Neues zum Hinweisgeberschutzgesetz: Geplante Umgehung der Länderkammer vorerst gescheitert

Am 10.2.2023 scheiterte das vom Deutschen Bundestag am 16.12.2022 beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz im Bundesrat. Danach war für wenige Wochen unklar, wie es mit der Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht weitergehen würde. Sollte sich das Gesetzgebungsverfahren für längere Zeit hinziehen? Oder sollte ein schneller Vorschlag zur Güte folgen (dazu Rempp, Blog Gesellschaftsrecht v. 14.2.2023) – etwa in Form einer konsensfähigen Minimal-Umsetzung, die sich möglichst nahe an den Anforderungen der Richtlinie bewegt, um so dem Vertragsver­letz­ungs­verfahren der EU-Kommission wegen fehlender Richtlinien-Umsetzung zeitnah zu begegnen?

Diese und weitere Möglichkeiten wären denkbar gewesen, wenn etwa jemand den Vermittlungsausschuss angerufen hätte. „Na und?“, dachte sich indessen die Regierungskoalition. So folgten zwei Fraktionsentwürfe, mittels derer das bis dato bestehende Zustimmungserfordernis des Bundesrates weitgehend ausgehebelt worden wäre. Nun ist die geplante Umgehung der Länderkammer vorerst gescheitert. Die für den 30.3.2023 anberaumte zweite und dritte Lesung im Deutschen Bundestag wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Doch erst noch einmal drei Schritte zurück …

Aus einem Regierungsentwurf wurden zwei Fraktionsentwürfe: Ein Coup der Regierungskoalition?

Am 13.3.2023 wurde bekannt, welchen Coup die Regierungskoalition landen wollte. Aus einem Regierungsentwurf wurden zwei Fraktionsentwürfe (BT-Drucks. 20/5992 und BT-Drucks. 20/5991), welche – anders als Regierungsentwürfe – nicht erst dem Bundesrat zuzuleiten sind, bevor sie dem Deutschen Bundestag zugeleitet werden können (s. Art. 76 Abs. 2 Satz 1 GG).

Der eine Fraktionsentwurf, der weitestgehend dem im Bundesrat gescheiterten Regierungsentwurf entspricht, sollte auch nach der Verabschiedung im Deutschen Bundestag nicht in den Bundesrat müssen. In der Begründung heißt es, der Entwurf verzichte auf jene Regelungen, die einst die Zustimmungsbedürftigkeit begründet hätten (BT-Drucks. 20/5992, S. 3). Konkret sollten Landesbeamte & Co. vom persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen werden. Außerdem sollten Äußerungen von Beamten, die einen Verstoß gegen die Pflicht zur Verfassungstreue darstellen, nur dann vom sachlichen Anwendungsbereich erfasst sein, wenn es sich um Äußerungen von Bundesbeamten handelt.

Klar ist, dass die EU-Whistleblower-Richtlinie damit nur unvollständig umgesetzt wäre. So kam der zweite Fraktionsentwurf ins Spiel. Zur vollständigen Umsetzung sei – so die Begründung des Gesetzes zur Ergänzung der Regelungen zum Hinweisgeberschutz – eine Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auf den Personenkreis erforderlich, der zuvor ausgenommen wurde (BT-Drucks. 20/5992, S. 4). Auch die vorgenannte Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs sollte durch das Ergänzungsgesetz zurückgedreht werden.

Erste Lesung und Anhörung im Rechtsausschuss: Zweifel am Gesetzgebungsverfahren

Am 17.3.2023 fand die erste Lesung im Deutschen Bundestag statt. Die Empörung über die Aufteilung in zwei Gesetzesentwürfe war auf Seiten der Opposition freilich groß. So wurde argumentiert, dass die Zustimmungsbedürftigkeit trotz dieser Aufteilung bestehen bleibe – zum einen, weil notwendigerweise Zusammengehörendes auseinandergerissen werde, zum anderen, weil sich das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates auch aus anderen Normen als Art. 74 Abs. 2 GG ergebe (Plenarprotokoll 20/92, S. 11096).

Am 27.3.2023 passierten die Fraktionsentwürfe sodann den Rechtsausschuss. Inhaltlich ging es bei der Anhörung zum einen um jene Aspekte, die bereits im Zusammenhang mit dem Regierungsentwurf behandelt worden sind, etwa um zusätzliche Belastung der Unternehmen, anonyme Meldungen und die Zentralisierung von Meldekanälen. Zum anderen wurde aber auch hier die Aufspaltung in zwei Gesetzesentwürfe kritisiert. Prof. Dr. Winfried Kluth und Prof. Dr. Gregor Thüsing meldeten ihre Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Weges an und legten dar, weshalb sich die Regierungsfraktionen mit der möglichen Verfassungswidrigkeit dieses Weges befassen sollten.

Zweite und Dritte Lesung: Kurzfristig von der Tagesordnung genommen

Am 30.3.2023 sollte der Deutsche Bundestag das von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eingebrachte Hinweisgeberschutzgesetz sowie das Ergänzungsgesetz nach zweiter und dritter Lesung beschließen. Erst am Nachmittag des 30.3.2023 wurde bekannt, dass das Hinweisgeberschutzgesetz und das Ergänzungsgesetz von der Tagesordnung genommen worden sind. Hierauf hätten sich die Fraktionen im Ältestenrat verständigt.

Was waren wohl die Gründe für diese Entscheidung? Im weiteren Verlauf wäre das Hinweisgeberschutzgesetz im Bundesgesetzblatt verkündet worden, wohingegen das Ergänzungsgesetz den Weg in den Bundesrat genommen hätte. Hätte es sich dabei um einen Coup oder doch um einen Bärendienst gehandelt?

Es hätten Risiken in zweierlei Hinsicht bestanden. Über dem Hinweisgeberschutzgesetz, das als nächstes im Bundesgesetzblatt verkündet worden wäre, hätte zum einen das „Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit“ geschwungen – so die Formulierung von Prof. Dr. Thüsing. Zum anderen wäre mit Blick auf das Ergänzungsgesetz aber auch noch lange nicht klar gewesen, ob der Bundesrat dieses einfach durchgewunken hätte.

Eine erneute Blockade des Bundesrates in diesem Verfahrensstand hätte bedeutet, dass die EU-Richtlinie bis zu einer irgendwann gefundenen Lösung nur unvollständig umgesetzt worden wäre – ein eher unbefriedigendes Ergebnis. Sie hätte zudem bedeutet, dass im Bereich des Hinweisgeberschutzes in der Übergangsphase ein „Zwei-Klassen-Recht“ bestanden hätte. Hiervor warnte die Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, Kosmas Zittel, bereits in der Anhörung im Rechtsausschuss. Es hätte nicht zuletzt aber auch so weit kommen können, dass über eine Blockadehaltung im Bundesrat versucht worden wäre, weitere Änderungen des Hinweisgeberschutzgesetzes herbeizuführen. Die Aufspaltung in zwei Gesetzesentwürfe wäre wieder zurückgedreht worden.

Erneut mein Vorschlag zur Güte

Nun ist wieder völlig unklar, wie es mit der Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie in deutsches Recht weitergehen wird. So wird der Vorschlag zur Güte (dazu Rempp, Blog Gesellschaftsrecht v. 14.2.2023) wieder aktuell: Es könnte eine 1:1-Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie erfolgen, um später den Nacharbeitungsbedarf auf Basis praktischer Erfahrungen zu ermitteln. Los geht’s.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

Listing Act: Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Ende 2021 kündigte die Europäische Kommission an, im Rahmen eines sog. „Listing Act“ Regelungen vorzuschlagen, die die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts steigern sollten. Der Ankündigung folgte eine öffentliche Konsultation, die bis Februar 2022 dauerte (zu den Stellungnahmen Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 18 ff.). Nach einer längeren Funkstille präsentierte die EU-Kommission am 7.12.2022 ein umfangreiches Regelungspaket mit mehreren Entwürfen, die das Insolvenzrecht, das Clearing (u.a. Anpassung der EMIR und weiterer Verordnungen sowie der OGAW-RL und weiterer Richtlinien), die Mehrstimmrechte, die Änderung der EU-ProspektVO, der MAR und der MiFIR sowie die Änderung der MiFID II und die Abschaffung der Wertpapierzulassungs-RL 2001/34/EG betreffen.

Im Gesellschaftsrechts-Blog werden wir die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Pläne der EU-Kommission darstellen; das Vorhaben wird auch Gegenstand eines Beitrags im AG-Report sein.

Die (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie

Da aus einer gesellschaftsrechtlichen Perspektive der Entwurf einer Mehrstimmrechtsaktien-RL (s. COM(2022) 761 final) im Zentrum des Interesses stehen dürfte, konzentrieren wir uns im ersten Teil auf die Mehrstimmrechtsaktien, die in Deutschland bekanntlich seit 1998 nach § 12 Abs. 2 AktG unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Ankündigung ihrer Wiedereinführung durch die EU-Kommission – und durch das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (s. dazu Kuthe, AG 2022, R208 und meinen Zwischenruf) – eine Flut von Beiträgen auslöste, die sich mit den Vor- und Nachteilen dieses Governance-Instruments auseinandersetzen (vgl. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275; Nicolussi, AG 2022, 753).

Nun macht die EU-Kommission einen ersten Aufschlag und will die Emission von Mehrstimmrechtsaktien europaweit ermöglichen. Dabei definiert sie die Mehrstimmrechtsaktien in Art. 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als Aktien, die zu einer gesonderten und separaten Gattung gehören und mit höherem Stimmgewicht ausgestattet sind als eine andere Gattung von Aktien, die ein Stimmrecht in Angelegenheiten gewähren, die im Rahmen der Hauptversammlungskompetenzen liegen. Emittiert eine Gesellschaft solche Mehrstimmrechtsaktien, verfügt sie nach Art. 2 lit. c Mehrstimmrechtsaktien-RL-E über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur.

Überdies legt Art. 2 lit. f Mehrstimmrechtsaktien-RL-E fest, dass unter gewichtetem Stimmverhältnis das Verhältnis der mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Stimmen zu den Stimmen, die mit den „regulären“ Aktien verbunden sind, zu verstehen ist (lit. f). Ansonsten erschöpft sich der Katalog des Art. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E in Verweisungen auf Definitionen der Gesellschaft (erfasst ist nach lit. a nur die AG, nicht aber die GmbH), des Handelsplatzes (lit. d) und des KMU-Wachstumsmarktes (lit. e) in anderen Regelwerken.

Was die Zulässigkeit und Ausgestaltung der Mehrstimmrechtsaktien angeht, verfolgt die EU-Kommission das Konzept der Mindestharmonisierung: Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, Regelungen über die Zulässigkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen beizubehalten und/oder neu einzuführen (zur Verbreitung der Mehrstimmrechtsaktie in der EU Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 16; zur Ausgestaltung s. Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277). Zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soll Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E beitragen, der eine Pflicht zur Gestattung der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert:

  • Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt den Mitgliedstaaten vor, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen durch Unternehmen zu gestatten, deren Aktien nicht zum Handel an einem Handelsplatz zugelassen sind und die eine Zulassung von Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt (s. § 76 WpHG) in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten beantragen wollen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E untersagt, die Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt mit der Begründung zu verweigern, dass ein Unternehmen über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur verfügt.
  • Den Unternehmen soll nach Art. 4 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit offenstehen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen rechtzeitig vor der Beantragung der Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einzuführen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 4 Abs. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E gestattet, die Ausübung der mit den Mehrstimmrechtsaktien verbundenen erweiterten Stimmrechte an die tatsächliche Zulassung der Aktien zu knüpfen.

Mehrstimmrechtsaktie als Instrument der Machtsicherung

Die Ausgestaltung des Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E und die Erwägungsgründe machen deutlich, dass die EU-Kommission die Mehrstimmrechtsaktie nicht nur als eine gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption, sondern als ein Instrument begreift, das die Attraktivität des Kapitalmarkts für kleine und mittlere Unternehmen steigern soll. Die wirtschaftlichen Eigentümer solcher Unternehmer – häufig dürfte es sich um Start-ups oder Familiengesellschaften handeln – sollen die Möglichkeit haben, den öffentlichen Kapitalmarkt zu betreten, ohne dabei das Risiko einzugehen, die Macht in der Hauptversammlung zu verlieren; die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sollen also der Machterhaltung und -sicherung dienen.

Ob sich die Geldgeber auf solche Machtverhältnisse einlassen und tatsächlich in die Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen investieren, steht auf einem anderen Blatt (zur Skepsis der Investoren und Stimmrechtsberater im angelsächsischen Rechtsraum Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen; zu den Erwartungen des Kapitalmarkts ferner Denninger, DB 2022, 2329, 2334).

Aktionärsschutz durch Verfahrensrecht

Im Hinblick auf die Machtungleichgewichte, die mit Mehrstimmrechtsaktien einhergehen, überrascht es nicht, dass die EU-Kommission dem Schutz der Aktionäre, die „reguläre“ Aktien halten, Sorge tragen will (vgl. Erwägungsgrund 10 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E; generell zum Minderheitenschutz Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 32 ff.; vgl. ferner Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277 f.). Dabei ist zum einen zwischen zwei Anlässen zu differenzieren, aus denen der Aktionärsschutz geboten sein kann: erstens, wenn ein Unternehmen eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur einführt, und zweitens, wenn die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien diese nutzen, um einen Beschluss zu fassen. Zum anderen kommen unterschiedliche Schutzinstrumente in Betracht, und zwar Verfahrensregelungen einerseits, materiell-rechtliche Regelungen andererseits.

Blickt man auf das Richtlinienkonzept, soll der Aktionärsschutz in erster Linie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen im Zusammenhang mit der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sichergestellt werden:

  • Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt vor, dass der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer qualifizierten Mehrheit bedarf; in Deutschland handelt es sich um die ¾-Kapitalmehrheit des § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.
  • Überdies müssen die Inhaber der Aktien besonderer Gattungen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit haben, einen Sonderbeschluss zu fassen, soweit ihre Rechte durch die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien betroffen sind (vgl. dazu §§ 138, 179 Abs. 3 AktG und Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 37).
  • Ferner muss das Stimmgewicht der Mehrstimmrechtsaktien nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E der Höhe nach begrenzt werden (hierzu generell Denninger, DB 2022, 2329, 2335).
  • Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sieht eine Öffnungsklausel für weitere nationalen Schutzmaßnahmen zugunsten der Aktionäre und der Gesellschaft vor. Die in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E genannten Bestimmungen – zum einen Verfallsklauseln, zum anderen Auflösungsklauseln – haben wie Art. 5 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einen eher verfahrensrechtlichen Charakter.

Aktionärsschutz durch materielles Recht

Ein Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen ist im Richtlinienentwurf zwar nicht vorgesehen, indes dürfte die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E den Mitgliedstaaten erlauben, die Minderheit durch inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und der Ausübung der Mehrstimmrechte zu schützen. Dafür spricht auch Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E, der das Ermessen der Mitgliedstaaten betont.

Im Lichte von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E dürfte in Deutschland eine Diskussion darüber entflammen, ob ein Beschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer sachlichen Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Kali+Salz-Rechtsprechung bedarf (BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40). Die Antwort ist kurz und einfach: nein. Es ist absehbar, dass die Erforderlichkeit der sachlichen Rechtfertigung mit dem Standardargument abgelehnt wird, die gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen trage den sachlichen Grund in sich (so der Sache nach bereits für die Einführung der Höchststimmrechte BGH v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, BGHZ 70, 117).

Sollte die Diskussion den BGH erreichen, wäre es ein willkommener Anlass, das Konzept der materiellen Beschlusskontrolle generell zu überdenken, sich dabei vom Grundsatz sachlicher Rechtfertigung – der bei Lichte besehen nur für die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung eine Rolle spielt, in diesem Kontext aber wegen der Möglichkeit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle obsolet ist – zu verabschieden und auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht als das maßgebliche Schutzinstrument zu verweisen. Freilich wird ein Treuepflichtverstoß bei Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen tendenziell fernliegen.

Eine Treuepflichtverletzung dürfte hingegen eher in Betracht kommen, wenn sich die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen der Stimmrechtsausübung hinsichtlich anderer Beschlussgegenstände allzu opportunistisch verhalten und die Interessen der Minderheitsaktionäre missachten. Wer wegen der Mehrstimmrechtsaktienstruktur über eine besondere Machtposition verfügt, muss auf die beweglichen Schranken der Stimmrechtsmacht achten. Anderenfalls kann der auf Mehrstimmen beruhende Hauptversammlungsbeschluss wegen eines Inhaltsfehlers nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein. Überdies kommt es in Betracht, den Aktionärsschutz mit Hilfe konzernrechtlicher Instrumente sicherzustellen (s. nur Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 40). Es dürfte im Lichte des Erwägungsgrundes 12 und des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E unbedenklich sein, auf diese tradierten Grundsätze des deutschen Aktienrechts zurückzugreifen, auch wenn sich die Richtlinie dazu nicht explizit äußert.

Mehrstimmrechtsaktie im ESG-Zeitalter

Während der Richtlinienentwurf den Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen weitgehend vernachlässigt, wird in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d deutlich, dass der Vorschlag im ESG-Zeitalter entwickelt wurde. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E enthält nämlich eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (vgl. ferner Erwägungsgrund 11 Satz 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Ausübung der Mehrstimmrechte mit einer solchen Zielrichtung unzulässig ist.

Gegen eine solche Vorschrift ist im Ausgangspunkt nichts einzuwenden, die mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einhergehende Übergewichtung der Umwelt- und Sozialaspekte zulasten der Governance-Probleme – die im Zusammenhang mit Mehrstimmrechtsaktien auf der Hand liegen (s. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Nicolussi, AG 2022, 753) – ist aber doch nicht unbedenklich. Es ist verblüffend, dass der europäische Richtliniengeber der Verfolgung exogener Ziele mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Lösung herkömmlicher aktienrechtlicher Regelungsaufgaben. Gleichwohl dürfte dieser Fokus jedenfalls in Deutschland im Ergebnis hinnehmbar sein, wenn man den Aktionärsschutz qua Treuepflicht und Konzernrecht nicht aus den Augen verliert.

Zugleich könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E eine Diskussion um das Zusammenspiel zwischen dem Menschenrechts- und Umweltschutz und der materiellen Beschlusskontrolle auslösen. Aus der Perspektive der deutschen Beschlussdogmatik könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als eine Regelung gedeutet werden, die es erlaubt, die Hauptversammlung dem interessenpluralistischen Zielkonzept zu unterwerfen. Ein solches Verständnis führte dazu, dass ein Anfechtungsgrund wegen eines Inhaltsfehlers angenommen werden könnte, wenn die Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung Umwelt- und Sozialbelange missachtet – und zwar unabhängig davon, ob der fragliche Beschluss durch Mehrstimmrechtsaktien getragen wird oder in Gesellschaften ohne Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gefasst wird. Dieser Ansatz ist bei unbefangener Betrachtung kontraintuitiv, weil er die shareholder dazu zwingt, im Rahmen der Beschlussfassung die Interessen der stakeholder in ihre Abwägung einzubeziehen. Berücksichtigt man indes die aktuelle Debatte zum „Say on ESG“ und die ESG-bezogenen Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich des Unternehmens- und Wirtschaftsrechts, erscheint die Idee der Hauptversammlung als Agenten der Menschenrechte und der Umwelt nicht gänzlich unplausibel.

Anlegerschutz durch Transparenzpflichten

Dem kapitalmarktrechtlichen Charakter des Richtlinienentwurfs trägt dessen Art. 6 Rechnung, der – im Einklang mit dem Informationsmodell des europäischen Kapitalmarktrechts – Transparenzpflichten für Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert. Solche Unternehmen müssen gem. Art. 6 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E im Wachstumsemissionsdokument i.S.d. Art. 15a EU-ProspektVO-E oder im Zulassungsdokument i.S.d. Art. 33 Abs. 3 lit. c MiFID II sowie im Jahresfinanzbericht eine Reihe von Umständen offenlegen. Hierzu zählen die Kapitalstruktur des Unternehmens (lit. a), die Beschränkungen hinsichtlich der Wertpapierübertragung (lit. b), die Sonderrechte und ihre Inhaber (lit. c), die Stimmbindungen (lit. d) und die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien (lit. e sowie Art. 6 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Die Erfüllung der Transparenzpflichten soll den Anlegern einen Einblick in die Unternehmensstrukturen ermöglichen und damit eine Grundlage für eine informierte Investitionsentscheidung schaffen (vgl. auch Erwägungsgrund 13 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Umsetzungsoptionen des deutschen Gesetzgebers

Wird die Mehrstimmrechte-RL wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen, ist § 12 Abs. 2 AktG in seiner aktuellen Fassung hinfällig. Gleichwohl stehen dem deutschen Gesetzgeber mehrere Umsetzungsoptionen offen (generell zur Umsetzung Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 23 ff.). Namentlich wird er im Rahmen der Umsetzung die Frage beantworten müssen, ob er die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in enger Anlehnung an Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nur für Unternehmen öffnet, deren Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt zugelassen sind, oder ob er darüber hinaus – und im Einklang mit Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E – das Aktienrecht weitergehend dereguliert und das Verbot der Mehrstimmrechte generell aufhebt. Die Aussagen im Eckpunktepapier für das Zukunftsfinanzierungsgesetz deuten darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber die Mehrstimmrechte in erster Linie als ein Instrument für Wachstumsunternehmen und Start-ups ansieht. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn das Verbot der Mehrstimmrechte nur insoweit entfällt, als Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E es erfordert.

Zwingend ist eine solche minimalinvasive Umsetzung freilich nicht. Da Mehrstimmrechte in Publikumsgesellschaften größeren Bedenken ausgesetzt sind als in geschlossenen Gesellschaften und die Zulässigkeit der Mehrstimmrechte in der GmbH konsentiert ist, spricht viel dafür, von der Gestaltungsoption des Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E jedenfalls für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften Gebrauch zu machen (dafür etwa Habersack, AG 2009, 1, 10 f.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1898 f.).

Für börsennotierte Unternehmen, deren Aktien nicht nur an einem KMU-Wachstumsmarkt gehandelt werden und die deshalb nicht von Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E erfasst sind, dürfte ein Abschied von § 12 Abs. 2 AktG schwieriger zu rechtfertigen sein (zu den Bedenken wegen der Ausschaltung des externen Effizienzdrucks am Kapitalmarkt Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Ein solcher Schritt wäre jedenfalls nur dann rechtspolitisch haltbar, wenn der Gesetzgeber für ein mit Art. 5 und 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E vergleichbares Schutzniveau sorgt. Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftsrechtlichen Schutzvorkehrungen und kapitalmarktrechtlichen Transparenzpflichten würde es erlauben, die Entscheidung über die Investition in ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur dem privatautonomen Urteil der Kapitalmarktakteure zu überlassen, statt diese zu bevormunden.

Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Stimmrechtsberater den Mehrstimmrechten kritisch gegenüberstehen und ihre Skepsis zum einen den Investoren bei der Entscheidungsfindung behilflich sein könnte, zum anderen einen externen Druck auf Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und die bevorzugten Aktionäre erzeugen würde (zur Position der Stimmrechtsberater vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen).