt – eventuelle Ergänzungsfragen an den Sachverständigen zeitnah anzubringen. Höchstvorsorglich ist nach Eingang des Gutachtens eine Dreimonatsfrist zu notieren.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Abgrenzung zwischen Mangelschäden und sonstigen Schäden beim Werkvertrag.

Schadensersatz nach Kündigung eines Reinigungsvertrags
Urteil vom 10. Oktober 2019 – VII ZR 1/19

Dass die vor der Schuldrechtsmodernisierung häufig umstrittene Abgrenzung zwischen Mangelschäden und sonstigen Schäden auch nach neuem Recht relevant sein kann, belegt eine Entscheidung des VII. Zivilsenats.

Das klagende Land Berlin hatte mit der Beklagten einen Vertrag über Reinigungsleistungen mit einer Laufzeit von zweieinhalb Jahren geschlossen. Nach rund fünf Monaten erklärte es die außerordentliche Kündigung des Vertrags wegen schwerwiegender und systematischer Reinigungsmängel. In der Folgezeit beauftragte es andere Unternehmen mit den betreffenden Leistungen. Nach Ablauf der ursprünglich vorgesehenen Vertragslaufzeit – rund drei Jahre nach der Kündigung – klagte es die entstandenen Mehrkosten in Höhe von rund 160.000 Euro ein. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das Kammergericht zurück. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sind die Klageansprüche nicht verjährt. § 634a Abs. 1 Nr. 1 BGB, der für Ansprüche auf Schadensersatz wegen eines Werkmangels eine Verjährungsfrist von zwei Jahren vorsieht, ist nicht anwendbar. Zwar ist der zwischen den Parteien geschlossene Reinigungsvertrag als Werkvertrag zu qualifizieren. Die geltend gemachten Mehraufwendungen beruhen aber nicht auf einem Mangel der von der Beklagten erbrachten Reinigungsleistungen, sondern darauf, dass die Beklagte die geschuldeten Leistungen im Zeitraum nach der Kündigung nicht mehr erbracht hat. Für diesbezügliche Schadensersatzansprüche gilt auch dann die allgemeine Verjährungsfrist von drei Jahren gemäß § 195 und § 199 BGB, wenn die Kündigung auf Mängel der zuvor erbrachten Reinigungsleistungen gestützt war.

Praxistipp: Wenn auch nur entfernte Zweifel bestehen, ob § 634a oder § 195 BGB maßgeblich ist, sollte die Klage sicherheitshalber innerhalb der kürzeren Frist erhoben werden – sofern dies noch möglich ist.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um ein Thema, das in Zeiten des Klimaschutzes an Bedeutung gewinnen könnte.

Wärmedämmung und Überbau
Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 144/18

Mit einer Vorschrift des hessischen Nachbarrechts, die es in ähnlicher Form auch in anderen Bundesländern gibt, befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien sind Eigentümer von Reihenhäusern, die versetzt aneinandergebaut sind. Der Kläger ließ sein Haus mit einer außenseitigen Fassadendämmung versehen und wollte in diese Maßnahme auch den frei liegenden Teil der Wand einbeziehen, die an der Grenze zum Grundstück des Beklagten liegt. Hierzu müssten unter anderem ein vom Beklagten an die Hauswand angepasster Holzunterstand für die Mülltonnen verlegt und der Dachanschluss am Haus des Beklagten angepasst werden. Der Beklagte lehnt diese Maßnahmen ab. Das AG verurteilte den Beklagten antragsgemäß, dem Kläger die Vornahme der Maßnahmen auf dessen Kosten zu erlauben. Das LG wies die Klage hingegen ab.

Die Revision des Klägers bleibt erfolglos.

Nach § 10a Abs. 1 des Hessischen Nachbarrechtsgesetzes müssen Eigentümer und Nutzungsberechtigte eines Grundstücks Bauteile einer Grenzwand, die auf ihr Grundstück übergreifen, dulden, wenn es sich um eine den aktuellen Vorschriften für bestehende Gebäude entsprechende Wärmedämmung handelt und diese auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann. Die Duldungspflicht ist aber auf den Überbau beschränkt und erstreckt sich nicht auf Änderungen am Eigentum des Verpflichteten. Im Streitfall besteht deshalb keine Duldungspflicht, weil die beabsichtigte Maßnahme mit Änderungen am Eigentum des Beklagten einherginge.

Der BGH stellt klar, dass die genannte Vorschrift nur für Grenzwände gilt, also für Wände, die die Grenze zum Nachbargrundstück nicht überschreiten. Bei einer gemeinsamen Grenzeinrichtung im Sinne von § 921 BGB richtet sich die Zulässigkeit eines Überbaus nach den Regeln der Gemeinschaft, insbesondere nach § 745 Abs. 2 BGB. Zu den danach in Betracht kommenden Verwaltungsmaßnahmen zählen jedoch nur Maßnahmen, die die gemeinsame Einrichtung betreffen, nicht aber Maßnahmen, die das alleinige Eigentum eines Beteiligten betreffen. Für den Streitfall führt dies zum gleichen Ergebnis wie im Fall einer Grenzwand.

Praxistipp: Auch wenn es im konkreten Fall nicht entscheidungserheblich war, sollte vor Klageerhebung sorgfältig geklärt werden, ob es um eine Grenzwand oder um eine gemeinsame Grenzeinrichtung geht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Grenzen des Grundsatzes „Kauf bricht nicht Miete“.

Eintritt in das Mietverhältnis bei bloßem Mitbenutzungsrecht
Beschluss vom 4. September 2019 – XII ZR 52/18

Mit den Grenzen von § 566 Abs. 1 BGB befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte von einer später insolvent gewordenen Gesellschaft Gewerberäume gemietet. Nach dem Mietvertrag war sie berechtigt, eine Zufahrt mitzubenutzen, die auf einem benachbarten, ebenfalls der damaligen Vermieterin gehörenden Grundstück liegt. Der Insolvenzverwalter veräußerte das Grundstück mit den vermieteten Räumen an die Beklagte zu 1 und das Grundstück mit der Zufahrt an die Beklagte zu 2. Die Beklagte zu 1 erklärte die vorzeitige Kündigung des Mietverhältnisses gemäß § 111 InsO. Die Klägerin hielt diese Kündigung mangels Mitwirkung der Beklagten zu 2 für unwirksam und beantragte die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz aller daraus entstehenden Schäden verpflichtet sind. Das LG wies die Klage ab. Das OLG stellte fest, dass das Mietverhältnis bis zu dem im Vertrag vorgesehenen Endtermin weiterbestanden habe.

Der BGH stellt das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang wieder her. Entgegen der Auffassung des OLG war die allein von der Beklagten zu 1 erklärte Kündigung wirksam, weil die Beklagte zu 2 nicht gemäß § 566 Abs. 1 BGB in den Mietvertrag eingetreten ist. Für einen Eintritt nach dieser Vorschrift ist erforderlich, dass ein Grundstück veräußert wird, das als Mietsache Gegenstand eines Mietvertrags ist und dem Mieter vor der Veräußerung überlassen wurde. An beiden Voraussetzungen fehlt es in Bezug auf Grundstücke oder Räume, an denen dem Mieter lediglich ein Recht zur Mitbenutzung eingeräumt worden ist.

Praxistipp: Ein Notwegrecht darf gemäß § 917 BGB nur der Eigentümer des vermieteten Grundstücks geltend machen, nicht der Mieter. Ist das Verlangen erfolgreich, darf sich gemäß § 986 Abs. 1 BGB auch der Mieter auf das Notwegrecht berufen.

BGH: Berufung auf Unwirksamkeit einer Ersatzzustellung

Im Rahmen eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil ging es – wie so oft – um die Wirksamkeit von Zustellungen (BGH, Beschl. v. 14.5.2019 – X ZR 94/18). Der Beklagte hatte dem klagenden Luftverkehrsunternehmen, das für ein spezielles (Bonus-)Programm einen inländischen Wohnsitz gefordert hatte, eine Anschrift in Berlin mit dem Zusatz „c/o D.“ mitgeteilt. Die Klägerin warf dem Beklagten dann vor, diverse Täuschungen begangen zu haben und verlangte von ihm die Kosten, die für zahlreiche Flüge entstanden waren. In Berlin wurden die Klageschrift und das Versäumnisurteil auch zugestellt. Seinen Wohnsitz hatte der Beklagte aber tatsächlich in Moskau. LG und KG hatten den zu spät eingelegten Einspruch als verfristet angesehen, der BGH folgte dem jedoch nicht.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass die Zustellungen nicht wirksam waren. Eine Ersatzzustellung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass der Zustellungsempfänger am Ort der Zustellung auch tatsächlich wohnt. Es ist gerade nicht ausreichend, dass der Zustellungsempfänger nur einen zurechenbaren Rechtsschein für die Wohnung erzeugt. Eine erweiternde Auslegung der Zustellungsvorschriften dahingehend ist nicht zulässig. Diese Vorschriften haben formalen Charakter und sichern das rechtliche Gehör.

Diese Sicht der Dinge führt aber in vielen Fällen zu völlig sachunangemessenen Ergebnissen. Entsprechend dem das ganze Recht beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben hat die Rechtsprechung deshalb schon bald Ausnahmen von diesem Grundsatz postuliert: Ein Zustellungsempfänger darf sich auf eine unwirksame Ersatzzustellung dann nicht berufen, wenn er bei dem Gericht oder einem Verfahrensbeteiligten bewusst einen Irrtum über seine tatsächlichen Lebensverhältnisse hervorruft. „Fehlt es an einem solchen Verfahrensbezug des bewusst hervorgerufenen Anscheins einer Wohnung, darf es dem Zustellungsadressaten regelmäßig nur dann versagt werden, sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung zu berufen, wenn er diesen Anschein zumindest insofern zielgerichtet herbeigeführt hat, als er Auswirkungen seines Handelns auf eine Zustellung in einem anhängigen oder möglicherweise bevorstehenden Verfahren in Kauf genommen hat oder sich ihm solche Auswirkungen zumindest aufdrängen mussten.“

Hiervon vermochte der BGH nach den Feststellungen des KG nicht auszugehen. Besondere Feststellung zu einer Unredlichkeit des Beklagten im Hinblick auf das Verfahren wurde vom KG nicht getroffen. Die Umstände, dass der Beklagte gegenüber der Klägerin einmal „bei D.“ und einmal „c/o D.“ angegeben hatte, reichen nicht aus. Beiden Zusätzen kommt keine vollständig eindeutige Wirkung zu. Die Zusätze werden sowohl bei Personen verwendet, die eine Wohnung als Untermieter oder aus sonstigen Gründen mitbenutzen als auch bei Personen, die lediglich sicherstellen wollen, dass sie Post an einer bestimmten Adresse im Inland erreichen kann. Auch der Umstand, dass der Beklagte die Adresse angegeben hat, um unberechtigt an einem speziellen Programm der Klägerin teilzunehmen, reicht nicht aus, um bei der Klägerin eine Fehlvorstellung über die Zuständigkeit auszulösen, zumal der Klägerin bekannt war, dass der Beklagte sich tatsächlich in Moskau aufhält.

Fazit: Wie auch hier, scheitern in der Praxis viele Zustellungen an ihrer Wirksamkeit. Dies kann sehr unangenehme Konsequenzen haben. Eine unwirksame Zustellung kann auch nach Jahren noch geltend gemacht werden. Mitunter ist dann die Verjährungsfrist abgelaufen und es fehlt an verjährungsunterbrechenden Umständen. Für einen Gläubiger kann all dies sehr bitter sein. Das geltende Zustellungsrecht gibt jedenfalls Personen, die sich Zustellungen entziehen wollen, viele Möglichkeiten, ihre Gläubiger zum Narren zu halten.

Einmal wieder: BGH zum rechtlichen Gehör

In einer Arzthaftungssache (BGH, Beschl. v. 21.5.2019 – VI ZR 54/18, MDR 2019, 1081) hatte das OLG eine Zeugin vernommen und einen Sachverständigen angehört. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung wurde alsdann den Parteien nachgelassen, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme bis zum 28. November schriftsätzlich vorzutragen. Ein Verkündungstermin wurde auf den 12. Dezember bestimmt. Innerhalb der Frist unterbreiteten die Kläger noch rechtsrelevanten Vortrag. Das OLG verkündete ein Urteil zum Nachteil der Kläger. Der BGH sieht darin einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.

Bekanntlich gibt es Fälle, in denen eine erneute Verhandlung oder ein schriftliches Verfahren nach einer Beweisaufnahme geboten ist, dies gilt vor allem in Arzthaftungssachen. Ob hier ein solcher Fall vorlag, lässt der BGH jedoch offen. Jedenfalls wenn das Gericht nach einer Beweisaufnahme einen Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis einräumt, bringt es dadurch hinreichend klar zum Ausdruck, dass es eine Stellungnahme im Termin nicht erwartet, sondern fristgemäß erfolgenden Vortrag berücksichtigen wird. Dagegen hat das OLG verstoßen, sodass das rechtliche Gehör verletzt ist, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG unter Berücksichtigung des Vortrags anders entschieden hätte.

Diese Entscheidung zeigt einmal mehr, wie schwierig es in der Praxis ist, einen entscheidungsreifen Prozess auch einmal wirklich zu entscheiden. Es fällt den Beteiligten immer wieder etwas Neues ein. In der Praxis ist dieses Neue allerdings oftmals fernliegend, denn wenn es wirklich wichtig wäre, wäre es sicherlich schon vorgetragen worden. Aber in der gerichtlichen Praxis neigen die Parteien oftmals dazu, sich an immer neue Strohhalme zu klammern. Dies gilt vor allem dann, wenn sie merken, dass sie unterliegen werden.

Wenn ein Gericht keine Verfahrensfehler riskieren will, räumt es solche Stellungnahmefristen am besten erst gar nicht ein. Wenn die Sache wirklich so komplex ist, dass von den Parteien eine abschließende Stellungnahme nach einer Beweisaufnahme, vor allem nach umfangreichen Ausführungen eines Sachverständigen, nicht erwartet werden kann, muss eben gleich ein neuer Termin bestimmt werden oder – bei Einverständnis beider Parteien – das schriftliche Verfahren angeordnet werden (Hierzu z.B. näher Vorwerk/Fullenkamp, Prozessformularbuch, 11. Aufl. 2019, Kap. 24 Rn. 50 f. und Rehborn Kap. 80 Rn. 342 ff. mit M 80.28). Ansonsten sollten keine Stellungnahmerechte mehr eingeräumt werden, sondern auf die Möglichkeit „Hic Rhodus, hic salta!“ hingewiesen werden. Der BGH scheint mitunter nicht ausreichend zu berücksichtigen, dass mindestens eine der Parteien auch einen Anspruch darauf hat, dass ein Prozess auch einmal zu Ende geht.

Hinweis: Vgl. hierzu auch den Blog-Beitrag von Bacher zu derselben Entscheidung.

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Umfang der gerichtlichen Überprüfung in der Berufungsinstanz.

Tatrichterliche Würdigung in der Berufungsinstanz
Beschluss vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17

Mit dem Maßstab für die Überprüfung erstinstanzlicher Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht befasst sich der VII. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagte auf Ersatz von Wasserschäden in Anspruch, die sie auf einen fehlerhaft verlegten Kühlwasserschlauch zurückführte. Das LG wies die Klage nach Einholung eines Gutachtens und mündlicher Anhörung des Sachverständigen ab. Das OLG wies die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 7 ZPO an das OLG zurück. Dieses hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil es die tatrichterliche Würdigung des LG nur auf Rechtsfehler überprüft hat. Nach § 529 Abs. 1 ZPO muss ein Berufungsgericht prüfen, ob konkrete Umstände vorliegen, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der erstinstanzlich getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen. Diese Prüfung darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob dem erstinstanzlichen Gericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Berufungsgericht muss sich vielmehr auch mit tatsächlichen Umständen befassen, die der Berufungskläger aufgezeigt hat. Eine erneute Beweiserhebung ist schon dann geboten, wenn diese Umstände eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die erstinstanzliche Feststellung danach keinen Bestand haben wird.

Praxistipp: Eine auf die Verletzung von § 529 Abs. 1 ZPO (iVm Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat vor allem dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich das Berufungsgericht mit der Erwägung begnügt hat, die erstinstanzliche Entscheidung sei frei von Rechtsfehlern.

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Diese Woche geht es um die Erfolgsaussichten eines Mahnverfahrens.

Prozesskostenhilfe für Mahnverfahren
Beschluss vom 21. August 2019 – VII ZB 48/16

Mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Mahnverfahren hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO bietet, befasst sich der VII. Zivilsenat.

Der Antragsteller beantragte als Insolvenzverwalter Prozesskostenhilfe für einen Mahnbescheid wegen einer Forderung aus einem von der Insolvenzschuldnerin geschlossenen Werkvertrag. Das AG wies den Antrag mangels Erfolgsaussicht zurück. Die sofortige Beschwerde des Antragstellers blieb erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Abweichend von den Vorinstanzen führt der Umstand, dass der Gegner angekündigt hat, gegen einen Mahnbescheid gegebenenfalls Widerspruch einzulegen, weder dazu, dass es an hinreichender Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO fehlt, noch dazu, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung als mutwillig anzusehen ist. Zu den legitimen Zielen eines Mahnverfahrens rechnet der BGH nicht nur den (nur ohne Widerspruch möglichen) Erlass eines Vollstreckungsbescheids, sondern auch die schnelle Hemmung der Verjährung. Hierfür genügt es, wenn der beabsichtigte Mahnantrag den formellen Voraussetzungen der §§ 688 bis 691 ZPO entspricht. Der III. und der X. Zivilsenat hatten in einigen früheren Entscheidungen einen Prozesskostenhilfeantrag unter anderem deshalb als mutwillig angesehen, weil der Gegner bereits Widerspruch angekündigt hatte. Sie hatten diese Entscheidungen aber zusätzlich auf die Erwägung gestützt, eine besonnene Partei werde das mit der beabsichtigten Rechtsverfolgung verbundene finanzielle Risiko aufgrund der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles nicht auf sich nehmen. Auf Anfrage des VII. Zivilsenats haben sie mitgeteilt, dass der vorliegende Beschluss zu ihren Entscheidungen nicht in Widerspruch steht. Nach Zurückverweisung wird das LG noch die Voraussetzungen des § 116 ZPO prüfen müssen.

Praxistipp: Sofern der beabsichtigten Rechtsverfolgung in der Sache nicht mit Händen greifbare Einwände entgegenstehen, eröffnet ein Antrag auf Prozesskostenhilfe für ein Mahnverfahren einen schnellen und unkomplizierten Weg zur Hemmung der Verjährung. Nach Übergang in das streitige Verfahren bedarf es allerdings eines erneuten Prozesskostenhilfegesuchs, bei dem auch die Erfolgsaussichten in der Sache zu prüfen sind.