Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Anspruch eines rechtsschutzversicherten Mandanten gegen seinen Anwalt auf Ersatz angefallener Kosten wegen unzureichender Beratung.

Kostenschaden auch bei Rechtsschutzversicherung
BGH, Urteil vom 29. September 2022 – IX ZR 204/21

Der IX. Zivilsenat wendet die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auf den Kostenschaden eines rechtschutzversicherten Mandanten an.

Der beklagte Rechtsanwalt erwirkte im Jahr 2009 im Auftrag des Klägers ein Versäumnisurteil über einen Betrag von 30.000 Euro nebst Zinsen. Im Oktober 2011 beauftragte der Kläger den Beklagten, gegenüber einer Bank als Drittschuldnerin vorzugehen und hierfür beim Rechtsschutzversicherer des Klägers eine Deckungszusage einzuholen. Nach Erteilung der Deckungszusage erwirkte der Beklagte einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss. Nach dessen Zustellung erklärte die Bank, eine Kontoverbindung zum Schuldner bestehe nicht mehr. Eine vom Beklagten gegen die Bank erhobene Klage auf Auskunft und Zahlung blieb erfolglos.

Der Kläger verlangt nunmehr vom Beklagten Ersatz der für die Rechtsverfolgung gegen die Bank angefallenen Kosten. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG kann ein ersatzfähiger Schaden nicht deshalb verneint werden, weil der Kläger rechtsschutzversichert war und das Vorgehen gegen die Bank von einer Deckungszusage abhängig gemacht hat. Der gegen den Rechtsschutzversicherer gerichtete Anspruch auf Kostenbefreiung dient nicht der Verhinderung eines Schadens, sondern dessen Übernahme durch den Versicherer.

Praxistipp: Soweit der Rechtsschutzversicherer die Kosten bereits gezahlt hat, geht der Ersatzanspruch gemäß § 86 Abs. 1 VVG auf ihn über. Insoweit kann der Mandant den Anspruch gegen seinen Anwalt nur noch dann geltend machen, wenn er ihn sich vom Versicherer abtreten lässt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um ein nicht alltägliches Kriterium für die Gesetzesauslegung.

Reichweite der Schonfrist nach § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB
BGH, Urteil vom 5. Oktober 2022 – VIII ZR 307/21

Der VIII. Zivilsenat bestätigt seine Rechtsprechung und stützt sie auf ein zusätzliches Argument.

Der Beklagte ist seit 1984 Mieter einer Wohnung in Berlin. Seit 2012 zahlte er eine um 20 % (von 307 auf 240 Euro) reduzierte Miete, weil die Wohnung nach dem Anbau eines Balkons verschattet und ein Spielplatz entfernt worden sei. Die Klägerin erwarb die Wohnung im Jahr 2014. Im Jahr 2017 klagte sie auf Zahlung der aufgelaufenen Mietrückstände. Die Klage hatte in erster Instanz vollständig und in zweiter Instanz zum überwiegenden Teil Erfolg. Daraufhin erklärte die Klägerin im Jahr 2018 wegen der Mietrückstände die fristlose, hilfsweise die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses. Nach Zustellung der Räumungsklage zahlte der Beklagte die rückständige Miete.

Die Räumungsklage hatte in erster Instanz Erfolg. Das LG wies sie auf die Berufung des Beklagten ab.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück.

Entgegen der Auffassung des LG kann die nachträgliche Begleichung der Mietrückstände gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB allenfalls zur Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung führen, nicht aber zur Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung.

Der BGH hält an dieser von ihm seit 2006 vertretenen Rechtsauffassung auch im Lichte der daran wiederholt geäußerten Kritik des LG fest. Zur Begründung verweist er auf eine frühere Entscheidung. Ergänzend tritt er dem vom LG angeführten Argument entgegen, dem seitherigen Schweigen des Gesetzgebers könne kein Bestätigungswille entnommen werden: Der Gesetzgeber habe die Rechtsprechung des Senats nicht lediglich unbeanstandet gelassen. Vielmehr habe er mehrfach Gesetzesanträge, die auf eine abweichende Regelung abzielten, ausdrücklich abgelehnt. Dies spreche im Ergebnis eindeutig dafür, dass der Gesetzgeber das Normverständnis des Senats weiterhin als geltende Rechtspraxis ansehe und an diesem Rechtzustand keine Änderungen vornehmen möchte.

Praxistipp: Für die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung kann von Bedeutung sein, ob der Mieter die Zahlung wegen geltend gemachter Mängel verweigert hat oder deshalb, weil er zur Zahlung nicht in der Lage war und die Sozialbehörden ihn nicht in der gebotenen Weise unterstützt haben.

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Diese Woche geht es um die Bindung an ein per E-Mail übersandtes Vergleichsangebot.

Bindung an ein per E-Mail übersandtes Vergleichsangebot
BGH, Urteil vom 6. Oktober 2022 – VII ZR 895/21

Der VII. Zivilsenat wendet den Allgemeinen Teil des BGB auf ein elektronisch übermitteltes Angebot an.

Die Klägerin hatte für die Beklagte Metallbau- und Fassadenbegrünungsarbeiten durchgeführt. Die Beklagte nahm Kürzungen an der Schlussrechnung vor und überwies den von ihr als noch offen ermittelten Betrag. Die Klägerin widersprach den Kürzungen und forderte die Beklagte schriftlich zur Zahlung eines weiteren Betrags von 14.347,23 Euro nebst Anwaltskosten in Höhe von 1.029,35 Euro auf.

Rund zwei Wochen später bot die Beklagte eine Zahlung in der genannten Höhe zur Erledigung der Angelegenheit an. Drei Tage danach teilte der Anwalt der Klägerin um 9:19 Uhr per E-Mail mit, die Forderung aus der Schlussrechnung belaufe sich noch auf 14.347,23 Euro. Eine weitere Forderung werde nicht erhoben. Ferner seien die geltend gemachten Anwaltskosten zahlbar und fällig. Rund eine halbe Stunde später teilte er in einer weiteren E-Mail mit, die Prüfung der Forderungshöhe sei noch nicht abgeschlossen; die vorangegangene E-Mail müsse daher unberücksichtigt bleiben.

Drei Tage darauf übersandte die Klägerin eine neue Schlussrechnung, die eine Restforderung von rund 22.000 Euro auswies. Die Beklagte überwies weitere vier Tage später – also eine Woche nach Erhalt der E-Mail – den zuvor mitgeteilten Betrag von 14.347,23 Euro.

Die Klage auf Zahlung der Differenz zu dem Restbetrag aus der neuen Schlussrechnung blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf weitere Zahlungen, weil durch ihre erste E-Mail und die Zahlung der Beklagten ein wirksamer Vergleich zustande gekommen ist.

Das OLG hat zu Recht angenommen, dass die erste E-Mail ein Angebot zum Abschluss eines Vergleichs enthält. Diese Willenserklärung ist gemäß § 130 Abs. 1 BGB zugegangen, als die Nachricht im elektronischen Postfach der Beklagten einging, weil die Beklagte hierdurch die Möglichkeit der Kenntnisnahme hatte und der Zeitpunkt des Eingangs innerhalb der üblichen Geschäftszeiten lag. Von diesem Zeitpunkt an war das Angebot gemäß § 145 BGB bindend – unabhängig davon, ob die Beklagte es bereits gelesen hatte. Der eine halbe Stunde später erklärte Widerruf war damit wirkungslos.

Die Beklagte durfte das nicht befristete Angebot gemäß § 147 Abs. 2 BGB bis zu dem Zeitpunkt annehmen, zu dem die Klägerin den Eingang einer Antwort unter regelmäßigen Umständen erwarten durfte. Dieser Zeitraum war im Zeitpunkt der Zahlung – eine Woche nach Eingang des Angebots – noch nicht verstrichen.

Praxistipp: Wer einen per E-Mail übermittelten Vorschlag zur gütlichen Einigung nicht als verbindliches Vergleichsangebot gewertet wissen will, muss unmissverständlich klarstellen, dass die Nachricht keine rechtsverbindliche Erklärung enthält.

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Diese Woche geht es erneut um die Anforderungen an einen elektronischen Schriftsatz.

Einfache Signatur eines elektronischen Schriftsatzes
BGH, Beschluss vom 20. September 2022 – XI ZB 14/22

Der XI. Zivilsenat befasst sich mit den anwaltlichen Prüfpflichten beim Versand eines Schriftsatzes über beA.

Die Klägerin nimmt die Beklagte nach der Zwangsversteigerung einer Immobilie auf Schadensersatz in Anspruch. Das LG hat die Klage abgewiesen. Am letzten Tag der maßgeblichen Frist ging beim OLG eine Nachricht aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein, der kein PDF-Dokument beigefügt war. Erst am Tag darauf ging eine neue Nachricht ein mit der Berufungsbegründung als Anlage ein. Das OLG versagte die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin bleibt erfolglos.

Das OLG hat zu Recht angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die ihm obliegenden Prüfungspflichten beim Versand der ersten Nachricht verletzt hat. Er hätte nicht nur prüfen müssen, ob die Nachricht beim OLG eingegangen ist, sondern auch, ob ihr die Berufungsbegründung als PDF-Dokument beigefügt ist. Hierzu hätte er sich zumindest darüber vergewissern müssen, dass der Dateiname des betreffenden Dokuments in der Eingangsbestätigung des Gerichts unter der Rubrik „Anhänge“ aufgeführt ist.

Praxistipp: Den Versand und die dabei vorzunehmenden Prüfungen darf der Anwalt auf eine sorgfältig ausgewählte und angeleitete Kanzleikraft übertragen. Er muss deren Tätigkeit jedoch durch Stichproben überprüfen. Ferner muss er jeden Schriftsatz vor dem Versand bzw. vor der Anbringung seiner elektronischen Signatur auf inhaltliche Vollständigkeit und Richtigkeit überprüfen.

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Diese Woche geht es um die Bindungswirkung einer Verweisung zwischen einem Spezialsenat im Sinne von § 119a GVG und einem anderen Senat desselben Gerichts.

Negativer Kompetenzkonflikt mit Spezialsenat
Beschluss vom 26. Juli 2022 – X ARZ 3/22

Mit der entsprechenden Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bei Verweisungen innerhalb desselben Gerichts befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Kläger begehrt die Rückabwicklung eines Vertrags über den Erwerb von Bäumen in Brasilien. Die Beklagte hatte den Abschluss als attraktive Kapitalanlage angeboten. Nach dem Ende des Anlagezeitraums leistete sie keine Zahlungen. Die Klage auf Rückzahlung des Anlagebetrags von rund 10.000 Euro Zug um Zug gegen Rückübertragung des Eigentums an den Bäumen hatte in erster Instanz Erfolg.

Die Berufung der Beklagten wurde zunächst einem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Senat des OLG zugeteilt. Dieser erklärte sich für unzuständig und gab die Sache an den für Bank- und Finanzgeschäfte im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG zuständigen Spezialsenat ab. Dieser erklärte sich ebenfalls für unzuständig und legte die Sache dem für Gerichtsstandbestimmungen zuständigen Zivilsenat vor. Dieser teilte die Rechtsauffassung des Spezialsenats, dass kein Bank- oder Finanzgeschäft vorliege. Er sah sich an einer Zuweisung zu dem ursprünglich mit der Sache befassten Senat aber durch eine Entscheidung eines anderen OLG gehindert, das die Leistung der Beklagten als Finanzdienstleistung im Sinne von § 312b Abs. 1 Satz 2 BGB angesehen hatte. Deshalb legte er die Sache gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 ZPO dem BGH vor.

Der BGH erklärte den Spezialsenat für zuständig. Er ließ offen, ob es sich um eine Streitigkeit aus einem Bank- oder Finanzgeschäft im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG handelt. Die Zuständigkeit ergibt sich im Streitfall schon daraus, dass die Abgabeentscheidung des zunächst mit der Sache befassten Senats entsprechend § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist. Entgegen der bislang überwiegenden Auffassung in Literatur und Instanzrechtsprechung liegt eine planwidrige Gesetzeslücke vor.

Für vergleichbare Fälle eines Konflikts über eine sich schon aus dem Gesetz ergebende Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Gerichts sieht das Gesetz eine Bindungswirkung vor. Im Verhältnis zwischen Zivilkammern und Kammern für Handelssachen ergibt sich diese Wirkung aus § 102 Satz 2 GVG, im Verhältnis zwischen Spruchkörpern für Zivilsachen, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus § 17a Abs. 6 GVG. Dass eine entsprechende Regelung für das Verhältnis zwischen Spezialkammern im Sinne von § 72a GVG bzw. Spezialsenaten im Sinne von § 119a GVG und anderen Spruchkörpern desselben Gerichts fehlt, beruht nicht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Die hierdurch entstandene Lücke ist durch entsprechende Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO zu schließen.

Praxistipp: Um Verzögerungen zu vermeiden, sollten beide Parteien das Gericht sowohl in erster als auch in zweiter Instanz möglichst frühzeitig auf eine mögliche Spezialzuständigkeit nach § 72a bzw. § 119a GVG aufmerksam machen.

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Diese Woche geht es um das Rechtsverhältnis zwischen einer Vorverkaufsstelle für Eintrittskarten und deren Kunden.

Vertrieb von Eintrittskarten durch eine Vorverkaufsstelle als Kommissionärin des Veranstalters
Urteile vom 13. Juli 2022 – VIII ZR 317/21 und VIII ZR 329/21

Mit grundlegenden vertragsrechtlichen Fragen befasst sich der VIII. Zivilsenat in zwei durch die Pandemie entstandenen Rechtsstreitigkeiten

Die Kläger erwarben kurz vor Weihnachten 2019 über die Internet-Seite der Beklagten Eintrittskarten für ein Musical im April 2020 bzw. ein Konzert im März 2020. Die Beklagte ist als Ticketsystemdienstleisterin für eine Vielzahl von Veranstaltungen tätig. Sie vertreibt die Karten im Auftrag des jeweiligen Veranstalters.

Beide Veranstaltungen wurden wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Die Veranstalterin bot Gutscheine zum Erwerb anderer Karten an. Die Kläger lehnten dies ab und verlangten stattdessen von der Beklagten die Rückerstattung des Kaufpreises. Die Klagen hatten in erster Instanz Erfolg. Das LG wies sie auf die Berufung der Beklagten ab.

Der BGH tritt der Vorinstanz darin bei, dass die Beklagte die Verträge mit den Klägern als Kommissionärin, also auf Rechnung des Veranstalters, aber im eigenen Namen abgeschlossen hat und dass es sich um einen Rechtskauf handelt, nämlich den Kauf des Rechts auf Teilnahme an der von dem Veranstalter durchzuführenden Veranstaltung, das durch die Eintrittskarte als kleines Inhaberpapier (§ 807 BGB) verbrieft ist. Ihre Pflichten aus diesem Vertrag hat die Beklagte durch Übereignung der Eintrittskarten vollständig erfüllt.

Später eingetretene Umstände, die das Recht auf Teilnahme an der Veranstaltung beeinträchtigen, begründen keine Gewährleistungsrechte gegenüber der Beklagten. Entscheidend ist allein die Mangelfreiheit im Zeitpunkt der Übergabe, hier also im Dezember 2019. Für die Durchführung der Veranstaltung haftet die Beklagte nicht.

Ein Widerrufsrecht ist nach § 312g Abs. 1 Nr. 9 BGB ausgeschlossen, weil es sich um einen Vertrag zur Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen handelt, der für die Erbringung einen spezifischen Termin vorsieht. Dies gilt, wie der EuGH bereits entschieden hat, auch für den Erwerb von Eintrittskarten von einem im eigenen Namen handelnden Vermittler.

Ob die Pandemie zum Wegfall der Geschäftsgrundlage geführt hat, lässt der BGH ebenso wie das LG offen. Selbst wenn die Frage zu bejahen wäre, stünden den Klägern keine Ansprüche gegen die Beklagte auf Rückzahlung des Kaufpreises zu. Nach der in Art. 240 § 5 EGBGB zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers war den Klägern ein Festhalten am Vertrag – d.h. die Annahme der vom Veranstalter angebotenen Gutscheine – zuzumuten.

Praxistipp: Nach Art. 240 § 5 EGBGB kann der Inhaber eines nach dieser Vorschrift ausgegebenen Gutscheins die Auszahlung des Werts verlangen, wenn er den Gutschein bis zum 31.12.2021 nicht eingelöst hat.

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Diese Woche geht es um die Grenzen der Möglichkeit, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen maßgebliche Recht auszuwählen.

Verstoß gegen ordre public durch Ausschluss des Pflichtteilsrechts aufgrund Rechtswahl
Urteil vom 29. Juni 2022 – IV ZR 110/21

Mit dem internationalen Erbrecht befasst sich der IV. Zivilsenat.

Der Kläger macht gegen die Beklagte als Alleinerbin seines im Jahr 2018 verstorbenen Adoptivvaters einen Pflichtteilsanspruch geltend.

Der 1936 geborene Erblasser war britischer Staatsbürger. Seit den 60er Jahren hatte er seinen Wohnsitz in Deutschland. Im Jahr 1975 adoptierte er den Kläger, der deutscher Staatsbürger ist und hier auch seinen Wohnsitz hat. In einem Testament aus dem Jahr 2015 setzte der Erblasser die Beklagte zur Alleinerbin ein und wählte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht.

Die auf Auskunft über Bestand und Wert des Nachlasses gerichtete Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Das OLG verurteilte die Beklagte überwiegend antragsgemäß.

Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Für die Rechtsnachfolge von Todes wegen ist im Streitfall das englische Recht maßgeblich. Gemäß Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 (EuErbVO) wäre zwar grundsätzlich das deutsche Recht anwendbar, weil der Erblasser hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO war der Erblasser aber befugt, stattdessen das Recht des Staates zu wählen, dem er angehörte, also das englische Recht als Teilrechtsordnung des Vereinigten Königreichs.

Das englische Recht kennt keinen Pflichtteilsanspruch. Es sieht lediglich einen nach richterlichem Ermessen zuzusprechenden Ausgleichsanspruch für bedürftige Abkömmlinge vor. Dem Kläger steht ein solcher Anspruch schon deshalb nicht zu, weil er seinen Wohnsitz (domicile) nicht in England oder Wales hat.

Der hieraus resultierende Ausschluss des Pflichtteilsrechts verstößt offensichtlich gegen den deutschen ordre public. Das Recht auf eine bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Deshalb ist das englische Recht gemäß Art. 35 EuErbVO insoweit nicht anwendbar. Dem Kläger steht ein Pflichtteilsanspruch nach Maßgabe des deutschen Rechts zu.

Praxistipp: Nach dem bis 31.12.1976 geltenden Adoptionsrecht (§ 1767 BGB aF) konnte das Erbrecht (und damit auch das Pflichtteilsrecht) eines adoptierten minderjährigen Kindes im Adoptionsvertrag ausgeschlossen werden. Solche Vereinbarungen haben aufgrund der Übergangsregelung in Art. 2 § 2 Abs. 2 des Adoptionsgesetzes am 1.1.1978 ihre Wirksamkeit verloren, wenn das Kind am 1.1.1977 noch minderjährig war und bis zum 31.12.1977 kein Beteiligter der Anwendbarkeit des neuen Rechts widersprochen hat.

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Diese Woche geht es um die Darlegungslast des Reiseveranstalters für die Angemessenheit einer pauschalen Entschädigung bei Rücktritt vom Vertrag.

Entschädigung bei Rücktritt des Reisenden vor Reisebeginn
Urteil vom 24. Mai 2022 – X ZR 12/21

Mit einer besonderen Vertragsgestaltung auf Seiten des Reiseveranstalters befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Kläger schloss mit der Beklagten für seine Ehefrau und sich einen Vertrag über eine knapp sechswöchige Pauschalreise nach Australien. Fünf Tage vor Reise trat er wegen Erkrankung der Ehefrau von der Reise zurück. Die Beklagte erstattete 30 % des bereits vollständig gezahlten Reisepreises. Den Rest behielt sie unter Bezugnahme auf ihre AGB als Entschädigung ein. Die AGB sehen für den Fall eines Rücktritts nach dem vierzehnten und vor dem fünften Tag vor Reiseantritt eine pauschale Entschädigung von 70 % des Reisepreises vor. Dieselben Pauschalsätze sind in dem Vertrag zwischen der Beklagten und einer Schwestergesellschaft vorgesehen, von der die Beklagte sämtliche Reiseleistungen bezieht.

Der Kläger hält allenfalls eine Entschädigung von 50 % für angemessen und verlangt deshalb Rückzahlung von weiteren 20 % des Reisepreises. Das AG wies die Klage ab. Das LG sprach den geltend gemachten Betrag von rund 4.000 Euro mit Ausnahme eines Teils der verlangten Zinsen zu.

Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Nach § 651i BGB aF (seit 1.7.2018: § 651h BGB) verliert der Reiseveranstalter den Anspruch auf den Reisepreis, wenn der Reisende vor Beginn der Reise vom Vertrag zurücktritt. Der Reiseveranstalter kann jedoch eine angemessene Entschädigung verlangen. Diese bestimmt sich nach dem Reisepreis abzüglich ersparter Aufwendungen und abzüglich dessen, was der Veranstalter durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwirbt. Der Reiseveranstalter darf in seinen AGB angemessene Entschädigungspauschalen festlegen.

Nach der Rechtsprechung des BGH muss der Reiseveranstalter sowohl bei konkreter Berechnung als auch bei Geltendmachung einer Pauschale die Umstände darlegen, aus denen sich die Angemessenheit der geforderten Entschädigung ergibt. Hierfür genügt es in der Konstellation des Streitfalls nicht, wenn die Beklagte auf die entsprechenden Pauschalsätze im Vertrag mit ihrer Schwestergesellschaft verweist. Die Beklagte muss sich vielmehr so behandeln lassen, als habe sie die Reiseleistungen unmittelbar von den Vertragspartnern der Schwestergesellschaft bezogen. Sie hätte deshalb zu den Ersparnissen und anderweitigen Verwendungsmöglichkeiten in diesen Vertragsverhältnissen vortragen müssen.

Praxistipp: Nach der seit 1.7.2018 geltenden Regelung in § 651h Abs. 3 BGB kann der Reiseveranstalter keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.

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Diese Woche geht es um das Nachreichen einer Prozessvollmacht.

Heilung des Mangels der Prozessvollmacht
Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZB 18/18

Mit den Anforderungen an die Prozessvollmacht eines Inkassodienstleisters befasst sich der VII. Zivilsenat.

Die Gläubigerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus einem Urteil über eine Forderung in Höhe von rund 5.500 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten. Sie ist durch eine in das Rechtsdienstleistungsregister eingetragene Inkassodienstleisterin vertreten. Auf deren Antrag erließ das AG im Januar 2017 einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss. Eine Erinnerung des Schuldners blieb erfolglos. Mit seiner Beschwerde rügte er unter anderem das Fehlen einer Prozessvollmacht. Die Inkassodienstleisterin legte daraufhin eine Inkassovollmacht der Gläubigerin im Original vor. Das LG wies die Beschwerde zurück.

Die Rechtsbeschwerde des Schuldners bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

Ohne Vorlage einer Vollmachtsurkunde hätte der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss allerdings nicht ergehen dürfen. Die Ausnahmeregelung in § 88 Abs. 2 ZPO, wonach Mängel der Vollmacht nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, wenn ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftritt, ist nach der Rechtsprechung des BGH auf Inkassodienstleister, die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ZPO zur Vertretung befugt sind, nicht entsprechend anwendbar. Die für diesen Personenkreis geltende Ausnahmeregelung in § 753a ZPO gab es im hier relevanten Zeitraum noch nicht.

Dieser Fehler führte jedoch nicht zur Nichtigkeit des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses, sondern nur zu dessen Anfechtbarkeit. Der Mangel der Vollmacht konnte deshalb bis zur Entscheidung über die Beschwerde geheilt werden. Dies ist im Streitfall durch Vorlage der Inkassovollmacht geschehen. Die Heilung wirkt auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück.

Praxistipp: Nach der seit 1.1.2021 geltenden Ausnahmeregelung in § 753a ZPO ist die Vorlage einer Vollmacht durch Inkassodienstleister und öffentlich geförderte Verbraucherverbände entbehrlich, wenn diese ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung versichern.

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Diese Woche geht es um die prozessuale Stellung eines einfachen Streithelfers.

Widerspruch zwischen dem Sachvertrag von Partei und Streithelfer
Urteil vom 26. April 2022 – VI ZR 1321/20

Mit den Konsequenzen von § 67 Satz 1 ZPO befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der Kläger verlangt Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen eines Katzenbisses, in dessen Gefolge ein stationärer Krankenhausaufenthalt und sechs Operationen stattfanden. Die beklagte Halterin der Katze ist anwaltlich nicht vertreten. Ihre Haftpflichtversicherung hat vorprozessual 1.000 Euro gezahlt und danach ihre Einstandspflicht in Abrede gestellt. Sie ist dem Rechtsstreit als Streithelferin der Beklagten beigetreten und hat geltend gemacht, der Kläger sei Miteigentümer und Mithalter der Katze; unabhängig davon sei die Schilderung des Unfallhergangs unplausibel. Die Beklagte hat bei einer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht die Darstellung des Klägers bestätigt. Dennoch blieb die Klage in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen hängt die Haftung der Beklagten als Halterin der Katze gemäß § 833 Satz 1 BGB nicht davon ab, dass der Kläger den genauen Hergang des Unfalls beweisen kann. Es genügt, wenn die Katze ihn gebissen hat und der geltend gemachte Schaden dadurch verursacht worden ist. Letzteres haben die Vorinstanzen zugunsten des Klägers unterstellt. Auf dieser Grundlage kann die Klage nicht abgewiesen werden. Besonderheiten des Unfallhergangs können allenfalls zu einer Haftungsminderung oder ausnahmsweise zu einem Haftungsausschluss führen; die Beweislast für die dafür relevanten Umstände liegt bei der Beklagten.

Unabhängig davon durften die Vorinstanzen den Vortrag des Klägers zum Unfallhergang nicht als streitig ansehen. Das Bestreiten seitens der Streithelferin ist gemäß § 67 Satz 1 ZPO unbeachtlich, weil es in Widerspruch zum Vortrag der von ihr unterstützten Beklagten steht. Für die Frage, ob ein Widerspruch in diesem Sinne vorliegt, ist auch im Anwaltsprozess unerheblich, ob die widersprechenden Angaben von der unterstützten Partei oder von ihrem Anwalt stammen. Ein Streithelfer darf nur dann abweichend von der unterstützten Partei vortragen, wenn er gemäß § 69 ZPO als Streitgenosse gilt. Diese Voraussetzungen liegen bei einem Haftpflichtversicherer nicht vor.

Praxistipp: Der Widerspruch der Versicherungsnehmerin gegen den Vortrag des Haftpflichtversicherers führt zu Beschränkungen der Interventionswirkung nach § 68 ZPO. Er kann darüber hinaus Auswirkungen auf die Deckungspflicht haben.