Anwaltsblog: Welche Pflichten treffen den Rechtsanwalt, der selbst einen fristgebundenen Schriftsatz aus dem beA versendet?

Übermittelt ein Rechtsanwalt einen fristgebundenen Schriftsatz per beA, entsprechen seine Sorgfaltspflichten denjenigen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Dabei gehört die korrekte Eingabe der Empfängernummer zu seinen Sorgfaltsanforderungen. Ob hiervon ausgehend eine Prozessbevollmächtigte, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet ist, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Mit einem an das Landgericht Berlin adressierten Schriftsatz hat die Klägerin Berufung gegen das Urteil des AG Berlin-Schöneberg eingelegt. Dieser Schriftsatz ist als elektronisches Dokument über das beA an das Amtsgericht versandt worden, wo er am letzten Tag der Rechtsmittelfrist -eingegangen ist. Beim (zuständigen) Landgericht ist er nach Weiterleitung durch das Amtsgericht erst nach Fristablauf eingegangen. Ihren Wiedereinsetzungsantrag hat die Klägerin wie folgt begründet: Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsschrift am Vormittag des Tags des Fristablaufs diktiert und nach Vorlage des Diktats und Kontrolle des Schriftsatzes eigenhändig unterschrieben. Sie habe anschließend eine Mitarbeiterin angewiesen, die Berufungsschrift sofort in ihr beA für den Versand einzustellen. Gegen 14 Uhr habe die Kanzleimitarbeiterin ihr mitgeteilt, die beA-Nachricht sei mit Ausnahme der qualifizierten elektronischen Signatur sofort versandfertig an das Berufungsgericht. Die Prozessbevollmächtigte habe sich sofort in ihren beA-Account eingeloggt, die Berufungsschrift sowie die Anlage jeweils einzeln mit ihrer qualifizierten elektronischen Signatur versehen und den „Senden-Button gedrückt“. Anschließend habe sie die Akte wieder an die Angestellte mit der Anweisung übergeben, den Versand zu überprüfen. Auf spätere Nachfrage habe diese versichert, der Versand sei ordnungsgemäß erfolgt. Tatsächlich aber sei durch ein unerklärliches Versehen der Mitarbeiterin beim Einstellen der beA-Nachricht in das Postfach der Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Auswahl des Empfängers über die globale Adressliste das Amtsgericht Schöneberg anstelle des Landgerichts Berlin ausgesucht worden, obwohl die Berufungsschrift (richtig) an das Landgericht adressiert gewesen sei.

Der Wiedereinsetzungsantrag hat keinen Erfolg. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte, als sie die Berufungsschrift selbst über das beA versandte, ohne Weiteres und rechtzeitig die Fehlerhaftigkeit der zuvor von ihrer Mitarbeiterin getroffenen Auswahl des Amtsgerichts als Empfänger der Nachricht erkennen können und korrigieren müssen. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Entschließt er sich, einen fristgebundenen Schriftsatz selbst bei Gericht einzureichen, hat er auch in diesem Fall geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen fristgerechten Eingang zu gewährleisten.    Hiervon ausgehend war die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist. Dies hat sie nicht mit der gebotenen Sorgfalt getan. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin konnte beim Versand der Berufungsschrift aus der beA-Webanwendung den Adressaten ihrer Nachricht – ähnlich einer E-Mail – dem deutlich sichtbaren Empfängerfeld entnehmen. Für sie war somit erkennbar, wohin sie die beA-Nachricht schickt, wenn sie, wie von ihr ausgeführt, auf den „Senden-Button gedrückt“ hat. Es musste ihr ohne Weiteres auffallen, dass es sich bei dem ausgewählten Amtsgericht nicht um das zuständige Gericht für die Einlegung einer Berufung handeln konnte. Zudem muss ein Rechtsanwalt, auch soweit er sich grundsätzlich auf seine Mitarbeiter verlassen kann, selbst tätig werden und für die ordnungsgemäße Erfüllung der betreffenden Aufgabe Sorge tragen, wenn für ihn bei gehöriger Aufmerksamkeit und Sorgfalt erkennbar ist, dass seinem Büropersonal im Rahmen des ihm übertragenen Aufgabenkreises Fehler unterlaufen sind oder es Anweisungen nicht beachtet hat. Dies ist hinsichtlich des von der Kanzleimitarbeiterin im beA ersichtlich unzutreffend ausgewählten erstinstanzlichen Gerichts als Adressat für die Berufungsschrift der Fall. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte ohne weiteres – insbesondere ohne Abgleich mit dem Schriftsatz – und rechtzeitig erkennen können, dass ihre Mitarbeiterin nicht das richtige Gericht im Empfängerfeld der beA-Nachricht ausgewählt hatte, und hätte dies vor dem Absenden korrigieren müssen.

(BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 – VIII ZB 60/22)

 

Fazit: Ein Prozessbevollmächtigter, der den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vornimmt, ist verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihm durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als das richtige Empfangsgericht adressiert ist.

Anwaltsblog: Wann beginnt bei einer Urteilsberichtigung die Berufungsfrist?

Wann beginnt die Rechtsmittelfrist, wenn die dem Rechtsmittelführer zugestellte Ausfertigung des Urteils einen Mangel aufweist und das Gericht auf entsprechenden Hinweis des Rechtsmittelführers diesem – nach Rückgabe der mangelbehafteten Ausfertigung – eine mit dem Original des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zustellt? Diese Frage stellte sich dem X. Zivilsenat:

Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde am 2. September 2021 eine beglaubigte Abschrift eines Urteils des Patentgerichts zugestellt, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen. Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle, und bat um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei. Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und mit dem Original übereinstimmenden Abschriften zugestellt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am 27. September 2021 zugestellt worden. Ihre Berufungsschrift ist am 27. Oktober 2021 beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist.

Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat eingelegt worden ist. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist hat im Streitfall mit der Zustellung vom 2. September 2021 begonnen. Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte. Entscheidend ist, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist, oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist. Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen. Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Die am 2. September 2021 in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am 27. Oktober 2021 nicht eingehalten worden.

(BGH, Urteil vom 17. Oktober 2023 – X ZR 96/21)

 

Fazit: Die Berichtigung eines Urteils gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit hat grundsätzlich keinen Einfluss auf Beginn und Lauf der Rechtsmittelfrist. Gegen das berichtigte Urteil findet nur das gegen das ursprüngliche Urteil zulässige Rechtsmittel statt, und die Frist zu seiner Einlegung läuft (schon) von der Zustellung der unberichtigten Urteilsfassung an. Den Parteien wird zugemutet, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels eine offenbare Unrichtigkeit des Urteils zu berücksichtigen, schon bevor dieses gemäß § 319 ZPO berichtigt wird (BGH, Beschluss vom 9. November 2016 – XII ZB 275/15 –, MDR 2017, 228).

Anwaltsblog: (Klassischer) beA-Anwendungsfehler – sicherer Übermittlungsweg nicht gewahrt!

Elektronische Dokumente, die von Rechtsanwälten an Gerichte übermittelt werden, müssen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden, wie der Kartellsenat des BGH betont:

Eine am letzten Tag der Frist als elektronisches Dokument übermittelte Beschwerdebegründung wurde nicht qualifiziert, sondern lediglich einfach signiert. Versendet wurde sie nicht aus dem beA des Rechtsanwalts B oder des Rechtsanwalts C, die beide das Dokument einfach signiert haben, sondern aus dem beA der Rechtsanwältin D, die das Dokument nicht signiert hat. Ein (einfach) signiertes Dokument muss auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 130a Abs. 3 ZPO). Als sicher gilt gemäß § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO der Übermittlungsweg zwischen einem beA und der elektronischen Poststelle des Gerichts. Voraussetzung ist, dass die den Schriftsatz verantwortende Person das Dokument selbst versendet. Weil dies nicht der Fall war und die Begründung somit nicht der gesetzlichen Form entspricht, wurde die Begründungsfrist nicht gewahrt.

Es ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Partei muss sich das Verschulden von Rechtsanwältin D zurechnen lassen. Gemäß § 85 Abs. 2 ZPO steht das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich. Als Bevollmächtigter ist auch ein Rechtsanwalt anzusehen, der als Angestellter oder freier Mitarbeiter des Verfahrensbevollmächtigten von diesem mit der selbstständigen Bearbeitung eines Rechtsstreits betraut worden ist und der nicht als bloßer Hilfsarbeiter in untergeordneter Funktion tätig geworden ist. Nach diesem Maßstab ist Rechtsanwältin D als Bevollmächtigte anzusehen. Rechtsanwältin D hat an der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde umfangreich mitgewirkt und wurde von Rechtsanwalt B zur Einreichung der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung unterbevollmächtigt. Danach hätte Rechtsanwältin D die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung signieren und aus ihrem beA versenden müssen. Sie hätte also nach außen hin den Inhalt der Beschwerdebegründung verantworten sollen. Diese Tätigkeit geht über eine bloße Hilfstätigkeit hinaus. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte Rechtsanwältin D erkennen müssen, dass die Einreichung eines nicht von ihr signierten Schriftsatzes über ihr beA nicht den Formerfordernissen des § 130a Abs. 3 ZPO entspricht.

Ein Wiedereinsetzungsgrund ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer für das Versäumnis mitursächlichen Pflichtverletzung des Gerichts, weil der gerichtliche Hinweis auf die Fristversäumnis erst ca. 1,5 Jahre nach Einreichung des Schriftsatzes erfolgt ist. Die Fristversäumnis ist nicht deshalb als unverschuldet anzusehen, weil durch die verzögerte Hinweiserteilung die für eine Wiedereinsetzung regelmäßig erforderliche Glaubhaftmachung erschwert worden wäre, was im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG nicht der Prozesspartei angelastet werden darf. Es kann dahinstehen, ob die Verzögerung eines gerichtlichen Hinweises im besonderen Einzelfall dazu führen kann, dass eine Glaubhaftmachung der den Wiedereinsetzungsantrag begründenden Tatsachen nicht erforderlich ist. Denn der Wiedereinsetzungsantrag ist nicht aufgrund einer fehlenden Glaubhaftmachung der für eine Wiedereinsetzung relevanten Tatsachen unbegründet. Die schuldhafte Pflichtverletzung der Rechtsanwältin D steht vielmehr fest. Der Verfahrensbevollmächtigte eines Beteiligten muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. In seiner eigenen Verantwortung liegt es, das Dokument gemäß den gesetzlichen Anforderungen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen oder das einfach signierte elektronische Dokument auf einem sicheren Übermittlungsweg persönlich einzureichen, damit die Echtheit und die Integrität des Dokuments wie bei einer persönlichen Unterschrift gewährleistet sind. Dieser Verantwortung sind weder die Rechtsanwälte B und C, die die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung einfach signiert haben, noch Rechtsanwältin D, die den Schriftsatz ohne ihn zu signieren über ihr beA eingereicht hat, nachgekommen.

(BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – KVZ 64/21)

Fazit: Jeder beA-Nutzer muss sich die beiden Möglichkeiten der Übermittlung elektronischer Dokumente an Gerichte vergegenwärtigen. Wenn das Dokument nicht qualifiziert signiert ist, reicht die einfache Signatur (= Unterschrift) nur aus, wenn das Dokument aus dem beA des Signierenden versendet wird.

BGH: Zulässigkeit des erstmaligen Bestreitens in der Berufungsinstanz

Die Klägerin verlangt von einem Tierarzt Schadensersatz. Er hatte für sie eine Ankaufsuntersuchung für ein Pferd vorgenommen. Zuvor war sie bereits mit einer Klage gegen den Verkäufer des Pferdes gescheitert. Ein Sachverständiger hatte keine Mängel des Pferdes festgestellt. Die Klägerin berief sich nunmehr auf die von dem beklagten Tierarzt vorgenommene röntgenologische Untersuchung anlässlich des geplanten Ankaufs und machte geltend, sie hätte das Pferd nicht gekauft, wenn der Beklagte ihr die dabei ermittelten Ergebnisse in vollem Umfang mitgeteilt hätte. Das LG sah keine Mängel des Pferdes und wies die Klage ab.

Auf die Berufung der Klägerin gab das OLG der Klage überwiegend statt. Es sah eine Pflichtverletzung des Beklagten, da dieser die Ergebnisse seiner Untersuchung der Klägerin nicht vollständig und klar mitgeteilt hatte. Diese Pflichtverletzung seien ursächlich für den Kauf des Pferdes gewesen. Dies habe die Klägerin bereits vor dem LG behauptet und der Beklagte sei dem seinerzeit nicht entgegengetreten. Erst in der zweiten Instanz habe er die Kausalität seines Fehlers für die Ankaufsentscheidung der Klägerin in Frage gestellt. Deswegen sei er mit diesem Vortrag präkludiert. Eine Zulassung nach § 531 Abs. 2 ZPO käme nicht in Betracht.

Der BGH (Beschl. v. 27.9.2023 – VII ZR 113/22) folgt dem nicht. Nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist. Diese Vorschrift gilt nur unter der ungeschriebenen Voraussetzung, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert hat. Ein solcher Umstand liegt beispielsweise vor, wenn ein Gericht durch Prozessleitung bzw. Hinweise die Partei von weiterem Vortrag abgehalten und den Eindruck erweckt hat, der bisherige Vortrag sei ausreichend.

So lagen die Dinge hier. Für das LG war ersichtlich nur relevant, ob das Pferd mangelhaft war. Der neue Vortrag des Beklagten in der Berufungsinstanz zur bestrittenen Kausalität seiner Pflichtverletzung für die Ankaufsentscheidung der Klägerin betraf einen Umstand, den das LG für offensichtlich unerheblich gehalten hat. Damit war er zuzulassen.

Da das OLG somit die Präklusionsvorschrift des § 531 ZPO fehlerhaft angewendet hat, hat es den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Deswegen hat der BGH die Entscheidung des OLG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Fazit: Der BGH dehnt den Anwendungsbereich des § 531 ZPO immer weiter aus. Daraus folgt: Bei der Annahme einer Präklusion durch die Berufungsgerichte ist stets besondere Vorsicht geboten.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Widerruf eines prozessualen Anerkenntnisses.

Widerruf eines prozessualen Anerkenntnisses wegen Änderung relevanter Umstände
BGH, Beschluss vom 20. September 2023 – XII ZB 177/22

Der XII. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen von § 323 Abs. 1 ZPO in einem Verfahren wegen Kindesunterhalt.

Die im Jahr 2011 geborene Antragstellerin, die bei ihrer vom Antragsgegner geschiedenen Mutter lebt, verlangt von ihrem Vater Kindesunterhalt in Höhe von rund 3.000 Euro pro Monat. In erster Instanz ist der Antragsgegner dem Begehren zunächst nur insoweit entgegengetreten, als es über einen Betrag hinausgeht, der 272 % des Mindestunterhalts nach der Düsseldorfer Tabelle entspricht. Später hat er geltend gemacht, nur 200 % des Mindestunterhalts zu schulden, und mit einem Widerantrag die Erstattung überzahlter Beträge gefordert.

Das AG hat der Antragstellerin monatlichen Unterhalt in Höhe von rund 2.200 Euro zugesprochen. Das OLG hat diesen Betrag auf rund 1.800 Euro reduziert.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück, weil dieses mehrere Unterhaltsposten rechtsfehlerhaft beurteilt hat – überwiegend zu Lasten der Antragstellerin, hinsichtlich eines Punkts zu Lasten des Antragsgegners.

Der BGH tritt dem OLG jedoch darin bei, dass der Antragsgegner an sein Teilanerkenntnis hinsichtlich eines Betrags von 272 % des Mindestunterhalts (rund 1.300 Euro) gebunden ist. Ein Anerkenntnis im Sinne von § 307 ZPO darf zwar widerrufen werden, wenn nachträglich Änderungen eintreten, die nach § 323 Abs. 1 ZPO zur Änderung des Unterhaltstitels führen. Der vom Antragsgegner geltend gemachte Umstand, die Düsseldorfer Tabelle sei nach einer Änderung der BGH-Rechtsprechung (BGH, B. v. 16.9.2020 – XII ZB 499/19, BGHZ 227, 41= MDR 2020, 1447) entgegen seiner Erwartung nicht bis auf eine Stufe von 272 % des Mindestsatzes erweitert worden, sondern nur bis 200 %, reicht hierfür aber nicht aus.

Änderungen der Düsseldorfer Tabelle sind kein Abänderungsgrund im Sinne von § 323 Abs. 1 ZPO. Sie bilden zwar Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse ab, stellen aber selbst keine solche Veränderung dar. Die Erwartung des Antragsgegners, die Düsseldorfer Tabelle werde bis auf einen Satz von 272 % ergänzt, ist in diesem Zusammenhang erst recht nicht relevant.

Praxistipp: Um Unklarheiten zu vermeiden, sollten Bezugnahmen auf die Düsseldorfer Tabelle in Unterhaltsvereinbarungen dynamisch ausgestaltet, also auf die jeweils gültige Fassung der Tabelle gerichtet werden.

Anwaltsblog: beA – Rechtsmittel unwirksam wegen falschen Dateiformats

Welche Rechtsfolgen die Übermittlung einer Rechtsmittelschrift im falschen Dateiformat hat, musste das Bundesverwaltungsgericht klären:
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihm am 30. Juni 2022 zugestellten Beschluss am 1. Juli 2022 beim Sächsischen OVG Beschwerde durch Übermittlung eines maschinenschriftlich signierten Beschwerdeschriftsatzes im Dateiformat „docx“ über das besondere Anwaltspostfach eingelegt. Ein weiteres, handschriftlich unterzeichnetes Exemplar der Beschwerdeschrift ist postalisch am 4. Juli 2022 beim OVG eingegangen. Das OVG hat die Beschwerde am 13. Juli 2022 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Der dort zuständige Berichterstatter hat den Prozessbevollmächtigten des Klägers unter dem 28. Juli 2022 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde unwirksam eingegangen sei, weil sie im docx-Format und damit nicht in dem nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 ERVV vorgesehenen Format übermittelt worden sei, das Dokument aber als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen gelte, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreiche und glaubhaft mache, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimme. Darauf hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht reagiert.
Die Beschwerde ist unzulässig, weil sie innerhalb der Beschwerdefrist von zwei Wochen nicht formgerecht eingereicht worden ist. Bis Fristablauf ist die Beschwerde weder beim OVG, dessen Entscheidung angefochten wird, noch beim BverwG als zuständigem Beschwerdegericht formgerecht eingereicht worden. Die postalische Einlegung der Beschwerde durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 4. Juli 2022 ist unwirksam. Denn nach dem am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Bei Nichteinhaltung ist die Prozesserklärung nicht wirksam. Auch die elektronische Einreichung der Beschwerdeschrift beim OVH durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 1. Juli 2022 entspricht nicht den Formvorgaben. Zwar war die Beschwerdeschrift mit dem maschinenschriftlichen Namenszug (einfach) signiert und wurde vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach (§ 31a BRAO) und damit auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 55a Abs. 4 Nr. 2 VwGO an die elektronische Poststelle des Gerichts gesandt. Jedoch ist der elektronisch übermittelte Beschwerdeschriftsatz nicht zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet, weil er im falschen Dateiformat eingereicht wurde. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung) ist das elektronische Dokument im Dateiformat PDF zu übermitteln. Grund hierfür ist, dass sich dieses Dateiformat im Rahmen des elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehrs zum Standardformat entwickelt hat und für die Kommunikation im elektronischen Rechtsverkehr besonders geeignet ist. Die Festlegung eines einheitlichen Dateiformates ermöglicht die reibungslose Weiterverarbeitung und elektronische Aktenführung durch die Gerichte, Behörden und anderen Teilnehmer am elektronischen Rechtsverkehr. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV ist die Übermittlung des elektronischen Dokuments im Dateiformat PDG zwingend.
Der Formmangel ist auch nicht geheilt worden. Ist ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet, ist dies dem Absender unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs unverzüglich mitzuteilen (§ 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO). Das Dokument gilt als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt (§ 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO). Trotz Hinweises ist das nicht geschehen.
(Beschluss des Fachsenats vom 4. Oktober 2022 – BVerwG 20 F 15.22)

Fazit: Auch die anderen Verfahrensordnungen kennen eine entsprechende Heilungsmöglichkeit. Voraussetzung ist jeweils, dass der Absender das elektronische Dokument „unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt.“ (vgl. § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO).

Montagsblog: Neues vom BGH

Im Montagsblog Nr. 300 geht es um die teilweise Überlassung gemieteten Wohnraums an Dritte.

Teilweise Gebrauchsüberlassung bei Einzimmerwohnung
BGH, Urteil vom 13. September 2023 – VIII ZR 109/22

Der VIII. Zivilsenat befasst sich mit dem Tatbestand des § 553 Abs. 1 BGB.

Der Kläger ist seit dem Jahr 2000 Mieter einer Einzimmerwohnung in Berlin. Im Jahr 2021 bat er die beklagten Vermieter wegen eines beruflichen Auslandsaufenthalts um die Erlaubnis, die Wohnung für rund 18 Monate an einen namentlich benannten Dritten unterzuvermieten. Die Beklagten lehnten dies ab.

Die auf Erlaubnis der Untervermietung eines Teils der Wohnung gerichtete Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Das LG hat die Beklagten antragsgemäß verurteilt

Die Revision der Beklagten bleibt erfolglos.

Das LG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Untervermietung eines „Teils des Wohnraums“ im Sinne von § 553 Abs. 1 Satz 1 BGB auch bei einer Einzimmerwohnung in Betracht kommt. Dieses Merkmal ist regelmäßig bereits dann erfüllt, wenn der Mieter den Gewahrsam an dem vermieteten Wohnraum nicht vollständig aufgibt.

Im Streitfall betrifft die Untervermietung danach nur einen Teil des Wohnraums, weil der Kläger während seiner Abwesenheit in einem Schrank und einer Kommode persönliche Gegenstände aufbewahrt hat, und zwar in einem durch einen Vorhang abgetrennten, nur von ihm zu nutzenden Teil des Flurs von der Größe eines Quadratmeters, und weil er im Besitz eines Wohnungsschlüssels geblieben ist.

Der befristete Auslandsaufenthalt des Klägers und sein Wunsch, seine Mietaufwendungen während dieses Zeitraums zu verringern, begründen ein berechtigtes Interesse an der Untervermietung. Besondere Gründe, die die Untervermietung für die Beklagten unzumutbar machen könnten, sind nicht ersichtlich.

Dass der Kläger die Wohnung trotz Versagung der Erlaubnis untervermietet hat, begründet zwar eine Vertragsverletzung. Diese berechtigt die Beklagten aber nicht zur fristlosen Kündigung, weil sie zur Erteilung der Erlaubnis verpflichtet waren.

Praxistipp: Die von der Untervermietung betroffenen Teile der Wohnung müssen im Klageantrag, jedenfalls aber in der Klagebegründung hinreichend konkret bezeichnet werden.

Anwaltsblog: Wann ist ein Grundurteil zulässig?

Mit den Voraussetzungen für den Erlass eines Grundurteils hatte sich der VIII. Zivilsenat des BGH zu befassen:
Der Kläger als ehemaliger Mieter und die Klägerin als Rentenversicherungsträgerin nehmen die Vermieterin auf Schadensersatz in Anspruch. Der Kläger erlitt am 23. Dezember 2011 während des Badens einen Atemstillstand. Er behauptet, diese Vergiftung sei durch aus der Gastherme im (fensterlosen) Bad ausströmendes Kohlenmonoxid verursacht worden, deren letzte Wartung unzureichend gewesen sei. Der Kläger ist seitdem arbeitsunfähig und bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente. Mit seiner Klage hat er beantragt, die Beklagte zur Zahlung von Verdienstausfall, einer monatlichen Entschädigungsrente sowie eines angemessenen Schmerzensgeldes zu verurteilen. Zudem hat er beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm die Schäden aus dem Gasthermenunfall vom 23. Dezember 2011 zu ersetzen. Die Klägerin hat aus übergegangenem Recht beantragt, die Beklagte zur Zahlung von erbrachten Leistungen und entgangener Beiträge zu verurteilen. Ferner hat sie u.a. beantragt festzustellen, dass die Beklagte die künftigen Erwerbsunfähigkeitsleistungen sowie die künftigen Heilbehandlungskosten wegen des Unfalls vom 23. Dezember 2011 zu erstatten habe. Das Landgericht hat ein Grundurteil erlassen, wonach die Klage dem Grunde nach berechtigt ist. Die Berufung der Beklagten hat das Kammergericht zurückgewiesen.
Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Das vom Landgericht erlassene und vom Berufungsgericht bestätigte Grundurteil ist verfahrensfehlerhaft ergangen. Nach § 304 Abs. 1 ZPO kann das Gericht über den Grund vorab entscheiden, wenn ein Anspruch nach Grund und Höhe streitig und lediglich der Streit über den Anspruchsgrund entscheidungsreif ist. Dies erfordert, dass grundsätzlich alle Fragen, die zum Grund des Anspruchs gehören, erledigt sind und nach dem Sach- und Streitstand zumindest wahrscheinlich ist, dass der Anspruch in irgendeiner Höhe besteht. Eine entsprechende Trennung in ein Grund- und Betragsverfahren setzt einen Anspruch voraus, der auf die Zahlung von Geld gerichtet ist. Deswegen scheidet ein Grundurteil über einen unbezifferten Feststellungsantrag aus. Daher durfte über die Feststellungsanträge der Kläger nicht durch Grundurteil entschieden werden. Selbst wenn man annähme, das Berufungsgericht habe lediglich über die Zahlungsanträge der Kläger entscheiden wollen, würde dies an der Fehlerhaftigkeit der Entscheidung nichts ändern. Denn es läge dann ein unzulässiges Teilurteil vor, weil bei objektiver Klagehäufung von Leistungs- und Feststellungsbegehren, die aus demselben tatsächlichen Geschehen hergeleitet werden, aufgrund der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen nicht durch Teilurteil gesondert über einen Teil der Ansprüche entschieden werden darf.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist überdies deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es den Mangel der Mietsache, der ursächlich für den Austritt von Kohlenmonoxid und damit für die Gesundheitsverletzung des Klägers gewesen sei, (allein) in der Verschmutzung des Wärmetauschers der Gastherme gesehen hat, ohne den Vortrag der Beklagten hinreichend zu berücksichtigen. Die Beklagte hat bestritten, dass der Wärmetauscher am Unfalltag verschmutzt gewesen sei und dies durch die Vernehmung des Bezirksschornsteinfegermeisters sowie des Notfallschornsteinfegers unter Beweis gestellt. Anders als das Berufungsgericht gemeint hat, ist der Vortrag der Beklagten hinreichend substantiiert. Ein Sachvortrag ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Gemessen hieran hat die Beklagte ausreichend dargelegt, dass nach ihrer Auffassung der Wärmetauscher am Unfalltag nicht verschmutzt gewesen sei, weil derartige Verschmutzungen von den benannten, am Unfalltag in der Mietwohnung anwesenden Zeugen nicht festgestellt worden seien. Näheren Vortrag zum genauen Verschmutzungszustand und zu der Art der Untersuchung des Wärmetauschers durch die Zeugen konnte und musste die Beklagte, die im Gegensatz zu den beiden als Zeugen benannten Schornsteinfegern selbst am Unfalltag nicht vor Ort war, nicht halten. Sie musste insbesondere keine Ausführungen dazu machen, welche konkreten Untersuchungen die Zeugen an der Gastherme vorgenommen hatten. Die weitergehende Annahme des Berufungsgerichts, es erscheine „unwahrscheinlich“, dass am Unfalltag eine genaue Untersuchung des Wärmetauschers auf Verschmutzungen stattgefunden habe, stellt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung dar.
(BGH, Urteil vom 20. September 2023 – VIII ZR 432/21)

Fazit: Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten (BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Übergehen eines Beweisangebots.

Erheblichkeit eines Beweisangebots
BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Der VI. Zivilsenat hebt ein OLG-Urteil wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auf. 

Der im Jahr 2007 geborene Kläger verlangt von den Beklagten – einem Klinikum und einer dort tätigen Hebamme – Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro zugesprochen und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller weiteren Schäden festgestellt.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das OLG zurück. 

Das OLG hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es von der Vernehmung von drei behandelnden Ärzten abgesehen hat. Die Beklagten haben die Zeugen zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Mutter des Klägers erst beim Hinzutreten der Ärzte von einer zu Hause aufgetretenen vaginalen Blutung berichtet habe, nicht hingegen schon bei der Aufnahme durch die beklagte Hebamme. Wenn die unter Beweis gestellte Behauptung zutrifft, kann der Hebamme nicht vorgeworden werden, die Ärzte zu spät hinzugezogen zu haben. 

Praxistipp: Lässt das Berufungsgericht schon in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erkennen, dass es bestimmte Beweisangebote nicht berücksichtigen wird, muss dies noch in der Berufungsinstanz gerügt werden, und zwar innerhalb der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine auf diesen Gesichtspunkt gestützte Nichtzulassungsbeschwerde schon aus Gründen der Subsidiarität erfolglos bleibt.

Anwaltsblog: Wann ist eine „Rubrumsberichtigung“ auf Beklagtenseite zulässig?

Mit der Abgrenzung zwischen einer – im Gesetz nicht geregelten – „Rubrumsberichtigung“ und einem für den Kläger mit Kosten belasteten Parteiwechsel hatte sich der XII. Zivilsenat des BGH auseinanderzusetzen:
Der Kläger hat mit seiner – laut Bezeichnung in der Klageschrift – gegen die „Autohaus P. A. GmbH & Co KG“ gerichteten Klage diese auf Räumung des Pachtobjekts verklagt. Der als Anlage beigefügte Pachtvertrag weist P. A. – den Geschäftsführer der Komplementärin der KG – als Pächter aus. Nachdem das Landgericht hat auf Antrag des Klägers durch Beschluss eine „Berichtigung“ des Rubrums auf der Beklagtenseite vorgenommen und darin P. A. als Beklagten bezeichnet hatte, hat es diesen durch Urteil zur Räumung verurteilt. Das OLG hat die Berufung des Beklagten verworfen. Er zeige nicht auf, aufgrund welchen Fehlers das Urteil gegen ihn zu Unrecht ergangen sein solle. Es werde zwar beanstandet, dass das Landgericht verfahrensfehlerhaft lediglich das Passivrubrum berichtigt habe, anstatt eine prozessordnungsgemäße Klageänderung mit Rücknahme der Klage gegenüber der ursprünglich beklagten KG in Verbindung mit der Erhebung einer neuen Klage gegenüber dem Beklagten vorzunehmen. Es sei allerdings die Entscheidungserheblichkeit dieses Verfahrensfehlers nicht dargelegt. Die Verwerfung der Berufung wird vom BGH gebilligt. Die von dem Beklagten ausdrücklich beanstandete „Rubrumsberichtigung“ genügt zur Berufungsbegründung nicht. Bei einer „Rubrumsberichtigung“ vor Urteilserlass handelt es sich um einen im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Beschluss, mit dem das Gericht im Bedarfsfall seine Auffassung darüber mitteilt, wen es aufgrund der von ihm vorgenommenen Auslegung der Klageschrift als Partei ansieht. Ein solcher, vor Urteilserlass ergangener „Berichtigungsbeschluss“ ist kein Fall des § 319 Abs. 1 ZPO, weil nach dieser Vorschrift nur solche offenbaren Unrichtigkeiten berichtigungsfähig sind, die in dem Urteil selbst enthalten sind. Vielmehr handelt es sich um eine in Beschlussform gehaltene prozessleitende Verfügung des Gerichts, die keine Bindungswirkung entfaltet und jederzeit abgeändert werden kann. Wer diejenige Person ist, die durch die Parteibezeichnung als „Beklagter“ in der Klageschrift betroffen werden soll, ist vom Gericht durch eine frei vorzunehmende Auslegung der in der Klageschrift zum Ausdruck gekommenen prozessualen Willenserklärung zu klären. Bei der Auslegung dieser Prozesserklärung ist nicht nur die im Rubrum der Klageschrift gewählte äußere Bezeichnung der Partei, sondern auch der gesamte Inhalt der Klageschrift einschließlich etwaiger beigefügter Anlagen zu berücksichtigen. Entsprechend dem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ darf die Klageerhebung gegen die in Wahrheit gemeinte Partei nicht aufgrund einer objektiv unrichtigen oder mehrdeutigen Parteibezeichnung in der Klageschrift scheitern, solange nur aus deren Inhalt und ihren Anlagen sowie den weiter zu berücksichtigenden Umständen deutlich wird, welche Person tatsächlich von der Parteibezeichnung in der Klageschrift betroffen werden soll. Von der fehlerhaften Parteibezeichnung zu unterscheiden ist die irrtümliche Benennung einer am materiell-rechtlichen Rechtsverhältnis nicht beteiligten Person als Partei. Erlässt das Gericht nach einer fehlerhaften Auslegung der Klageschrift ein Sachurteil gegen eine Person, die von der Parteibezeichnung in der Klageschrift tatsächlich nicht betroffen ist und mit der ein Prozessrechtsverhältnis nicht bestanden hat („Scheinbeklagter“), kann sich diese bis zur Feststellung, nicht verklagt worden zu sein, am weiteren Rechtsstreit beteiligen und insbesondere den Rechtsbehelf ergreifen, der zur Beseitigung des gegen sie ergangenen Titels vorgesehen ist. Ein gegen den Scheinbeklagten ergangenes Sachurteil muss durch das Berufungsgericht aufgehoben und die Sache an das vorinstanzliche Gericht zurückverwiesen werden, um dort die bislang unterbliebene Sachentscheidung gegenüber dem in Wahrheit gemeinten Beklagten herbeizuführen.
(BGH, Beschluss vom 5. Juli 2023 – XII ZB 539/22 – MDR 2023, 1202)

Fazit: Für die Zulässigkeit einer Rubrumsberichtigung kommt es darauf an, ob mit ihr die Identität gewahrt bleibt oder es sich in Wirklichkeit um einen Parteiwechsel handelt (Feskorn in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 319 Rn. 19). Zur Auslegung der Parteibezeichnung ist der gesamte Inhalt der Klageschrift einschließlich Anlagen zu berücksichtigen. Wird daraus unzweifelhaft deutlich, welche Partei wirklich gemeint ist, so steht der entsprechenden Auslegung auch nicht entgegen, dass der Kläger irrtümlich die Bezeichnung einer tatsächlich existierenden, am materiellen Rechtsverhältnis nicht beteiligten Person gewählt hat.