Anwaltsblog 26/2024: Gestufte Fristenkontrolle vor Büroschluss notwendig!

Mit den Anforderungen an eine allabendlich durchzuführende Fristenkontrolle hatte sich erneut der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 – IV ZB 30/23):

 

Gegen ein am 2. Februar 2023 zugestelltes Urteil hat  der Kläger am 3. März 2023 Berufung eingelegt. Mit einem am 6. April 2023 beim OLG eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Im Büro seiner Prozessbevollmächtigten erfolgten Aktenführung und Fristenkontrolle ausschließlich elektronisch mittels eines eingeführten Rechtsanwaltsprogramms. Im Falle eines eingehenden Urteils erster Instanz notiere die zuständige Mitarbeiterin die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist nebst entsprechenden Vorfristen im elektronischen Fristenkalender. Diese Tätigkeit führten ausschließlich geprüfte Rechtsanwaltsfachangestellte aus, deren Arbeit regelmäßig stichprobenartig kontrolliert werde. Die dem jeweiligen Rechtsanwalt zugeordnete Rechtsanwaltsfachangestellte habe zudem die Aufgabe, täglich vor Büro- beziehungsweise Dienstschluss dessen Kalender auf offene Fristen zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf die offene Frist hinzuweisen. Das vorliegende Verfahren sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zum Ablauf der Vorfrist vorgelegt worden, der die Eintragung der Berufungsbegründungsfrist geprüft habe. Eine Bearbeitung sei zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich gewesen. Am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist habe der Rechtsanwalt sich auf die Büroorganisation verlassen und die Fristen nicht selbst überprüft. Die Frist sei versäumt worden, weil ihn die zuständige Mitarbeiterin nicht auf die offene Berufungsbegründungsfrist hingewiesen habe. Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Gemäß § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert gewesen ist, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Nach § 85 Abs. 2 ZPO ist der Partei ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn nach den seitens der Partei gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Fristversäumnis von der Partei oder ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet gewesen ist. So liegt es hier. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des klägerischen Prozessbevollmächtigten beruht. Der Kläger hat nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten über eine den Anforderungen genügende Ausgangskontrolle verfügt.

Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb laufender Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen. Zu diesem Zweck hat der Rechtsanwalt seine Ausgangskontrolle so zu organisieren, dass sie einen gestuften Schutz gegen Fristversäumungen bietet. Im Rahmen dieser gestuften Ausgangskontrolle hat der Rechtsanwalt anzuordnen, dass die Erledigung von Sachen, bei denen eine Frist zu wahren ist, am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Ausgangskontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob insoweit eine Übereinstimmung mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen besteht. Der Abgleich mit dem Fristenkalender dient unter anderem der Überprüfung, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben.

Gemessen daran hat der Kläger nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass im Büro seiner Prozessbevollmächtigten hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen worden sind, um eine effektive Ausgangskontrolle zu gewährleisten. Nach seinem Vorbringen hatte die Kanzleimitarbeiterin im Rahmen der Fristenkontrolle täglich vor Büroschluss allein den Fristenkalender zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf offene Fristen hinzuweisen. Das genügt für eine ordnungsgemäße abendliche Ausgangskontrolle nicht. Die Kanzleiangestellte hätte auch bei ordnungsgemäßem Befolgen der Anordnung nicht nochmals, selbständig und abschließend kontrolliert, ob die fristgebundene Sache tatsächlich bearbeitet und ein fristwahrender Schriftsatz abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden ist. Die Anordnung einer solchen abendlichen Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle ist den Darlegungen des Klägers nicht zu entnehmen.Die fehlende Anordnung einer Ausgangskontrolle war für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch ursächlich. Im Rahmen einer nochmaligen, selbständigen und abschließenden Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle wäre die offene Berufungsbegründungsfrist im Terminkalender des sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten aufgefallen. Darüber hinaus hätte die Ausgangskontrolle ergeben, dass die Sache noch nicht bearbeitet und die Berufungsbegründung oder ein Fristverlängerungsantrag weder abgesandt noch versandfertig gemacht worden war. Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten der Beteiligten hätte in diesem Fall jedenfalls rechtzeitig ein Fristverlängerungsantrag an das Berufungsgericht übersandt werden können.

 

Fazit: Zu der einen gestuften Schutz gegen Fristversäumnisse sicherstellenden Organisation der Ausgangskontrolle gehört die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristwahrenden Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Kontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob diese mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen übereinstimmen. Der Sinn und Zweck der allabendlichen Ausgangskontrolle liegt auch darin festzustellen, ob möglicherweise in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung noch aussteht. Daher ist ein Fristenkalender so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2019 – VIII ZB 103/18 –, MDR 2020, 239).

Anwaltsblog 25/2024: Müssen Anwaltsschriftsätze das Aktenzeichen des Gerichts enthalten?

Erneut hatte sich der BGH mit der Frage befassen, ob fristgemäß einzureichende Anwaltsschriftsätze das (korrekte) Aktenzeichen des Gerichts aufweisen müssen (BGH, Beschluss vom 29.05.2024 – IV ZB 14/22):

Der Kläger hat gegen ein Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren wurde beim Oberlandesgericht unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführt. Auf Antrag des Klägers, der das Aktenzeichen 20 U 231/21 sowie das Rubrum des unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführten Berufungsverfahrens trug, ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum 25. Februar 2022 verlängert worden. Am 21. Februar 2022 ist über das besondere elektronische Anwaltspostfach eine Berufungsbegründung eingereicht worden, die wiederum das Aktenzeichen 20 U 231/21 sowie das Rubrum des unter dem Aktenzeichen 20 U 321/21 geführten Berufungsverfahrens trug und in die elektronische Akte des Verfahrens 20 U 231/21 eingeordnet wurde. Nach einem Hinweis des OLG, dass mangels Eingangs einer Berufungsbegründung die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig beabsichtigt sei, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 14. März 2022, der erneut unter dem Aktenzeichen 20 U 231/21 eingereicht und in die Akte dieses Verfahrens eingeordnet wurde, auf die Übermittlung der Berufungsbegründung am 21. Februar 2022 hingewiesen. Das Berufungsgericht hat sodann die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Das Berufungsgericht hätte das Rechtsmittel nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen dürfen. Der am 21. Februar 2022 eingegangene Schriftsatz hat die Frist gewahrt. Die Angabe des falschen Aktenzeichens steht für sich genommen dem fristgerechten Eingang der Berufungsbegründung nicht entgegen. Das Gesetz schreibt in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO – die gemäß § 520 Abs. 5 ZPO auch auf die Berufungsbegründung anzuwenden sind – die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Für den Eingang der Berufungsbegründung ist es dabei unerheblich, ob der Schriftsatz anhand des Aktenzeichens bereits innerhalb der Berufungsbegründungsfrist in die für diese Sache angelegte Akte eingeordnet wurde. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt.

Der Berufungsbegründung muss allerdings zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren sie eingereicht werden soll. Unrichtige Angaben schaden nur dann nicht, wenn auf Grund sonstiger, innerhalb der Berufungsbegründungsfrist erkennbarer Umstände für Gericht und Prozessgegner zweifelsfrei feststeht, welchem Rechtsmittelverfahren die Begründung zuzuordnen ist. Wurde durch die Angabe eines falschen Aktenzeichens eine Unsicherheit darüber herbeigeführt, in welcher Sache die Rechtsmittelbegründung eingereicht wurde, ist diese nach dem Inhalt der schriftsätzlichen Ausführungen des Rechtsanwalts dem richtigen Verfahren zuzuordnen. An diesen – auch für die elektronische Übermittlung geltenden – Grundsätzen gemessen war die Berufungsbegründung vom 21. Februar 2022 – auch wenn sie das falsche Aktenzeichen trägt – ohne Zweifel dem richtigen Berufungsverfahren zuzuordnen. Denn der Schriftsatz enthält das richtige Rubrum des Berufungsverfahrens sowie im Eingangssatz und im Antrag eine ausdrückliche Bezugnahme auf die mit der Berufung angefochtene – nach Gericht, Entscheidungsdatum und erstinstanzlichem Aktenzeichen zutreffend bezeichnete – Entscheidung.

Fazit: Dem fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes bei Gericht steht es nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz irrtümlich mit einem unzutreffenden Aktenzeichen versehen ist. Allein entscheidend ist, dass er vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt ist (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 – MDR 2024, 592).

Anmerkung: Die Verwerfung seiner Berufung als unzulässig hat den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verletzt. Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht (Rechtsbeschwerde). Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat. Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Der Gesetzgeber sollte de lege ferenda dieses missliche Rechtsdefizit beenden, um eine schnelle und kostengünstige Reparatur der sog. Pannenfälle (G. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 8 mwN.) zu ermöglichen.

Anwaltsblog 24/2024: Versäumung einer Rechtsmittelfrist bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung

War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft ist (§ 233 Satz 2 ZPO). Mit dem beschränkten Anwendungsbereich dieser Vermutung im Anwaltsprozess hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 28. März 2024 – AnwZ (Brfg) 3/24):

 

Der Kläger, der im Jahr 1999 auf seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet hatte, beantragte 2022 seine Wiederzulassung. Die Anwaltskammer lehnte den Antrag ab. Die daraufhin mit dem Ziel der Wiederzulassung erhobene Klage hat der Bayerische Anwaltsgerichtshof mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 11. Dezember 2023 zugestellten Urteil abgewiesen. Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils lautet auszugsweise: „Die Beteiligten können die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils […] beantragen […]. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.“ Mit am 8. Januar 2024 per Boten beim Bayerischen Anwaltsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger die Zulassung der Berufung gegen das Urteil beantragt.

Der BGH als Berufungsgericht verwirft den Antrag als unzulässig, weil der Kläger ihn nicht fristgemäß formgerecht gestellt hat. Nach § 112e Satz 2 BRAO iVm. § 125 Abs. 1 Satz 1, § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen – wie der Antrag auf Zulassung der Berufung -, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Dem genügte die Einreichung per Boten am 8. Januar 2024 nicht. Die Frist zur Beantragung der Zulassung der Berufung ist durch die Zustellung des vollständigen Urteils in Gang gesetzt worden. Dem Fristanlauf stand insbesondere nicht die vom Kläger gerügte Passage der Rechtsmittelbelehrung entgegen, wonach dem Zulassungsantrag vier Abschriften beigefügt werden sollen. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist u.a. dann unrichtig, wenn sie einen nicht erforderlichen Zusatz enthält, der fehlerhaft oder irreführend ist und dadurch generell geeignet ist, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen und materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Der vom Kläger gerügte Zusatz zum notwendigen Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung ist im Grundsatz dem § 81 Abs. 2 VwGO entnommen, nach dem der Klage und allen Schriftsätzen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden sollen. Der Zusatz ist zwar insofern unrichtig, als die Vorschrift im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument nach § 55a Abs. 5 Satz 3 VwGO keine Anwendung findet. Diese Unrichtigkeit ist aber ihrer Art nach nicht geeignet, die Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung zu erschweren. Der beanstandete Zusatz gibt die Beifügung von Abschriften nicht als Zwang aus, dessen Nichtbeachtung auf die formelle Wirksamkeit des Zulassungsantrags von Einfluss ist, sondern lediglich als dringende Bitte. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, wie der Zusatz irrige Vorstellungen über die formellen Voraussetzungen eines Antrags auf Zulassung der Berufung hervorrufen und dadurch die Rechtsmitteleinlegung erschweren könnte.

Dem Kläger war auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er nicht ohne Verschulden an der formwirksamen Einlegung des Zulassungsantrags gehindert war. Verschuldet ist eine Fristversäumung, wenn der Beteiligte nicht die Sorgfalt hat walten lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. Dabei steht das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden des Beteiligten gleich. Nach diesen Maßstäben hat der Kläger die Fristversäumung verschuldet. Der Prozessvertreter des Klägers hätte wissen können und müssen, dass der Antrag auf Zulassung der Berufung als elektronisches Dokument einzureichen ist. Die vom Kläger erfolglos gerügte Passage der Rechtsmittelbelehrung begründete bereits keinen Anlass, von der formgerechten Einreichung des Antrags auf Zulassung der Berufung als elektronisches Dokument abzusehen.

Soweit sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers außerdem darauf beruft, die Geschäftsstelle des Anwaltsgerichtshofs habe auf seine telefonische Rückfrage hin mitgeteilt, der Antrag könne dort abgegeben werden und seiner Bitte, den Empfang zu quittieren, könne ebenfalls nachgekommen werden, wären diese Umstände schon deshalb nicht geeignet, eine unrichtige Vorstellung über die an die Form der Rechtsmitteleinlegung zu stellenden Anforderungen hervorzurufen, weil mit dem behaupteten bloßen Einverständnis mit der vom Prozessvertreter gewünschten Form der Schriftsatzeinreichung keine Aussage über etwaige Formerfordernisse getroffen wurde. Selbst wenn man das Einverständnis der Geschäftsstelle des Anwaltsgerichtshofs mit der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers gewünschten Vorgehensweise bei der Schriftsatzeinreichung als Auskunft verstehen wollte, dass diese Form der Einreichung keinen Bedenken begegne, wäre diese Auskunft erkennbar fehlerhaft. Denn sie stünde in offenkundigem Widerspruch zur Gesetzeslage. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hätte sich deshalb nicht darauf verlassen dürfen.

 

Fazit: Nach § 233 Satz 2 ZPO wird ein Fehlen des Verschuldens zwar vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist. Dabei darf auch ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf die Richtigkeit einer durch das Gericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen. Gleichwohl muss von ihm erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart kennt. Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kann er deshalb nicht uneingeschränkt, sondern nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber zu einem nachvollziehbaren und daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwalts geführt hat. Die Fristversäumung ist mithin auch in den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (BGH, Beschluss vom 25. November 2020 – XII ZB 256/20 –, MDR 2021, 252).

Anwaltsblog 23/2024: Voraussetzungen wirksamer Einreichung elektronischer Gerichtsschriftsätze durch Rechtsanwälte

Zum wiederholten Male innerhalb kurzer Zeit musste sich der BGH mit den sich aus § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO ergebenden Anforderungen an die Übermittlung eines elektronischen Dokuments befassen (BGH, Beschluss vom 7. Mai 2024 – VI ZB 22/23):

Ein die Klage teilweise abweisendes Urteil des Landgerichts ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, RA L., am 8. November 2022 zugestellt worden. Am 24. November 2022 ist aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) des RA L. Berufung beim OLG eingelegt und diese mit am 14. Dezember 2022 wiederum vom beA des RA L. aus versandtem Schriftsatz begründet worden. Beide Schriftsätze waren nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, sondern lediglich mit einer einfachen Signatur (maschinenschriftliche Namensangabe und grafische Wiedergabe der handschriftlichen Unterschrift) von RAin W. versehen, die nach den Angaben im Briefkopf angestellte Rechtsanwältin in der Kanzlei des RA L. ist. Das OLG hat die Berufung als unzulässig verworfen. Die innerhalb der Berufungsfrist elektronisch eingegangene Berufung sei nicht formwirksam eingelegt, da sie nicht den Anforderungen des § 130a ZPO entsprochen habe. Denn die Berufungsschrift sei weder qualifiziert elektronisch signiert noch von dem elektronischen Anwaltspostfach der verantwortenden Person versandt worden. Das gelte auch für die Berufungsbegründung vom 14. Dezember 2022.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die elektronische Einreichung der Berufungsschrift am 24. November 2022 nicht den Anforderungen des § 130a ZPO entsprach, so dass die Klägerin die am 8. Dezember 2022 abgelaufene einmonatige Berufungsfrist versäumt hat. Gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Die Bestimmung stellt damit zwei Wege zur rechtswirksamen Übermittlung von elektronischen Dokumenten zur Verfügung. Zum einen kann der Rechtsanwalt den Schriftsatz mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Zum anderen kann er auch nur einfach signieren, muss den Schriftsatz aber sodann selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 4 ZPO, etwa über ein beA nach den §§ 31a und 31b BRAO (§ 130 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 ZPO), einreichen. Die einfache Signatur hat in dem zuletzt genannten Fall die Funktion zu dokumentieren, dass die durch den sicheren Übermittlungsweg als Absender ausgewiesene Person mit der die Verantwortung für das elektronische Dokument übernehmenden Person identisch ist; ist diese Identität nicht feststellbar, ist das Dokument nicht wirksam eingereicht. Ein elektronisches Dokument, das – wie hier die Berufungsschrift – aus einem persönlich zugeordnetem beA (vgl. § 31a BRAO) versandt wird und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, ist nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt.

Nach diesen Grundsätzen ist die elektronisch übermittelte Berufungsschrift nicht formgerecht eingereicht worden. RAin W. hat das Dokument nicht mit einer qualifizierten, sondern nur mit einer einfachen elektronischen Signatur versehen. Dies genügte trotz der Übermittlung des Dokuments über ein beA den Anforderungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO nicht, weil als Absender des Dokuments der Inhaber des beA – RA L. – und nicht die ausweislich der einfachen Signatur das Dokument verantwortende Person – RAin W. – ausgewiesen war. Allein aufgrund der Tatsache, dass das Dokument über das beA von RA L. übermittelt wurde, kann nach der Regelungssystematik des § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO nicht davon ausgegangen werden, dass er das Dokument nicht nur übermitteln, sondern auch die Verantwortung für seinen Inhalt übernehmen wollte, auch wenn er zur Vertretung der Klägerin berechtigt war. Von der auch bei einfacher Signatur durch einen anderen Rechtsanwalt bestehenden Möglichkeit, die Übernahme der Verantwortung für den Inhalt des über sein beA übermittelten elektronischen Dokuments durch Anbringung seiner eigenen elektronischen Signatur zum Ausdruck zu bringen, hat RA L. keinen Gebrauch gemacht.

Entgegen der Ansicht der Klägerin kann auf die Erfüllung der nach § 130a ZPO bestehenden Anforderungen an die Übermittlung eines elektronischen Dokuments nicht deshalb verzichtet werden, weil sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschriftsleistung vergleichbare Gewähr für die Identifizierung des Urhebers der Verfahrenshandlung und dessen unbedingten Willen, die volle Verantwortung für den Inhalt des Dokuments zu übernehmen und diesen bei Gericht einzureichen, ergeben würde. Entsprechende Umstände liegen hier nicht vor. Soweit die Klägerin darauf verweist, aus dem bisherigen Prozessverlauf sei klar zu erkennen, dass RAin W. die Verantwortung für die Berufungsschrift übernehmen wollte, mag RAin W. zwar durchgehend als alleinige Sachbearbeiterin in Erscheinung getreten sein. Damit steht hinsichtlich der Berufungsschrift angesichts deren Übermittlung über das beA von RA L. aber nicht zweifelsfrei fest, dass die Einreichung dieses Dokuments ihrem unbedingten Willen entsprach. Im Hinblick auf RA L. bietet der Umstand, dass er im Briefkopf der Berufungsschrift als Kanzleiinhaber und RAin W. als seine Angestellte ausgewiesen ist, keine der Unterschrift bzw. der sie gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO ersetzenden elektronischen Signatur vergleichbare Gewähr dafür, dass er die volle Verantwortung für den Inhalt des Dokuments übernehmen wollte.

 

Fazit: Nur wenn ein Mitglied einer mandatierten Anwaltssozietät einen Schriftsatz, den ein anderes Mitglied der Anwaltssozietät verfasst und einfach elektronisch signiert hat, in qualifiziert elektronischer Form signiert und diesen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht einreicht, ist dies wirksam. Eines klarstellenden Zusatzes („für“) bei der einfachen Signatur des Schriftsatzverfassers bedarf es nicht (BGH Beschl. v. 28.2.2024 – IX ZB 30/23, MDR 2024, 590).

Anwaltsblog 22/2024: Beweis der Richtigkeit eines Empfangsbekenntnisses nur durch Vorlage des beA-Nachrichtenjournals?

Dass das Gericht die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals eines Parteivertreters anordnen darf, wenn Zweifel an der Richtigkeit des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums bestehen, hat das OLG München bereits entschieden (OLG München, Beschluss v. 26.04.2024 – 23 U 8369/21). Nunmehr hat das OLG die Verwerfung der Berufung wegen Nichtwahrung der Berufungsfrist angekündigt (OLG München, Beschluss v. 14.05.2024 – 23 U 8369/21):

 

Nach erneuter vorläufiger Bewertung des aktuellen Verfahrensstandes erwägt der Senat, die Berufung des Beklagten als unzulässig zu verwerfen, weil die Berufungsfrist nicht gewahrt wurde. Die Berufung ist am 22.11.2021 (Montag) beim OLG München eingegangen. Der Senat geht derzeit davon aus, dass die Berufungsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war, weil dem Beklagtenvertreter das Landgerichtsurteil schon deutlich früher, jedenfalls vor dem 20.10.2021 zugestellt wurde. Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (EB) ist gemäß § 174 Abs. 1 ZPO aF (heute: § 173 ZPO) dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen. Dabei beweist das EB grundsätzlich das in ihm angegebene Zustelldatum. Der Gegenbeweis ist zwar zulässig, setzt aber voraus, dass die Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des EB richtig sein können; die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit genügt nicht. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums für sich genommen noch nicht. Auch das Datum des Eingangs der elektronischen Nachricht ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig, da dies nicht mit dem Zustelldatum gleichgesetzt werden kann: Für letzteres bedarf es darüber hinausgehend der Kenntniserlangung und empfangsbereiten Entgegennahme seitens des Rechtsanwalts. Gleichzeitig dürfen indes an den Beweis der Unrichtigkeit des EB aufgrund der Beweisnot der beweisführenden Partei keine überspannten Anforderungen gestellt werden.

Nach diesen Grundsätzen könnte hier davon auszugehen sein, dass entgegen dem in dem EB des Beklagtenvertreters vermerkten Zustelldatum die Zustellung des Landgerichtsurteils an ihn bereits deutlich vor dem 22.10.2021 erfolgt ist. Hierfür sprechen die folgenden Aspekte: Der Beklagtenvertreter hat das beA-Nachrichtenjournal zu der Übersendung des Landgerichtsurteils nicht vorgelegt, ohne dies plausibel zu erläutern. Insoweit ist § 427 ZPO entsprechend zu beachten. Der Senat hatte das beA-Nachrichtenjournal angefordert, das ausweist, wann die Nachricht des Landgerichts eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat.. In diesem Journal ist danach u.a. gespeichert, wann eine empfangene Nachricht durch einen Benutzer erstmals geöffnet wurde („Gelesen von“-Vermerk). Das Handbuch ist im Internet abrufbar (https://handbuch.bea-brak.de) und wird damit vom Senat als offenkundig behandelt (§ 291 ZPO).

Das von dem Beklagtenvertreter vorgelegte Anlagekonvolut mit Dateiauszügen ist kein Ausdruck dieses beA-Nachrichtenjournals mit der Angabe, wann welcher Benutzer die Nachricht des Landgerichts erstmals geöffnet hat. Letztere Information lässt sich dem Konvolut, das lediglich dokumentiert, wann die Nachricht des Landgerichts vom System des Beklagtenvertreters empfangen wurde, nicht entnehmen. Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erläutert, wieso er dieses Nachrichtenjournal mit der geforderten Angabe auf die Anforderung des Gerichts hin nicht übersandt hat, sondern stattdessen lediglich einen sonstigen Dateiauszug. Das Journal ist für den Postfachinhaber, also den Beklagtenvertreter jederzeit ohne weiteres abrufbar.

Des Weiteren bestätigt der vom Beklagtenvertreter vorgelegte Dateiauszug, dass das am 07.10.2021 an den Beklagtenvertreter per beA übersandte Landgerichtsurteil am 07.10.2021 um 8:34 Uhr zugegangen ist und in der gleichen Minute noch empfangen wurde. Ausweislich des beA-Handbuchs (S. 130) bedeutet dabei Zugang, dass die Nachricht erfolgreich bei dem Intermediär des Empfängers abgelegt wurde. Empfang bedeutet weltergehend, dass das beA-System des Empfängers, hier also des Beklagtenvertreters, die Nachricht erhalten hat und ab da die Nachricht in seinem beA-Postfach sichtbar wird (beA-Handbuch S. 130). Es ist derzeit nicht erkennbar, wieso gleichwohl zwischen dieser Sichtbarkeit der Nachricht im Postfach des Beklagtenvertreters ab 07.10.2021, 8.34 Uhr und dem im EB angegebenen Zustelltag (22.10.2021) mehr als zwei Wochen liegen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2. Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das EB erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vorn 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat. nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war.

 

Anmerkung: Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23 –, MDR 2024, 519).Die Argumentation des OLG München kann daher nicht überzeugen. Denn dem Rechtsanwalt, dem die Angabe eines (zu späten) Zustelldatums vorgeworfen wird, verbleibt die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, das übermittelte Dokument erst zu diesem Datum als zugestellt entgegengenommen zu haben. Der Verstoß gegen Berufspflichten ist zivilprozessrechtlich irrelevant (ausführlich zu der Problematik: Wagner/Ernst, Falsche oder verzögert abgegebene Empfangsbekenntnisse im elektronischen Rechtsverkehr, NJW 2021, 1564).

 

 

 

Anwaltsblog 21/2024: Verstoß gegen das berufsrechtliche Provisionsverbot bei der Vermittlung von Rechtsanwaltsmandaten durch Dritte auf einer Online-Plattform

Der BGH hatte zu entscheiden, nach welchen Kriterien eine unzulässige Vermittlung von Anwaltsverträgen im Internet von zulässigen Informations- und Werbeplattformen abzugrenzen ist (BGH, Urteil vom 18. April 2024 – IX ZR 89/23):

 

Die Klägerin betreibt ein Internetportal, über das sie Dienstleistungen für Betroffene anbietet, die einen Anhörungsbogen oder einen Bußgeldbescheid wegen eines Verkehrsrechtsverstoßes erhalten haben. Zur rechtlichen Überprüfung der erhobenen Vorwürfe und wegen der sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten arbeitete sie mit Partnerkanzleien zusammen, zu denen auch die Beklagte gehörte. Nachdem die Betroffenen bei der Klägerin die erforderlichen Unterlagen eingereicht hatten, einschließlich einer auf die jeweilige Kanzlei lautenden Vollmacht, schaltete die Klägerin diese ein. Die Partnerkanzleien übernahmen die rechtliche Betreuung der Betroffenen, aus der ihnen Vergütungsansprüche erwuchsen, die in vielen Fällen Rechtsschutzversicherer der Betroffenen deckten. Für ihre Leistungen stellte die Klägerin der Beklagten ausschließlich für Betroffene mit Rechtsschutzversicherung „Lizenzgebühren“ in Höhe von insgesamt 235.056,98 € in Rechnung. Sie ist der Ansicht, bei den geforderten Gebühren handele es sich nicht um ein Entgelt für die Vermittlung von Aufträgen iSd. § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO. Entgolten werde vielmehr pauschaliert die Nutzung der von der Klägerin entwickelten digitalen Infrastruktur durch die Partnerkanzleien.

Landgericht wie Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Die getroffene Vereinbarung verstoße gegen § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO. Sie habe in der entgeltlichen Vermittlung von Mandaten bestanden, weil der jeweilige Fall erst an die Beklagte weitergeleitet worden sei, nachdem der Betroffene die Vollmacht eingereicht habe, und weil die Vergütung an das konkrete Mandat angeknüpft habe. Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO sei die Nichtigkeit der Vereinbarung gemäß § 134 BGB (OLG Dresden, Urteil vom 6. April 2023 – 8 U 1883/22, MDR 2023, 1007).

Die Revision der Klägerin bleibt ohne Erfolg. Nach dem Vortrag der Klägerin besteht die zwischen den Parteien getroffene Einigung offenkundig in der entgeltlichen Vermittlung konkreter Mandate. Darin liegt ein Verstoß gegen § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO. Nach § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO ist die Abgabe und Entgegennahme eines Teils der Gebühren oder sonstiger Vorteile für die Vermittlung von Aufträgen, gleichviel ob im Verhältnis zu einem Rechtsanwalt oder Dritten gleich welcher Art unzulässig. Das daraus folgende Verbot richtet sich damit sowohl gegen den Rechtsanwalt, der einen Teil der Gebühren abgibt oder einen sonstigen Vorteil gewährt, als auch gegen den Rechtsanwalt oder Dritten, der den Teil der Gebühren oder den sonstigen Vorteil entgegennimmt. Der Begriff des sonstigen Vorteils ist vor dem Hintergrund des Verbotszwecks weit zu verstehen. Es soll vermieden werden, dass Rechtsanwälte in einen Wettbewerb um den Ankauf von Mandaten treten. Die Anwaltschaft ist kein Gewerbe, in dem Mandate „gekauft“ und „verkauft“ werden. Ein Rechtsanwalt, dem ein Mandat vermittelt wird, darf hierfür den Vermittler nicht belohnen. Allerdings bedarf es eines besonderen Bezugs des Vorteils zum vermittelten Auftrag. Das Verbot des § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO erfasst nur Provisionszahlungen für ein konkret vermitteltes Mandat. Die Vermittlung muss ursächlich für die Vorteilsgewährung sein. Die Tätigkeit der Klägerin für die Beklagte beschränkte sich nicht auf die Leistungen herkömmlicher Werbemedien, die von § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO nicht erfasst werden. Über ein Bereitstellen einer Plattform ging die Tätigkeit der Klägerin weit hinaus. Sie mündete zielgerichtet in der Vermittlung eines auf einen konkreten Verkehrsrechtsverstoß bezogenen Mandats. Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände lag darin zugleich der Auftrag an die Beklagte zur entgeltlichen Geschäftsbesorgung gemäß § 675 BGB. Dem vom Berufungsgericht angenommenen Verstoß gegen § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO steht nicht entgegen, dass der Betrieb des Internetportals auch weitere Tätigkeiten der Klägerin erforderlich gemacht haben mag und diese zum Teil auch der Beklagten zugutegekommen sein mögen. Entscheidend ist, für welche Tätigkeit die Beklagte vereinbarungsgemäß bezahlen sollte. Das war die Vermittlung konkreter Mandate. Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO ist die Nichtigkeit der behaupteten Vereinbarung gemäß § 134 BGB. § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO ist ein Verbotsgesetz im Sinne der Vorschrift.

Im Ergebnis mit Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass sich der Klageanspruch auch nicht nur teilweise aus den §§ 812 ff BGB ergibt. Übersehen hat das Berufungsgericht allerdings, dass bereits die Kondiktionssperre des § 817 Satz 2 BGB eingreift. Die Abwicklung nach Bereicherungsrecht soll nicht demjenigen, der eine gesetzwidrige Geschäftsbesorgung vornimmt, auf einem Umweg entgegen § 134 BGB doch eine Vergütung verschaffen. § 817 Satz 2 BGB beugt einer Umgehung der Nichtigkeitsanordnung des § 134 BGB vor. Es handelt sich um die vom Gesetz ausdrücklich vorgesehene Rechtsfolge, die zudem geeignet ist, die Zielsetzung des Verbots des § 49b Abs. 3 Satz 1 BRAO zu fördern.

 

Fazit: Vermittelt ein Dritter einem Rechtsanwalt den Auftrag eines Mandanten zur entgeltlichen Geschäftsbesorgung und lässt er sich für die Leistung bezahlen, ist die dem zugrunde liegende Vereinbarung unwirksam.

Anwaltsblog 20/2024: Anforderungen an eine wirksame Mängelanzeige nach § 377 Abs. 1 HGB

Wieder einmal hatte sich BGH mit den Anforderungen an die Mängelanzeige zu befassen, die bei kaufmännischen Kaufverträgen der Verkäufer nach § 377 HGB bei aufgetretenen Mängel unverzüglich zur Wahrung seiner Rechte abgeben muss (BGH, Beschluss vom 23. April 2024 – VIII ZR 35/23):

Die Klägerin bezog von der beklagten Zwischenhändlerin Rohware für die Herstellung von Fertiglebensmitteln. Die Beklagte lieferte ihr am 2. und 21. August sowie am 20. September 2017 insgesamt rund 15 t tiefgekühlte, in Scheiben geschnittene Jalapeños (Paprikaschoten). Bei der Weiterverarbeitung zu Chili-Cheese-Nuggets fiel bei der Klägerin kurz vor Abschluss der Produktion am 13. Oktober 2017 ein scharfkantiges Kunststoffteil zwischen einigen Jalapeños-Scheiben auf. Noch am selben Tag teilte sie der Beklagten telefonisch mit, dass „in der gelieferten Ware Fremdkörper enthalten“ seien und übersandte Fotos per E-Mail. Die Fotos zeigen ein schwarzes Plastikteil zwischen tiefgefrorenen Jalapeños-Scheiben, einen Paketaufkleber für einen 10 kg-Karton mit den Angaben „GE805und einer „Lot Nr. M2261108“ sowie einen Schein über die Tiefkühleinlagerung von 7.280 kg mit Einlagerdatum 20. September 2017 und Chargennummer 201709020-1701655. Die Klägerin sperrte die bereits produzierten Teilmengen für den Verkauf und rief die schon ausgelieferten Nuggets zurück. Eine Untersuchung der restlichen Rohware bei einem Drittunternehmen ergab das Vorhandensein weiterer Fremdkörper. Mit E-Mail vom 16. Oktober 2017 bestätigte die Beklagte den Eingang der Reklamation und kündigte eine Reaktion an. Am 26. Oktober 2017 teilte sie unter Bezugnahme auf die „Reklamation der von uns gelieferten GE805 – Jalapeños grün in Scheiben“ mit, dass sie nach Rücksprache mit ihrem Lieferanten einen Fremdkörperbefund nicht ausschließen könne.

Mit der Klage hat die Klägerin u.a. Ersatz des Warenwerts der bereits produzierten Nuggets sowie für die Einlagerung und Vernichtung der produzierten Ware verlangt. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Kammergericht die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch aus dem Kaufvertrag bereits deshalb nicht zu, weil er gemäß § 377 Abs. 1, 3 HGB ausgeschlossen sei. Es fehle an einer hinreichend bestimmten Mängelrüge der Klägerin. Die Mitteilung vom 13. Oktober 2017 genüge diesen Anforderungen auch unter Berücksichtigung der übermittelten Fotos nicht. Es sei denkbar, dass sich die Beanstandung auf lediglich einen einzelnen – den abgebildeten – Karton, auf alle Kartons mit der „Lot Nr. M2261108“, auf die gesamte Lieferung, auf sämtliche Ware mit der (vorangestellten) Nummer „K5409“ aus allen drei Lieferungen oder aber auf die gesamte Ware aus allen drei Lieferungen beziehe. Welche Mangelbehauptung die Klägerin nun konkret erhoben habe, habe ein Empfänger in der Person der Beklagten anhand der Mängelanzeige nicht feststellen können.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Dem Berufungsgericht ist eine Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Nach dem Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts war es für das Vorliegen einer hinreichend bestimmten Mängelrüge im Oktober 2017 entscheidend, ob die Beklagte als Verkäuferin aufgrund der ihr seitens der Klägerin bis zum 17. Oktober 2017 überlassenen Informationen das Vorhandensein des behaupteten Mangels der gelieferten Rohware prüfen, eigene Nachforschungen anstellen und ihre Lieferantin in Anspruch nehmen konnte. In diesem Zusammenhang kam dem Vortrag der Klägerin entscheidende Bedeutung zu, wonach die Beklagte mit der E-Mail vom 26. Oktober 2017 über die aufgrund der Beanstandung von ihr zwischenzeitlich ergriffenen Maßnahmen zur Aufklärung und Untersuchung des beanstandeten Fremdkörperbefunds berichtet hat. Auf dieses zentrale Vorbringen zum (tatsächlichen) Verständnis der Beklagten hinsichtlich der ihr übermittelten Informationen ist das Berufungsgericht nicht eingegangen. Vielmehr hat es seine Würdigung, wonach für den Empfänger einer solchen Mängelrüge nicht erkennbar sei, was der Käufer konkret beanstande, allein auf allgemeine Erwägungen zu einem möglichen Aussagegehalt der den Lichtbildern entnehmbaren Informationen gestützt, ohne sich hierbei (erkennbar) mit dem seitens der Klägerin konkret gehaltenen Vortrag zum tatsächlichen Verständnishorizont der Beklagten auseinanderzusetzen. Soweit es dabei darauf verwiesen hat, dass die Beklagte bei der Inanspruchnahme ihres Lieferanten und bei der eigenen Nachforschung vom Umfang der Mängelanzeige abhängig sei, lassen diese vorrangig abstrakt gehaltenen Aussagen darauf schließen, dass das Berufungsgericht das Klägervorbringen zu den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalls gehörswidrig übergangen hat. Setzt sich ein Gericht mit einem Parteivortrag nicht inhaltlich auseinander, sondern mit Leerformeln über diesen hinweg, ist das im Hinblick auf die Anforderungen aus dem Verfahrensgrundrecht nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht anders zu behandeln als ein kommentarloses Übergehen des Vortrags. Die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es das Vorbringen der Klägerin in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen, zur Annahme einer hinreichenden Bestimmtheit der Mängelrüge gelangt wäre.

 

Fazit: Die Mängelanzeige gemäß § 377 Abs. 1 HGB muss den Verkäufer in die Lage versetzen, aus seiner Sicht und Kenntnis der Dinge zu erkennen, in welchen Punkten und in welchem Umfang der Käufer die gelieferte Ware als nicht vertragsgemäß beanstandet. Ferner soll sie dem Verkäufer ermöglichen, die Beanstandungen zu prüfen und gegebenenfalls abzustellen. Aus diesen Gründen muss die Mängelanzeige Art und Umfang der Beanstandungen zumindest in allgemeiner Form benennen. Angesichts der Beweisnot, in die der Verkäufer mit zunehmendem Zeitablauf zu geraten droht, soll die Mängelanzeige ihn in die Lage zu versetzen, möglichst bald den Beanstandungen durch den Käufer nachzugehen und gegebenenfalls Beweise sicherzustellen. Es bedarf aus diesem Grunde nicht so sehr der Aufdeckung der Ursachen des Fehlers als vielmehr seiner Beschreibung (BGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – X ZR 75/94 –, MDR 1996, 918).

Anwaltsblog 19/2024: Zur Reichweite eines vertraglichen Gewährleistungsausschlusses beim Kauf eines 40 Jahre alten Gebrauchtwagens

Der BGH hatte zu entscheiden, ob sich der Verkäufer eines fast 40 Jahre alten Fahrzeugs auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen kann, wenn er die einwandfrei funktionierende Klimaanlage in seiner Verkaufsanzeige hervorgehoben hatte, und der Käufer nunmehr Mängelrechte wegen eines Defekts der Klimaanlage geltend macht (BGH, Urt. v. 10.4.2024 – VIII ZR 161/23, MDR 2024, 706):

 

Der Kläger erwarb im März 2021 im Rahmen eines Privatverkaufs von dem Beklagten zu einem Kaufpreis von 25.000 € einen erstmals im Juli 1981 zugelassenen Mercedes-Benz 380 SL mit einer Laufleistung von rund 150.000 km. In der Verkaufsanzeige des Beklagten auf einer Onlineplattform hieß es: „Klimaanlage funktioniert einwandfrei. Der Verkauf erfolgt unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung“. Im Mai 2021 beanstandete der Kläger, dass die Klimaanlage defekt sei. Nachdem der Beklagte etwaige Ansprüche des Klägers zurückgewiesen hatte, ließ dieser die Klimaanlage durch eine Erneuerung des Klimakompressors instandsetzen und verlangt den Ersatz von Reparaturkosten von rund 1.750 €.

Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehe dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch der zwischen den Parteien vereinbarte Gewährleistungsausschluss entgegen. Dieser erstrecke sich auch auf einen etwaigen Mangel an der Klimaanlage. Zwar sei eine gleichzeitige Vereinbarung einer bestimmten Beschaffenheit der Kaufsache einerseits und eines umfassenden Ausschlusses der Gewährleistung andererseits regelmäßig dahin auszulegen, dass der Gewährleistungsausschluss nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten solle (BGH, Urt. v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, MDR 2007, 642). Jedoch müsse bei einem rund 40 Jahre alten Fahrzeug auch im Falle einer – hier hinsichtlich der Klimaanlage getroffenen – Beschaffenheitsvereinbarung angesichts der unvermeidlichen und teils gebrauchsunabhängigen Alterung einzelner Bauteile selbst dann, wenn es sich um einen hochwertigen und gepflegten Pkw handele, stets mit dem Auftreten von Instandsetzungsbedarf gerechnet werden. Demgemäß habe der Kläger in Anbetracht des Gewährleistungsausschlusses nicht erwarten dürfen, dass die schon lange Zeit über ihre technische Lebensdauer hinaus betriebene Klimaanlage auch weiterhin funktionieren werde.

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung ist in den Fällen einer (ausdrücklich oder stillschweigend) vereinbarten Beschaffenheit iSv. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB aF (nunmehr § 434 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 1 BGB) ein daneben vereinbarter allgemeiner Haftungsausschluss für Sachmängel dahin auszulegen, dass er nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit, sondern nur für sonstige Mängel, nämlich solche im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF, gelten soll. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt eine von diesem Grundsatz abweichende Auslegung des Gewährleistungsausschlusses nicht in Betracht. Der Umstand, dass der Beklagte nicht erst im schriftlichen Kaufvertrag, sondern bereits in seiner Internetanzeige – unmittelbar im Anschluss an die Angabe „Klimaanlage funktioniert einwandfrei“ – erklärt hat, dass der Verkauf „unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung“ erfolge, erlaubt es nicht, den vereinbarten Gewährleistungsausschluss dahingehend zu verstehen, dass er sich auf die getroffene Beschaffenheitsvereinbarung über die (einwandfreie) Funktionsfähigkeit der Klimaanlage erstreckt. Denn gerade das – aus Sicht eines verständigen Käufers – gleichrangige Nebeneinanderstehen einer Beschaffenheitsvereinbarung einerseits und eines Ausschlusses der Sachmängelhaftung andererseits gebietet es, den Gewährleistungsausschluss als beschränkt auf etwaige, hier nicht in Rede stehende Sachmängel nach § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF aufzufassen, da die Beschaffenheitsvereinbarung für den Käufer andernfalls ohne Sinn und Wert wäre.

Insbesondere aber rechtfertigen in einem Fall, in dem – wie hier – die Funktionsfähigkeit eines bestimmten Fahrzeugbauteils den Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung bildet, weder das (hohe) Alter des Fahrzeugs beziehungsweise des betreffenden Bauteils, noch der Umstand, dass dieses Bauteil typischerweise dem Verschleiß unterliegt, die Annahme, dass ein zugleich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss auch für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten soll. Diese Umstände (Alter des Fahrzeugs, Verschleißanfälligkeit eines Bauteils) können zwar für die übliche Beschaffenheit eines Gebrauchtwagens von Bedeutung sein. Sie spielen jedoch weder für die Frage einer konkret vereinbarten Beschaffenheit noch für die hier maßgebliche Frage eine Rolle, welche Reichweite ein allgemeiner Gewährleistungsausschluss im Fall einer vereinbarten Beschaffenheit hat. Vielmehr findet der Grundsatz, dass ein vertraglich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss die Haftung des Verkäufers für einen auf dem Fehlen einer vereinbarten Beschaffenheit beruhenden Sachmangel unberührt lässt, auch dann uneingeschränkt Anwendung, wenn der Verkäufer die Funktionsfähigkeit eines Verschleißteils eines Gebrauchtwagens zugesagt hat.

 

Fazit: Haben die Parteien die „einwandfreie“ Funktionsfähigkeit eines typischerweise dem Verschleiß unterliegenden Fahrzeugbauteils vereinbart, liegt ein Sachmangel vor, wenn sich dieses Bauteil bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs in einem Zustand befindet, der seine einwandfreie Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Das gilt unabhängig davon, ob insoweit ein „normaler“, das heißt ein insbesondere nach Alter, Laufleistung und Qualitätsstufe nicht ungewöhnlicher, die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigender Verschleiß vorliegt – der einen Sachmangel nicht begründet – und/oder ob bei objektiver Betrachtung jederzeit mit dem Eintreten einer Funktionsbeeinträchtigung dieses Bauteils zu rechnen war.

Anwaltsblog 18/2024: Müssen Anwaltsschriftsätze das Aktenzeichen des Gerichts enthalten?

Innerhalb weniger Wochen mussten sich zwei Zivilsenate des BGH mit der Frage befassen, ob fristgemäß einzureichende Anwaltsschriftsätze das (korrekte) Aktenzeichen des Gerichts aufweisen müssen (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592; BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris):

Im ersten Fall war das Berufungsverfahren der Beklagten zunächst beim 7. Zivilsenat des OLG geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Dieser wies darauf hin, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und setzte der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen, sondern das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 die Berufung zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592).

Auch im zweiten Fall hat das OLG die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 BGB zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es auf den Inhalt seines Hinweisbeschlusses vom 30. März 2022 verwiesen, zu dem sich die Klägerin trotz antragsgemäß verlängerter Frist nicht mehr geäußert habe. Jedoch war am letzten Tag der Frist (5. Mai 2022) ein Schriftsatz der Klägervertreter beim Berufungsgericht eingegangen, der eine Stellungnahme zum Hinweisbeschluss enthält. Dieser wurde allerdings aufgrund eines Schreibversehens bei der Angabe des Aktenzeichens („99 U 25/22“ statt „9 U 25/22“) auf Geschäftsstellenebene zunächst dem falschen Senat (Eingangssenat) zugeordnet und dem Berichterstatter des Berufungssenats erst nach Versendung des Zurückweisungsbeschlusses vom 6. Mai 2022 vorgelegt (BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris).

In beiden Fällen hat der BGH eines Verstoß des Berufungsgerichts gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht festgestellt, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, die in einem ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vorgetragen werden. Grundsätzlich verstößt das Gericht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt, wobei es auf ein Verschulden des Gerichts nicht ankommt. Im Hinblick auf eine einzuhaltende Frist ist für den Eingang des Schriftsatzes und daher für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, ob der Schriftsatz vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufende Gericht gelangt ist. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz innerhalb der Frist in die für die Sache bereits angelegte Akte eingeordnet worden ist. Da der Rechtsuchende keinen Einfluss darauf hat, welche Richter im Einzelnen durch die Geschäftsverteilung zur Bearbeitung der Sache bestimmt worden sind, braucht er keine Sorge dafür zu treffen, dass seine Eingabe innerhalb des angerufenen Gerichts unverzüglich in die richtige Akte gelangt. Demgemäß schreibt das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Dem Schriftsatz muss jedoch zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll. Dies ist der Fall, wenn die Parteien des Rechtsstreits im Schriftsatz korrekt angegeben waren und zudem durch die Bezugnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts deutlich wird, welchem Verfahren die Ausführungen zuzuordnen waren.

 

Fazit: Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird. Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Für den fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes ist deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt (BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23 –, MDR 2024, 395).

 

Anmerkung: Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht. Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat. Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Der Gesetzgeber sollte de lege ferenda dieses missliche Rechtsdefizit beenden, um eine schnelle und kostengünstige Reparatur der sog. Pannenfälle (G. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 8 mwN.) zu ermöglichen.

Anwaltsblog 17/2024: Beweis der Unrichtigkeit eines Empfangsbekenntnisses durch Vorlage des beA-Nachrichtenjournals?

Ob ein Berufungsgericht die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals eines Parteivertreters anordnen darf, wenn Zweifel an der Richtigkeit des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums bestehen, hatte das OLG München zu klären (OLG München, Beschluss v. 26.04.2024 – 23 U 8369/21):

 

Ein Urteil wurde vom Gericht am 07.10.2021 an das beA des Beklagtenvertreters versandt; die elektronische Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters ist am gleichen Tag erfolgt. Mit dem Empfangsbekenntnis hat der Beklagtenvertreter den 22.10.2021 als Zustelldatum angegeben. Die Klägerseite bestreitet im Berufungsverfahren das angegebene Zustelldatum und beantragt, dem Beklagtenvertreter aufzugeben, das beA-Nachrichtenjournal zu der elektronischen Übersendung des Landgerichtsurteils am 07.10.2021 in ausgedruckter Form vorzulegen.

Das Berufungsgericht ordnet daraufhin die beantragte Vorlage an. Die Anordnung beruht auf § 142 Abs. 1 ZPO. Der Ausdruck aus dem beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters ist als Ausdruck eines elektronischen Dokuments eine sonstige Unterlage iSd. § 142 Abs. 1 ZPO. Sie befindet sich im Besitz der beklagten Partei. Hierzu genügt der mittelbare Besitz der Partei, der dadurch begründet wird, dass sich das Journal in den Händen des seinen Anweisungen unterliegenden Rechtsanwalts befindet. Dass der Beklagtenvertreter den Ausdruck u.U. erst noch erstellen muss, hindert die zumindest analoge Anwendung des § 142 Abs. 1 ZPO nicht. Es entspricht pflichtgemäßem Ermessen, die Vorlage anzuordnen. Das beA-Nachrichtenjournal protokolliert im System des Rechtsanwalts, wann eine Nachricht eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat. Dies kann ein gewichtiges Beweismittel für die Klagepartei sein, die die Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters genannten Zustelldatums behauptet.

Ein das Klägerinteresse überwiegendes Geheimhaltungsinteresse der beklagten Partei oder ihres Prozessvertreters ist nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Frage, wann das Urteil des Landgerichts erstmals seitens des Beklagtenvertreters geöffnet wurde, hat der Beklagte kein schützenswertes Interesse, die Information aus dem Verfahren herauszuhalten. Im Gegenteil: Die für die Zulässigkeit der Berufung wesentliche Vorfrage ist – wie die Zulässigkeit der Berufung – von Amts wegen zu klären. Anders als bei der Vorlage von Mandantenkorrespondenz geht es hierbei nicht um die interne Kommunikation eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten etwa über die Prozessstrategie. Allerdings ist im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass nach § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F. (§ 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO n.F.) grundsätzlich allein das Empfangsbekenntnis als Nachweis der Zustellung genügt. Die gesetzliche Wertung darf nicht vorschnell dahin abgeändert werden, dass der Zustellempfänger zusätzlich auch noch das beA-Nachrichtenjournal vorlegen muss, um seiner Nachweispflicht zu genügen. Eine Anordnung der Vorlage des Journals ist daher nur dann gerechtfertigt und angemessen, wenn konkrete Umstände vorgetragen oder sonst verfahrensgegenständlich sind, die im Einzelfall einen besonderen, gegenüber dem Normalfall gesteigerten Überprüfungsbedarf indizieren. Nach diesen Grundsätzen war die Anordnung hier zu treffen: Zwischen der Absendung des Teilurteils am 07.10.2021 und der elektronischen Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters am gleichen Tag einerseits und dem 22.10.2021 als Zustelldatum gemäß dem Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters andererseits lagen mehr als zwei Wochen. Diese erhebliche Dauer belegt zwar für sich nicht die Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses. Sie rechtfertigt – in Verbindung mit den übrigen Umständen des vorliegenden Einzelfalls – hier indes, die Vorlage des Nachrichtenjournals zur näheren Überprüfung anzuordnen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat. Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erklärt, wie und warum es gleichwohl zu der deutlich über eine Woche hinausgehenden Zustellverzögerung kam. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das Empfangsbekenntnis erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vom 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat, nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war. Insgesamt ergibt sich aus der gegebenen Situation ein weiterer, besonderer Aufklärungsbedarf, der das Beweisinteresse der Klägerin überwiegen und die Anordnung gemäß § 142 ZPO angemessen erscheinen lässt.

 

Fazit: Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23 –, MDR 2024, 519).

 

Anmerkung: Der Gesetzgeber hat auch für den Fall der elektronischen Übermittlung eines Dokuments an einen Rechtsanwalt daran festgehalten, den Nachweis der Zustellung an ein voluntatives Element zu knüpfen und hierfür nicht allein die automatisierte Eingangsbestätigung (ggf. in Verbindung mit einem bestimmten Zeitablauf) ausreichen zu lassen (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2022 – 9 B 2/22 –, Rn. 10, mwN.). Dem Rechtsanwalt, dem die Angabe eines (zu späten) Zustelldatums vorgeworfen wird, verbleibt daher die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, das übermittelte Dokument erst zu diesem Datum als zugestellt entgegengenommen zu haben. Der Verstoß gegen Berufspflichten ist zivilprozessrechtlich irrelevant (ausführlich zu der Problematik: Wagner/Ernst: Falsche oder verzögert abgegebene Empfangsbekenntnisse im elektronischen Rechtsverkehr, NJW 2021, 1564).