Strukturierung des Parteivortrags – Brauchen wir mehr Einvernehmen zwischen Parteien und Gerichten?

Vor dem Hintergrund der künftigen Digitalisierung des Zivilprozesses wird aktuell besonders intensiv über die Strukturierung des Parteivortrags mittels eines so genannten elektronischen Basisdokuments diskutiert (vgl. dazu Zwickel, MDR 2021, 716 ff.). Kern der Idee ist, dass die beiden Parteien des Zivilprozesses ihren Tatsachenvortrag unter gemeinsamen Überschriften gegenüberstellen. Auf Gerichtsseite lässt sich daraus eine so genannte Relationstabelle erstellen, die das Auffinden streitiger bzw. unstreitiger Tatsachen erleichtert. Derartige Vorschläge in Richtung einer Vereinheitlichung von Parteischriftsätzen werden vor allem mit dem Einwand kritisiert, die Anwaltschaft sei kein Hilfsorgan der Justiz.

In Frankreich ist kürzlich der Abschlussbericht der vom französischen Staatspräsidenten initiierten so genannten Generalstände der Justiz (Etats généraux de la justice) erschienen. An den Etats généraux de la Justice haben nach Angaben des französischen Justizministeriums etwa 50.000 Personen (Bürger/-innen, Richter/-innen, Beamte/Beamtinnen, Wissenschaftler/-innen) teilgenommen. Der Bericht enthält auch Ideen zur Strukturierung der zivilprozessualen Schriftsätze, die als Schlüsselinstrument des künftigen, digitalen Zivilprozesses bezeichnet werden („Cet outil numérique sera, à l’avenir, l‘ une des clefs d’une procédure civile modernisée.“).

Drei Aspekte stechen in diesem Zusammenhang besonders hervor:

  • Die Vertretungen der Anwältinnen und Anwälte sollen, in Kooperation mit der Justiz, landesweit gültige Leitfäden (trames des écritures) für eine digitale Schriftsatzstruktur erarbeiten. Auf lokaler Ebene sollten diese ggf. auf bestimmte Streitgegenstände zugeschnittenen Schriftsatzmuster dann an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden. Rigide Rechtsregeln zur Stukturierung der Parteischriftsätze (Beschränkungen des Umfangs, etc.) werden von der Arbeitsgruppe explizit abgelehnt.
  • Zu Beginn eines zivilprozessualen Verfahrens soll neben einem rein formalen Termin ein zusätzlicher Termin für einen „nützlichen Dialog“ (dialogue utile) zur einvernehmlichen Gestaltung des Verfahrensablaufs etabliert werden. In diesem „Erörterungstermin“ kann dann auch eine Schriftsatzstruktur festgezurrt werden. Zudem soll sondiert werden, ob eine einvernehmliche Streitbeilegung in Betracht kommt. Neben der ihrer Bedeutung angemessenen Behandlung der jeweiligen Streitsache (prozessuales Verhältnismäßigkeitsprinzip) soll dadurch ein künftig in den Code de procédure civile aufzunehmendes Prinzip der Kooperation von Parteien und Gericht in die Praxis umgesetzt werden.
  • Zusätzlich zur Strukturierung des Parteivortrags sollen Überlegungen angestellt werden, welche Schriftsatzstruktur für eine Strukturierung zivilgerichtliche Urteile geeignet ist. Idealerweise sollen sich, so die Vorstellung der Arbeitsgruppe, Struktur der Parteischriftsätze und Urteilsstruktur vor dem Hintergrund von Open Data von Gerichtsentscheidungen, decken.

Besonders interessant ist an all diesen Vorschlägen, dass mit Frankreich nun ausgerechnet ein Land, in dem es schon sehr rigide zivilprozessuale Vorschriften für die Gestaltung von Schriftsätzen gibt (z.B. Art. 768 CPC), für die Feinstrukturierung des Prozessstoffs auf einvernehmlich erarbeitete Strukturen setzt.

Auch wenn sich diese französischen Vorschläge möglicherweise nicht (vollständig) für eine Übernahme in das deutsche Recht eignen, geben sie doch mehrere Denkanstöße für die deutsche Strukturierung des Prozessstoffs:

  1. Sollte das elektronische Basisdokument nicht in eine von Gericht und Parteien einvernehmlich erarbeitete Strukturierung des gesamten Verfahrensablaufs eingebettet werden?
  2. Kann die relativ grobe Struktur des elektronischen Basisdokuments, das derzeit letztlich nur Texte unterhalb von Überschriften einordnet, nicht durch zwischen Anwaltschaft und Gerichten ausgehandelte Strukturierungsleitfäden nach Art einer Formularsammlung für bestimmte Streitgegenstände verfeinert werden?
  3. Wäre nicht Parteien, Gericht und perspektivisch der Öffentlichkeit gleichermaßen gedient, wenn sich eine solche, auf Einvernehmen von Parteien und Gericht beruhende Struktur auch im Urteil niederschlagen würde?
  4. Bieten im Einvernehmen erarbeitete Strukturen nicht besondere Chancen auf einvernehmliche Streitbeilegung und damit entscheidende Verkürzungen der Verfahrensdauern?

Kurzgefasst: Fahren wir in Sachen Strukturierung des Prozessstoffs nicht mit einvernehmlich erarbeiteten Strukturen besser als mit zwingend (durch digitale Tools) vorgegebenen Strukturen?

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anforderungen an einen elektronischen Schriftsatz.

Einfache Signatur eines elektronischen Schriftsatzes
BGH, Beschluss vom 7. September 2022 – XII ZB 215/22
BAG, Beschluss vom 25. August 2022 – 2 AZN 234/22

Mit den Anforderungen aus § 130a Abs. 3 ZPO befassen sich der XII. Zivilsenat des BGH und der 2. Senat des BAG in zwei kurz nacheinander ergangenen Entscheidungen.

In dem vom BGH entschiedenen Fall wurde der Antragsgegner vom AG zur Zahlung von Kindesunterhalt verurteilt. Seine Rechtsanwältin legte am letzten Tag der Frist mittels eines aus ihrem besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) versandten elektronischen Schriftsatzes Berufung ein. Der Schriftsatz war nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Der darin enthaltene Text schloss mit dem Wort „Rechtsanwältin“ – ohne Namensangabe. Das OLG verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners bleibt erfolglos.

Die Berufungsschrift genügt nicht den in § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG und § 130a Abs. 3 ZPO normierten Formerfordernissen. Nach der Ausnahmevorschrift in § 130a Abs. 3 Satz 2 ZPO bedurfte der Schriftsatz zwar keiner qualifizierten elektronischen Signatur, weil der Versand aus beA gemäß § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO einen sicheren Übermittlungsweg darstellt. Nach § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO muss das Dokument in diesem Fall aber zumindest eine einfache elektronische Signatur enthalten. Dies erfordert nach Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 die Wiedergabe des Namens am Ende des Textes. Die bloße Angabe „Rechtsanwältin“ reicht hierfür nicht aus.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat das OLG ebenfalls zutreffend versagt. Ein etwaiger Rechtsirrtum der Prozessbevollmächtigten beruhte auf Fahrlässigkeit. Der im elektronischen Prüfprotokoll enthaltene Vermerk „Sämtliche durchgeführten Prüfungen lieferten ein positives Ergebnis“ konnte schon deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen in die Formwirksamkeit des Schriftsatzes begründen, weil das Protokoll zusätzlich auch den Vermerk „keine Signatur gefunden“ enthält.

In dem vom BAG entschiedenen Fall wandte sich die Beklagte mit einer als elektronisches Dokument eingereichten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde gegen die von den Vorinstanzen ausgesprochene Feststellung, dass eine von ihr gegenüber dem Kläger ausgesprochene außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses unwirksam ist. Die beiden elektronischen Schriftsätze wurden von einem im Briefkopf als solcher ausgewiesenen Einzelanwalt aus dem beA versandt. Ihr Text endet mit dem Wort „Rechtsanwalt“, ohne Namensangabe.

Das BAG sieht die Nichtzulassungsbeschwerde als formwirksam an.

Auch nach der Rechtsprechung des BAG ist zwar grundsätzlich die Angabe des Namens am Ende des Schriftsatzes erforderlich. In der Konstellation des Streitfalls war diese Angabe aber entbehrlich, weil ohne weiteres erkennbar ist, dass die Bezeichnung „Rechtsanwalt“ den im Briefkopf ausgewiesenen Einzelanwalt bezeichnet.

Praxistipp: Eine qualifizierte Signatur ist nur dann entbehrlich, wenn der Anwalt, dessen Name am Ende des Schriftsatzes angegeben ist, den Schriftsatz aus seinem beA heraus versendet. Nicht ausreichend ist es, wenn der Versand durch einen anderen Anwalt oder durch eine Hilfskraft erfolgt. Um daraus resultierende Risiken zu minimieren, sollte jeder elektronische Schriftsatz sowohl mit einer einfachen als auch mit einer qualifizierten Signatur versehen werden.

BGH: Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten

Im Rahmen eines „Diesel-Verfahrens“ ging es in der Revisionsinstanz zuletzt nur noch um die Frage, ob die unterlegene Beklagte auch die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers zu erstatten hat. Der BGH (Beschl. v. 23.6.2022 – VII ZR 294/21) fasst in dieser Entscheidung die Voraussetzungen dafür gut zusammen. Als Anspruchsgrundlage war hier – wie in der Hauptsache – auch § 826 BGB einschlägig.

Die allgemeinen Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlage bejaht der BGH: Da es sich um einen nicht einfach gelagerten Sachverhalt handelte, durfte der Kläger sich veranlasst sehen, sogleich einen Rechtsanwalt einzuschalten, ohne zunächst selbst bei der Beklagten vorstellig zu werden. Soweit die Beklagte behauptet hatte, den Klägervertretern sei aufgrund allgemeiner Berichterstattung ihre Rechtsansicht bekannt gewesen, dringt sie damit nicht durch. Eine von vornherein bestehende Zahlungsunwilligkeit, die tatsächlich die Einschaltung eines Rechtsanwaltes zum Versuch der vorprozessualen Regulierung ausscheidet, ist damit nicht in der erforderlichen Weise dargetan, zumal der Schädiger dafür die Darlegungs- und Beweislast trägt.

Die entscheidende Frage war hier allerdings, ob – was für den Erstattungsanspruch Voraussetzung ist (!) – hier überhaupt von dem Kläger ein Mandat für die außergerichtliche Vertretung erteilt worden war. Ist nämlich das Mandat nur zur gerichtlichen Vertretung erteilt worden, gehört ein vorprozessuales Schreiben schon zu einer die Klage vorbereitenden Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG. Dann fällt nur die Verfahrensgebühr, jedoch keine Geschäftsgebühr an. Hier war es jedoch so, dass die Klägervertreter im vorprozessualen Anwaltsschreiben mitgeteilt hatten, sie würden dem Kläger zur Klage raten, wenn die Beklagte nicht zahlen werde. Der BGH sieht darin einen ausreichenden Vortrag für eine außergerichtliche Tätigkeit. Dabei weist der BGH erneut darauf hin, dass auch ein unter der aufschiebenden Bedingung der Erfolglosigkeit der vorprozessualen Regulierung erteilter Prozessauftrag ausreichend ist, um eine Geschäftsgebühr entstehen zu lassen.

Fazit: Mit dieser Sicht der Dinge hält der BGH die Pflicht zur Darlegung der Umstände innerhalb einer realistischen Grenze und vermeidet die unnötige Aufblähung des Prozessstoffes wegen einer Nebenforderung. In die Vorlagen für vorprozessuale Schreiben sollte in etwa folgende Formulierung aufgenommen werden: „Wenn Sie die Forderung nicht innerhalb von zwei Wochen gezahlt haben, werde ich der Mandantschaft dazu raten, gegen Sie eine entsprechende Klage einzureichen.“ Damit dürfte dann das Entstehen einer Geschäftsgebühr hinreichend dargelegt sein.

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es eine Frage zum Patentnichtigkeitsverfahren.

Patentnichtigkeitsklage nach Erlöschen des angegriffenen Schutzrechts
Urteil vom 21. Juli 2022 – X ZR 110/21

Mit einer besonderen Konstellation des Patentnichtigkeitsverfahrens befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Beklagte war Inhaber eines deutschen Patents, das ein Verfahren zur embryonenerhaltenden Gewinnung pluripotenter embryonaler Stammzellen betraf. Der Kläger – ein eingetragener Verein – hat die Nichtigerklärung des Schutzrechts beantragt, weil dessen Gegenstand die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken betreffe und deshalb gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG von der Patentierung ausgeschlossen sei. Der Beklagte hat erklärt, der Klage nicht zu widersprechen und auf die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Streitpatent gegenüber dem Kläger zu verzichten. Noch während des erstinstanzlichen Verfahrens ist das Patent wegen Nichtzahlung der fälligen Jahresgebühr erloschen. Das Bundespatentgericht hat die Klage daraufhin wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen.

Die Berufung des Klägers bleibt erfolglos.

Die nach § 81 PatG statthafte Nichtigkeitsklage gegen ein Patent ist zwar grundsätzlich als Popularklage ausgestaltet, die kein konkretes Rechtsschutzbedürfnis erfordert. Nach dem Erlöschen des angegriffenen Patents bleibt die Klage aber nur dann zulässig, wenn der Kläger ein eigenes Rechtsschutzbedürfnis hat. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall nicht vor. Der Kläger muss nicht befürchten, dass er wegen Verletzung des Patents während dessen Laufzeit in Anspruch genommen wird. Subjektive Rechte, die durch die Erteilung des Patents verletzt sein könnten, sind nicht ersichtlich. Das allgemeine Interesse an der Sicherung einer gesetzeskonformen Erteilungspraxis des Patentamts reicht nicht aus, um ein Rechtsschutzbedürfnis zu begründen. Auch aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich nicht das Gebot, den Rechtsweg allein im Interesse der Allgemeinheit zu eröffnen.

Praxistipp: Das Verbot der Patentierung der Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken ist unionsrechtlich vorgegeben. Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt es auch für technische Lehren, die zwar ihrerseits keinen Verstoß gegen dieses Verbot darstellen, einen solchen Verstoß aber voraussetzen. Für eine Lehre, die auf die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen beschränkt ist, die ohne Zerstörung von Embryonen gewonnen werden können, gilt das Verbot nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Ermittlung ausländischen Rechts.

Keine Darlegungs- und Beweislast bezüglich ausländischer Rechtsnormen
Beschluss vom 24. August 2022 – XII ZB 268/19

Mit den Anforderungen aus § 293 ZPO befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Antragstellerin begehrt die Vollstreckbarerklärung eines in den USA ergangenen Urteils über nachehelichen Unterhalt. Die Ehe der Beteiligten ist im Jahr 2014 durch ein Bezirksgericht des US-Bundesstaats Oregon geschieden worden. Der Antragstellerin wurde darin nachehelicher Unterhalt in Höhe von 4.000 US-Dollar pro Monat für die ersten vier Jahre und 3.000 US-Dollar pro Monat für die Zeit danach zugesprochen. Die Antragstellerin heiratete im Januar 2018 erneut. Das Bezirksgericht reduzierte daraufhin den Unterhaltsbetrag für die Zeit ab Mai 2018 auf 2.200 US-Dollar pro Monat. Das AG hat den Unterhaltstitel für die Zeit ab Mai 2018 antragsgemäß für vollstreckbar erklärt. Das OLG hat den Antrag hingegen zurückgewiesen.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG darf der Antrag auf Vollstreckbarerklärung in der Beschwerdeinstanz nicht schon deshalb zurückgewiesen werden, weil die Antragstellerin keinen schriftlichen Nachweis über die Vollstreckbarkeit der Entscheidung vorgelegt hat. Nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. b des einschlägigen Haager Unterhaltsübereinkommens aus dem Jahr 2007 (HUÜ 2007) ist ein solches Schriftstück dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung zwar beizufügen. Sein Fehlen führt aber nur in der ersten Instanz zwingend zur Zurückweisung des Antrags. In diesem Stadium dürfen gemäß Art. 23 Abs. 4 Satz 2 HUÜ 2007 weder Antragsteller noch Antragsgegner Einwendungen vorbringen; das Gericht hat eine allein an formalen Kriterien ausgerichtete Prüfung vorzunehmen. Das Beschwerdeverfahren, in dem die Beteiligten weitergehende Einwendungen vorbringen können, richtet sich demgegenüber nach dem nationalen Recht. Im Verfahren vor einem deutschen Beschwerdegericht ist die in Rede stehende Bescheinigung deshalb entbehrlich, wenn die Vollstreckbarkeit auf andere Weise festgestellt werden kann.

Im Streitfall ist unstreitig, dass der für die Zeit ab Mai 2018 ergangene Unterhaltstitel rechtskräftig ist. Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung wäre deshalb allenfalls dann unbegründet, wenn die Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen im Bundesstaat Oregon einer zusätzlichen Erklärung des Gerichts bedürfte. Dies ist eine Rechtsfrage, die das Gericht gemäß § 293 ZPO von Amts wegen zu klären hat. Die Grundsätze über die Darlegungs- und Beweislast sind insoweit nicht anwendbar. Das Berufungsgericht durfte den Antrag deshalb nicht mit der Begründung zurückweisen, die Antragstellerin habe keinen Nachweis über die Vollstreckbarkeit rechtskräftiger Urteile in Oregon vorgelegt.

Der BGH weist ergänzend darauf hin, dass der Antrag auch nicht wegen Verstoßes gegen den ordre public unbegründet sein dürfte. Nach deutschem Recht kommt nachehelicher Unterhalt nach einer Wiederverheiratung zwar nicht in Betracht. Diese Einschränkung ist aber nicht so wesentlich, dass eine auf abweichendem Auslandsrecht beruhende Entscheidung als nicht mehr hinnehmbar anzusehen wäre. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Unterhaltsberechtigte ein gemeinsames minderjähriges Kind betreut.

Praxistipp: Die offizielle Liste der Vertragsstaaten des Haager Unterhaltsübereinkommens 2007 und des Zeitpunkts des jeweiligen Inkrafttretens ist abrufbar unter https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/status-table/?cid=131.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

OLG Karlsruhe: Besorgnis der Befangenheit durch Übersehen eines Befangenheitsantrages

In einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 11.5. 2022 – 9 W 24/22) ging es um die Frage, ob alleine das Übersehen eines Befangenheitsantrages schon die Besorgnis der Befangenheit begründen kann, was das OLG bejaht hat.

In einer über 100 Seiten langen Klageerwiderung befand sich ein Befangenheitsantrag der Beklagten. Der zuständige Richter las lediglich das Inhaltsverzeichnis des Schriftsatzes, übersah demgemäß den Befangenheitsantrag und stellte die Klageerwiderung mit einer Verfügung zu. Alsdann ging noch eine Widerklage ein, darin wurde erneut auf den Befangenheitsantrag hingewiesen sowie auf den Verstoß gegen § 47 ZPO durch die erwähnte Verfügung. Gleichzeitig wurde ein erneuter Befangenheitsantrag gestellt. In seiner dienstlichen Stellungnahme entschuldigte sich der Richter für sein Versäumnis.

Nach der Auffassung des OLG lässt der Verstoß gegen § 47 ZPO den Schluss darauf zu, dass der abgelehnte Richter bei der Wahrnehmung der Belange der Beklagten eine evident fehlende Sorgfalt an den Tag legt und deswegen bei der Beklagten der Eindruck entsteht, der Richter werde auch später das Vorbringen der Beklagten nicht ernst nehmen.

Diese Sicht der Dinge geht nach hiesiger Einschätzung an der Praxis vorbei. Die Überlastung der Gerichte ist allgemein bekannt. Es ist lebensfern davon auszugehen, dass jeder Schriftsatz, der bei Gericht eingeht, sofort vollständig gelesen und verarbeitet werden kann. Eine derartige Vorgehensweise wäre auch eine Verschwendung richterlicher Ressourcen. Wenn offensichtlich ist, dass eine über 100 Seiten lange Klageerwiderung nicht ohne eine erneute Stellungnahme des Klägers sachgerecht bewertet werden kann, macht es keinen Sinn, dieselbe gleich durch zu studieren. Wesentlich sinnvoller und ressourcenschonender ist es, diesen Schriftsatz erst dann vollständig zur Kenntnis zu nehmen, wenn die Sache soweit „ausgeschrieben“ erscheint, dass eine sachgemäße Förderung derselben möglich ist. Dies weiß im Normalfall auch jeder Rechtsanwalt. Deswegen wird bei langen Schriftsätzen auch stets am Anfang auf wichtige Anträge hingewiesen, oftmals sogar in Fettdruck.

Fazit: Diese Entscheidung sollte daher keinesfalls Schule machen, zumal sie geradezu dazu auffordert, durch versteckte Befangenheitsanträge Verfahren zu verzögern!

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Bindungswirkung einer Verweisung zwischen einem Spezialsenat im Sinne von § 119a GVG und einem anderen Senat desselben Gerichts.

Negativer Kompetenzkonflikt mit Spezialsenat
Beschluss vom 26. Juli 2022 – X ARZ 3/22

Mit der entsprechenden Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bei Verweisungen innerhalb desselben Gerichts befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Kläger begehrt die Rückabwicklung eines Vertrags über den Erwerb von Bäumen in Brasilien. Die Beklagte hatte den Abschluss als attraktive Kapitalanlage angeboten. Nach dem Ende des Anlagezeitraums leistete sie keine Zahlungen. Die Klage auf Rückzahlung des Anlagebetrags von rund 10.000 Euro Zug um Zug gegen Rückübertragung des Eigentums an den Bäumen hatte in erster Instanz Erfolg.

Die Berufung der Beklagten wurde zunächst einem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Senat des OLG zugeteilt. Dieser erklärte sich für unzuständig und gab die Sache an den für Bank- und Finanzgeschäfte im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG zuständigen Spezialsenat ab. Dieser erklärte sich ebenfalls für unzuständig und legte die Sache dem für Gerichtsstandbestimmungen zuständigen Zivilsenat vor. Dieser teilte die Rechtsauffassung des Spezialsenats, dass kein Bank- oder Finanzgeschäft vorliege. Er sah sich an einer Zuweisung zu dem ursprünglich mit der Sache befassten Senat aber durch eine Entscheidung eines anderen OLG gehindert, das die Leistung der Beklagten als Finanzdienstleistung im Sinne von § 312b Abs. 1 Satz 2 BGB angesehen hatte. Deshalb legte er die Sache gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 ZPO dem BGH vor.

Der BGH erklärte den Spezialsenat für zuständig. Er ließ offen, ob es sich um eine Streitigkeit aus einem Bank- oder Finanzgeschäft im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG handelt. Die Zuständigkeit ergibt sich im Streitfall schon daraus, dass die Abgabeentscheidung des zunächst mit der Sache befassten Senats entsprechend § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist. Entgegen der bislang überwiegenden Auffassung in Literatur und Instanzrechtsprechung liegt eine planwidrige Gesetzeslücke vor.

Für vergleichbare Fälle eines Konflikts über eine sich schon aus dem Gesetz ergebende Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Gerichts sieht das Gesetz eine Bindungswirkung vor. Im Verhältnis zwischen Zivilkammern und Kammern für Handelssachen ergibt sich diese Wirkung aus § 102 Satz 2 GVG, im Verhältnis zwischen Spruchkörpern für Zivilsachen, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus § 17a Abs. 6 GVG. Dass eine entsprechende Regelung für das Verhältnis zwischen Spezialkammern im Sinne von § 72a GVG bzw. Spezialsenaten im Sinne von § 119a GVG und anderen Spruchkörpern desselben Gerichts fehlt, beruht nicht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Die hierdurch entstandene Lücke ist durch entsprechende Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO zu schließen.

Praxistipp: Um Verzögerungen zu vermeiden, sollten beide Parteien das Gericht sowohl in erster als auch in zweiter Instanz möglichst frühzeitig auf eine mögliche Spezialzuständigkeit nach § 72a bzw. § 119a GVG aufmerksam machen.

OLG Hamburg: Wartepflicht des Rechtsanwalts bei Verzögerungen durch das Gericht

In einer Entscheidung des Hanseatischen OLG in Hamburg (Beschl. v. 20.5.2022 – 7 W 57/22, MDR 2022, 1113) ging es letztlich um die Frage, wie lange ein Rechtsanwalt auf das Gericht warten muss, wenn sich ein vorheriger Termin des Gerichts länger hinzieht als geplant. Im Beschwerdeverfahren (§ 336 Abs. 1 ZPO) war zu beurteilen, ob der Rechtsanwalt zu früh gegangen war und deswegen das LG gegen die von ihm vertretene Partei ein Versäumnisurteil hätte erlassen müssen oder nicht. Das LG hatte im Widerspruchsverfahren gegen eine einstweilige Verfügung Termin auf 12:30 Uhr bestimmt. Das Gericht teilte um diese Uhrzeit mit, dass der Termin sich voraussichtlich um eine Stunde, möglicherweise auch noch etwas länger, verschieben würde. Um 12:55 Uhr gab der Rechtsanwalt bekannt, er könne nicht länger warten, da er um 14:00 Uhr einen nicht verschiebbaren Termin habe und entfernte sich. Gleichzeitig regte er an, den Termin zu verschieben. Das LG hatte dann den bei Aufruf der Sache gestellten Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils zurückgewiesen und einen neuen Termin bestimmt. Das OLG hob diese Entscheidung auf und wies das LG an einen neuen Termin zu bestimmen, ohne den betroffenen Rechtsanwalt zu laden.

Ein Termin beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 220 Abs. 1 ZPO), von einer konkludenten Terminsaufhebung kann daher nicht ausgegangen werden. Allerdings war der Rechtsanwalt hier berechtigt, gemäß § 227 ZPO einen Antrag auf Verlegung des Termins zu stellen. Der Rechtsanwalt hat aber schuldhaft im Sinne des § 337 Satz 1 ZPO gehandelt, weil er nicht auf eine Verlegung des Termins vertrauen durfte. Unter Berufung auf eine ältere Entscheidung des BVerwG (Beschl. v. 28.12.1998 – 4 B 119-98, NJW 1999, 2131) hält das OLG eine Wartezeit von über einer Stunde noch für hinnehmbar. Der Verlegungsgrund sei zudem mit der einfachen Behauptung, einen nicht verschiebbaren Termin zu haben, nicht nachvollziehbar glaubhaft gemacht worden.

Gerichtstermine können sich leider immer wieder verzögern, regelmäßig durch unvorhersehbare Ereignisse. Die meisten dadurch entstehenden Probleme werden sicherlich kollegial und/oder pragmatisch gelöst. Wenn es jedoch einmal ernst wird, muss man zum einen mindestens eine Stunde warten können und zum anderen, wenn es nicht anders geht, einen Verlegungsgrund direkt glaubhaft machen können. Die Zeit von einer Stunde gilt für die Landgerichte und Oberlandesgerichte, bei den Amtsgerichten wird man, da die Verfahren in der Tendenz natürlich weniger umfangreich sind, diese Zeit vielleicht etwas reduzieren können.

Fazit: Wer als Rechtsanwalt einen Termin wahrzunehmen hat, muss daher stets gut planen. Zunächst einmal muss genug Zeit eingeplant werden, um auch überraschenden Verzögerungen bei der Anreise Rechnung tragen zu können. Verzögert sich dann der Beginn des Termins, muss man auch noch ausreichend Zeit mitbringen, um darauf zu warten. All dies ist sehr ärgerlich, lässt sich aber bedauerlicherweise nicht vermeiden.

 

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Rechtsverhältnis zwischen einer Vorverkaufsstelle für Eintrittskarten und deren Kunden.

Vertrieb von Eintrittskarten durch eine Vorverkaufsstelle als Kommissionärin des Veranstalters
Urteile vom 13. Juli 2022 – VIII ZR 317/21 und VIII ZR 329/21

Mit grundlegenden vertragsrechtlichen Fragen befasst sich der VIII. Zivilsenat in zwei durch die Pandemie entstandenen Rechtsstreitigkeiten

Die Kläger erwarben kurz vor Weihnachten 2019 über die Internet-Seite der Beklagten Eintrittskarten für ein Musical im April 2020 bzw. ein Konzert im März 2020. Die Beklagte ist als Ticketsystemdienstleisterin für eine Vielzahl von Veranstaltungen tätig. Sie vertreibt die Karten im Auftrag des jeweiligen Veranstalters.

Beide Veranstaltungen wurden wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Die Veranstalterin bot Gutscheine zum Erwerb anderer Karten an. Die Kläger lehnten dies ab und verlangten stattdessen von der Beklagten die Rückerstattung des Kaufpreises. Die Klagen hatten in erster Instanz Erfolg. Das LG wies sie auf die Berufung der Beklagten ab.

Der BGH tritt der Vorinstanz darin bei, dass die Beklagte die Verträge mit den Klägern als Kommissionärin, also auf Rechnung des Veranstalters, aber im eigenen Namen abgeschlossen hat und dass es sich um einen Rechtskauf handelt, nämlich den Kauf des Rechts auf Teilnahme an der von dem Veranstalter durchzuführenden Veranstaltung, das durch die Eintrittskarte als kleines Inhaberpapier (§ 807 BGB) verbrieft ist. Ihre Pflichten aus diesem Vertrag hat die Beklagte durch Übereignung der Eintrittskarten vollständig erfüllt.

Später eingetretene Umstände, die das Recht auf Teilnahme an der Veranstaltung beeinträchtigen, begründen keine Gewährleistungsrechte gegenüber der Beklagten. Entscheidend ist allein die Mangelfreiheit im Zeitpunkt der Übergabe, hier also im Dezember 2019. Für die Durchführung der Veranstaltung haftet die Beklagte nicht.

Ein Widerrufsrecht ist nach § 312g Abs. 1 Nr. 9 BGB ausgeschlossen, weil es sich um einen Vertrag zur Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen handelt, der für die Erbringung einen spezifischen Termin vorsieht. Dies gilt, wie der EuGH bereits entschieden hat, auch für den Erwerb von Eintrittskarten von einem im eigenen Namen handelnden Vermittler.

Ob die Pandemie zum Wegfall der Geschäftsgrundlage geführt hat, lässt der BGH ebenso wie das LG offen. Selbst wenn die Frage zu bejahen wäre, stünden den Klägern keine Ansprüche gegen die Beklagte auf Rückzahlung des Kaufpreises zu. Nach der in Art. 240 § 5 EGBGB zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers war den Klägern ein Festhalten am Vertrag – d.h. die Annahme der vom Veranstalter angebotenen Gutscheine – zuzumuten.

Praxistipp: Nach Art. 240 § 5 EGBGB kann der Inhaber eines nach dieser Vorschrift ausgegebenen Gutscheins die Auszahlung des Werts verlangen, wenn er den Gutschein bis zum 31.12.2021 nicht eingelöst hat.