Zivilprozess: Spezialisierung, Verstetigung der Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde

PräsOLG Clemens Lückemann und PräsObLG Dr. Hans-Joachim Heßler nehmen im Interview mit juris zur neuen gesetzlichen Regelung Stellung 

Der Bundestag hat am 14.11.2019 das Gesetz zur Regelung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften beschlossen. Der Gesetzgeber möchte die unbefriedigende Situation der bisher nur befristet geltenden Wertgrenze beseitigen und mit den übrigen Regelungen dem Wandel der Lebensverhältnisse und der wachsenden Komplexität der Rechtsbeziehungen begegnen.

Thomas Reiter von juris hat mit Clemens Lückemann[1], Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, über die ab dem 1.1.2021 geltenden Regelungen zu den Spezialspruchkörpern gesprochen. Dr. Hans-Joachim Heßler [2], Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts, hat er um eine Stellungnahme zur Verstetigung der Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde gebeten, die bereits am 1.1.2020 in Kraft trat. Clemens Lückemann und Dr. Hans-Joachim Heßler sind Mit-Autoren des soeben in der 33. Auflage erschienenen Zöller ZPO Kommentars, der bereits über juris abrufbar ist.

 

Spezialspruchkammern: Begrüßenswert, im Erbrecht problematisch

juris: Sehr geehrter Herr Lückemann, der Katalog obligatorischer Spezialspruchkammern in den Land- und Oberlandesgerichten in § 72a GVG bzw. § 119a GVG wird deutlich erweitert. Die Landesregierungen werden zudem ermächtigt, Spezialspruchkörper für weitere Sachgebiete einzurichten. Begrüßen Sie die Regelungen? Sehen Sie Probleme?

Lückemann: Die obligatorische Einrichtung von spezialisierten Kammern und Senaten an Land- und Oberlandesgerichten für ausgewählte Rechtsgebiete, in denen regelmäßig besonders komplexe Rechtsfragen oder Sachverhalte zu behandeln sind, ist ein wichtiger Beitrag zur Modernisierung der deutschen (Zivil-)Justiz und schreibt eine bewährte Praxis vieler Gerichtspräsidien fort. Die Regelung greift u.a. einen Beschluss des 70. Deutschen Juristentages 2014 auf. Die Einrichtung von Spezialspruchkörpern ist auch eine Reaktion auf die zunehmende Spezialisierung in der Anwaltschaft und soll als Maßnahme der Qualitätssicherung und -steigerung der Rechtsprechung zur Attraktivität des Justizstandorts Deutschland, auch im Wettbewerb mit außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen gerade bei hohen und damit auch für den Staatshaushalt attraktiven Streitwerten, beitragen. Grundsätzlich begrüße ich die Regelung also sehr. Für die Abgrenzung des neuen Spezialgebiets der sogenannten Pressesachen sehe ich keine gravierenden Probleme; hier kann man auf die bewährte Regelung des § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a ZPO zurückgreifen; danach ist z.B. bemerkenswert, dass auch Honoraransprüche unter die Spezialzuständigkeit fallen werden. Eher für unproblematisch halte ich auch die neue Spezialzuständigkeit für insolvenzrechtliche Streitigkeiten; hier kann man zur Abgrenzung auf die insoweit eingehende und präzise Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. 19/13828 S. 22 f.) zurückgreifen. Für sehr problematisch halte ich jedoch die Spezialzuständigkeit für „erbrechtliche Streitigkeiten“, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal halte ich die Regelung für überflüssig; denn ich gehe davon aus, dass alle Zivilrichterinnen und Zivilrichter auf dem zivilrechtlichen Kerngebiet des Erbrechts fit sind; wir brauchen ja auch keine Spezialspruchkörper für Kaufrecht. Vor allem aber sehe ich ganz erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten und damit Zuständigkeitsstreitigkeiten voraus, die die jeweiligen Ausgangsverfahren verzögern: Der Begriff der erbrechtlichen Streitigkeit ist bisher in der Rechtsordnung nicht geläufig. Der Hinweis der Gesetzesbegründung, erfasst seien die Streitigkeiten nach dem 5. Buch des BGB, hilft nicht wirklich weiter. Es empfiehlt sich zur Definition der erbrechtlichen Streitigkeit der Rückgriff auf § 27 Abs. 1 ZPO (Schultzky, Gutachterliche Stellungnahme zur Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 4.11.2019, S 7, hier abrufbar (PDF)). Ansonsten könnte z.B. unklar sein, ob die Zuständigkeit auch bei Ansprüchen gilt, die den Erben als Nachlassverbindlichkeit treffen, oder was bei Verfügungen unter Lebenden auf den Todesfall gelten soll (Schultzky aaO). In beiden Fällen dürfte die Spezialzuständigkeit zu verneinen sein, weil für die Entscheidung keine besonderen erbrechtlichen Kenntnisse und Erfahrungen erforderlich sind.

juris: Der neugefasste § 13a GVG ermächtigt die Landesregierungen zudem, Spruchkörper auch gerichtsübergreifend einzurichten. Wann ist eine solche Konzentration sinnvoll?

Lückemann: Die Erleichterung gerichtsbezirksübergreifender Zuständigkeitskonzentrationen auch über Ländergrenzen hinweg ist gerade im Kontext mit der erweiterten obligatorischen Errichtung von Spezialspruchkörpern an den Land- und Oberlandesgerichten gem. § 72a I, § 119a I GVG zu sehen: Wenn z.B. an kleinen Landgerichten die sieben vorgeschriebenen Spezialzuständigkeiten auf nur zwei bestehende Zivilkammern verteilt werden, die zudem noch die verbleibenden allgemeinen Sachen bearbeiten müssen, kann von einer wirklichen Spezialisierung der Richter nicht mehr die Rede sein. Allerdings darf die Zuständigkeitskonzentration nicht zu einem Rückzug der Ziviljustiz aus der Fläche und zu einem Ausbluten der kleineren Land- und Oberlandesgerichte führen; dann wäre die vom Gesetz verlangte Zweckmäßigkeit nicht mehr gegeben. Es empfiehlt sich eine von benachbarten Gerichten einvernehmlich vorgeschlagene wechselseitige Konzentration, von der jeweils alle beteiligten Gerichtsstandorte profitieren.

juris: Impliziert die Spezialisierung der Spruchkörper auch eine Änderung der Richter-Laufbahnen?

Lückemann: Voraussetzung für einen Erfolg der Neuregelung der obligatorischen Spezialisierung ist eine Mitwirkung der Justizverwaltung durch gezielte Fortbildung und eine gesteigerte Kontinuität der Personalverwendung der Mitglieder der Spezialspruchkörper. Hierzu gehört eine entsprechende Würdigung der Tätigkeit bei der weiteren Personalentwicklung. Vielleicht wird man auch über einen beamtenrechtlichen Paradigmenwechsel nachdenken müssen, nämlich über die Möglichkeit einer dienstpostenbezogenen Stellenausschreibung im Einzelfall: Wenn ein Präsidium den (Absichts-)Beschluss fasst, einen neu zu ernennenden Vorsitzenden Richter einem Spezialspruchkörper zuzuweisen, sollte in der Ausschreibung der Nachweis fundierter Kenntnisse auf dem jeweiligen Rechtsgebiet verlangt werden dürfen.

Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde: Gelungene Neuregelung

juris: Sehr geehrter Herr Dr. Heßler, seit 2002 war die Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden befristet, aber mehrfach verlängert, in § 26 EGZPO geregelt. Die aktuelle Grenze von 20.000 Euro wird nun dauerhaft in § 544 ZPO festgeschrieben. Hielten Sie die befristete Wertgrenze – wie die Bundesregierung – auch für eine „auf Dauer unbefriedigende“ Situation?

Heßler: Die Revision nach dem ZPO-Reformgesetz von 2001 war als reine Zulassungsreform konzipiert, enthielt mit der Wertgrenze nach § 26 Nr. 8 EGZPO aber von Anfang an auch ein Wertelement. Das spiegelt die Ambivalenz der Revision: sie ist Parteirechtsmittel, führt aber zum BGH (und neuerdings auch wieder zum BayObLG), also den höchsten Gerichten im Gerichtsaufbau, die der Rechtseinheit, der Fortbildung des Rechts verpflichtet sind und Fälle von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden haben. Naturgemäß sind die Ressourcen beschränkt. Eine Ausdehnung des Personaleinsatzes ist letztlich auch nur begrenzt möglich, will man den Senaten weiterhin den Überblick über die gesamte Rechtsprechung ermöglichen. Der BGH ist in erheblichem Umfang mit Nichtzulassungsbeschwerden nach § 544 ZPO befasst: dort geht es erst mal nicht um die Sache selbst, sondern um das Vorliegen der Zulassungsgründe. Man sollte dem BGH schon dauerhaft die Möglichkeit geben, seine Rechtsprechung in der Sache weiter zu entwickeln. Allein dass die als Übergangsvorschrift konzipierte Wertgrenze insgesamt fünf Mal verlängert wurde, zeigt das Bedürfnis nach einer dauerhaften Lösung. Oft wurde die Verlängerung in letzter Sekunde in einem Hauruck-Verfahren ins Bundesgesetzblatt gehievt, immer wieder verbunden mit dem Versuch, den Ländern Änderungen der Berufungsrechts zu Lasten ihrer Gerichte abzuhandeln.

juris: Die Einführung der Wertgrenze sollte den Bundesgerichtshof entlasten. Haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass die Wertgrenze dauerhaft benötigt wird – und die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung nicht besteht? Oder wäre eine gewisse Flexibilität durch periodische Überprüfungen nicht doch sinnvoll?

Heßler: Die jetzt gefundene Kombination aus dem Grundsatz der Zulassungsrevision mit einem Wertelement halte ich für sehr sinnvoll. Seit 2002 konnte man doch jetzt wirklich lange genug Erfahrungen sammeln. Man ist ja durchaus behutsam vorgegangen. Die Wertgrenze wurde nicht etwa erhöht, wie dies durchaus auch gefordert wurde. Denken Sie daran, dass die Wertgrenze im alten System 60.000 DM betrug. Die Dauerregelung ist also auch keine Rückkehr zu alten Verhältnissen.

juris: Jeder Mindeststreitwert führt zu einer Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten – ist die Anhörungsrüge als letzter Strohhalm ausreichend?

Heßler: Nicht jeder Fall kann und muss in die Revisionsinstanz gelangen. Es ist ja auch nicht so, dass man mit einem niedrigen Streitwert nie in die Revisionsinstanz kommt. Immerhin müssen die Instanzgerichte bei jedem Fall von grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts und zur Herstellung der Rechtseinheit die Revision zulassen. Wird die Revision nicht zugelassen, obwohl dies nahe gelegen hätte und die Nichtzulassungsentscheidung sich deshalb als objektiv willkürlich darstellt, ist dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter. Fazit: Die Neuregelung halte ich für gelungen. Einzelfallgerechtigkeit und Funktionsfähigkeit des BGH im Interesse der Rechtseinheit werden in einen sachgerechten Ausgleich gebracht.

juris: Herr Lückemann, Herr Dr. Heßler, vielen Dank für das Gespräch!

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Hinweis: Dieser Beitrag ist ursprünglich im juris-Magazin erschienen und wird hier mit freundlicher Erlaubnis der juris GmbH veröffentlicht.

[1] Clemens Lückemann ist seit 2013 Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, seit 2015 berufsrichterliches Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, zuvor Generalstaatsanwalt in Bamberg, Ministerialrat. Seit 1981 ist er im bayerischen Justizdienst, in Verwendung als Richter, Staatsanwalt und im Bayerischen Staatsministerium der Justiz tätig. Er ist Mit-Autor des „Zöller ZPO“ und bearbeitet dort das GVG und EGGVG.

[2] Dr. Hans-Joachim Heßler ist seit 2018 Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts, seit 2010 berufsrichterliches Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Er ist seit 1985 im bayerischen Justizdienst, in Verwendung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, als Staatsanwalt und Richter tätig. Promotion zu einem Thema des Internationalen Privatrechts (summa cum laude, Fakultätspreis). Mit-Autor des „Zöller ZPO„.

Montagsblog: Neues vom BGH

Im ersten Blog des Jahres 2020 geht es um die Reichweite der Haftung aus einer fehlerhaften Kapitalanlageberatung.

Schutzzweck einer Beratungspflicht
Urteil vom 21. November 2019 – III ZR 244/18

Mit dem Zurechnungszusammenhang nach einer fehlerhaften Kapitalanlageberatung befasst sich der III. Zivilsenat.

Die Beklagte hatte den Kläger über rund zwanzig Jahre hinweg vor allem in Versicherungsangelegenheiten beraten. Ende 2005 stellte ein Mitarbeiter der Beklagten dem Kläger verschiedene Renten- und Lebensversicherungsprodukte zum Zwecke der Altersvorsorge vor. Der Kläger bemängelte eine zu geringe Rendite und eine zu lange Laufzeit. Ende 2006 wies derselbe Mitarbeiter den Kläger darauf hin, ein Rechtsanwalt biete kurzfristige Kapitalanlagen zu guten Festzinsen an. Zwischen Februar 2007 und März 2014 überwies der Kläger diesem Rechtsanwalt bei mehreren Gelegenheiten insgesamt 210.000 Euro. Nach dem Tod des Anwalts im Mai 2014 stellte sich heraus, dass dieser massiv überschuldet war. Das LG stellte antragsgemäß fest, dass die Beklagte dem Kläger alle aus der Anlage entstandenen Schäden zu ersetzen hat. Das OLG wies die Klage hingegen ab.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er tritt den Vorinstanzen darin bei, dass der Mitarbeiter der Beklagten mit dem Hinweis auf die konkrete Anlagemöglichkeit einen stillschweigenden Beratungsvertrag geschlossen und die hieraus resultierende Pflicht zu einer objektgerechten Beratung verletzt hat. Entgegen der Auffassung des OLG fehlt es nicht deshalb an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang, weil der Kläger die Anlagen über einen längeren Zeitraum hinweg getätigt hat und bei einer einmaligen Anlage im Jahr 2007 das investierte Kapital nebst Zinsen zurückerhalten hätte. Die Pflichten aus einer Beratung über Anlagemöglichkeiten für einen bestimmten Geldbetrag beschränken sich zwar grundsätzlich auf diese konkrete Anlageentscheidung. Wenn der Interessent eine umfassendere Beratung wünscht und der Berater in Kenntnis dessen eine Möglichkeit zur wiederholten Anlage noch unbestimmter Geldbeträge aufzeigt, kann der Zurechnungszusammenhang aber alle darauf beruhenden Anlageentscheidungen umfassen. Ob und in welchem Umfang dies gilt, hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Die hierzu erforderlichen Feststellungen muss das OLG in der neu eröffneten Berufungsinstanz treffen.

Praxistipp: Wenn ein Teil des entstandenen Schadens bereits bezifferbar ist, kann der Antrag auf Feststellung der Schadensersatzpflicht mit einem den bezifferbaren Teil betreffenden Zahlungsantrag kombiniert werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Vergütung des Rechtsanwalts im Falle einer Zurückverweisung vom Rechtsmittelgericht an ein erstinstanzliches Gericht, das mit der Sache bislang noch nicht befasst war.

Anwaltsvergütung bei Diagonalverweisung
Beschluss vom 20. November 2019 – XII ZB 63/19

Der XII. Zivilsenat entscheidet eine in Literatur und Instanzrechtsprechung umstrittene Frage.

Der Antragsteller hatte seine frühere Ehefrau kurz nach der Scheidung beim LG auf Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch genommen. Das LG wies die Klage als unzulässig ab. Der Zivilsenat des OLG verwies die Sache an das zuständige Familiengericht. Dieses wies das Zahlungsbegehren als unbegründet ab. Der Familiensenat des OLG entschied teilweise zugunsten des Ehemanns, legte ihm aber die Mehrkosten auf, die durch die Klage beim LG entstanden sind. Das AG setzte zugunsten der Ehefrau für das Verfahren vor dem LG und vor dem Zivilsenat des OLG jeweils eine Verfahrens- und eine Terminsgebühr fest. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Ehemanns blieb erfolglos.

Die Rechtsbeschwerde des Ehemanns hat ebenfalls keinen Erfolg. Der BGH tritt der vom Beschwerdegericht vertretenen Auffassung bei, dass die beim Landgericht entstandenen Gebühren in vollem Umfang Mehrkosten darstellen, weil nach der Zurückverweisung der Sache an das Familiengericht sowohl die Verfahrensgebühr als auch die Terminsgebühr von neuem entstanden sind. Bei einer Verweisung oder Abgabe an ein anderes Gericht bilden die Verfahren vor dem verweisenden und dem übernehmenden Gericht nach § 20 Satz 1 RVG einen einheitlichen Rechtszug. Nach § 20 Abs. 2 RVG entsteht hingegen ein neuer Rechtszug, wenn die Verweisung oder Abgabe an ein Gericht einer niedrigeren Instanz erfolgt. Diese Vorschrift greift unabhängig davon, ob sich das zuerst angerufene Gericht als zuständig angesehen hat oder nicht. Entgegen einer verbreiteten Auffassung gilt sie darüber hinaus nicht nur im Verhältnis zwischen dem verweisenden und dem übernehmenden Gericht, sondern auch im Verhältnis zwischen dem übernehmenden und dem zuerst angerufenen Gericht. Im Streitfall sind damit gesonderte Gebühren für insgesamt vier Instanzen angefallen (LG – OLG Zivilsenat – AG – OLG Familiensenat). Die Gebühren für die beiden ersten Rechtszüge gehören zu den vom Ehemann zu tragenden Mehrkosten.

Praxistipp:  Bei einer Zurückverweisung an ein Gericht, das mit der Sache bereits befasst war, entsteht nach § 21 Abs. 1 RVG ebenfalls ein neuer Rechtszug. In diesem Fall ist die im ersten Durchgang entstandene Verfahrensgebühr aber gemäß Vorbem. 3 Abs. 6 VV-RVG auf die Verfahrensgebühr für das erneute Verfahren anzurechnen.

Schriftsatz des Kanzleikollegen per beA versenden? Das BAG erklärt, wie es geht.

Immer neue Rechtsfragen wirft das besondere elektronische Anwaltspostfach auf. Das BAG (Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 8 AZN 589/19) hatte kürzlich den Fall zu entscheiden, dass unter einem per beA übersandten Dokument der Namenszug des Rechtsanwalts A. aufgebracht war, das Dokument aber aus dem Anwaltspostfach des in derselben Kanzlei tätigen Rechtsanwalts B. übermittelt wurde.

Nach § 130a Abs. 3 Alt. 2 ZPO ist die Form als elektronisches Dokument gewahrt, wenn es „von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden ist“. Als sog. einfache Signatur reicht in diesem Fall die Wiedergabe des Namenszugs am Ende des Textes aus (vgl. nur Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 130a ZPO Rn. 9) aus. Das beA ist gem. § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO ein sicherer Übermittlungsweg. Alles wäre also in Ordnung, wenn nicht § 130a Abs. 3 ZPO die Signatur der „verantwortenden“ Person verlangen würde. Darunter wird bisher ganz überwiegend verstanden, dass zwischen der signierenden und der das Anwaltspostfach verwendenden Person Identität bestehen muss (OLG Braunschweig, Beschluss vom 08. April 2019 – 11 U 146/18, MDR 2019, 1019; kritisch Lapp jurisPR-ITR 17/2019 Anm. 3). Rechtsanwalt B. hätte daher ebenfalls noch seinen Namenszug unter das Dokument setzen müssen, um die Form zu wahren, was sich in der Praxis aber als schwierig darstellen könnte, wenn ihm das Dokument „versandfertig“ als pdf-Datei vom Kollegen zur Verfügung gestellt wurde.

Das BAG musste diese Frage nicht entscheiden, denn Rechtsanwalt B. hatte das Dokument vor der Versendung außerdem mit seiner eigenen qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Da diese die gleiche Rechtswirkung wie seine handschriftliche Unterschrift hat, sah es die Form des § 130a Abs. 3 Alt. 1 ZPO als gewahrt an: Rechtsanwalt B. habe die Verantwortung für das Dokument übernommen. Dass Rechtsanwalt A. unter dem Schriftsatz genannt wurde, hat das BAG zutreffenderweise nicht gestört.

Möchte also Rechtsanwalt B. einen Schriftsatz für den Kollegen A. aus seinem Anwaltspostfach versenden, den dieser nicht selbst qualifiziert elektronisch, sondern lediglich „einfach“ signiert hat, empfiehlt es sich dringend, ihn qualifiziert elektronisch zu signieren! Dann ist nur noch darauf zu achten, dass auch Rechtsanwalt B. Prozessvollmacht hat.

 

 

BGH zum stillschweigenden Wiedereinsetzungsantrag

Im Rahmen eines Teilungsversteigerungsverfahrens hatte die Antragsgegnerin gegen einen am 25.1.2018 zugestellten Beschluss am 21.2.2018 Beschwerde eingelegt. Die Frist zur Begründung wurde antragsgemäß bis zum 20.4.2018 verlängert. Mit Schriftsatz vom 16.4.2018 bat die Verfahrensbevollmächtigte um eine weitere Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist, weil noch eine ausführliche Besprechung mit der Antragsgegnerin notwendig sei, diese aber krankheitsbedingt noch nicht durchgeführt werden konnte. Die Antragsgegnerin befinde sich in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme, die voraussichtlich vier Wochen (12.4. bis 10.5.2018) andauern werde. Am 11.5.2018 teilte das OLG der Antragsgegnerin mit, die Frist könne mangels Zustimmung des Gegners nicht nochmals verlängert werden und sei damit versäumt. Mit Schriftsatz vom 29.5. begründete die Verfahrensbevollmächtigte die Beschwerde ausführlich und teile nochmals ergänzend weitere Umstände zur Erkrankung der Antragsgegnerin mit. Nach einem weiteren Hinweis des OLG beantragte die Antragsgegnerin am 22.6.2018 schließlich Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist. Dies wurde u.a. damit begründet, der Antragsgegnerin sei durchgängig von ärztlicher Seite geraten worden, sich während der Rehabilitation nicht mit Prozessen zu befassen. Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag und die Beschwerde verworfen.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg! Nach der Auffassung des BGH (Beschl. v. 12.6.2019 – XII ZB 432/18, MDR 2019, 1149 = MDR 2019, 1299 [Elzer]) hat das OLG mit der angefochtenen Entscheidung das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes der Antragsgegnerin verletzt. Die Wiedereinsetzung sei nicht verspätet beantragt worden. Der Schriftsatz vom 29.5.2018 sei vielmehr als stillschweigender Wiedereinsetzungsantrag anzusehen. Ausreichend dafür sei bereits, dass in dem Schriftsatz konkludent zum Ausdruck gebracht werde, dass das Verfahren trotz einer verspäteten Einreichung eines Schriftsatzes fortgesetzt werden solle. Die erforderliche, aus sich heraus verständliche und geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus denen sich die Gründe für die Fristversäumnis ergeben, sei in dem Schriftsatz enthalten. Der ausdrückliche Wiedereinsetzungsantrag vom 22.6.2018 enthalte nur noch ergänzende Angaben.

Damit stehe allerdings noch nicht fest, dass die beantragte Wiedereinsetzung auch bewilligt werden kann. Die Erkrankung des Rechtsmittelführers kann grundsätzlich eine Wiedereinsetzung rechtfertigen, wenn dieser nicht dazu in der Lage ist, den Rat eines Rechtsanwalts einzuholen und diesen sachgemäß zu unterrichten. Notwendig dafür ist allerdings, dass selbst eine telefonische Verständigung über eine fristgerecht vorzulegende Beschwerdebegründung mit einem Verfahrensbevollmächtigten nicht möglich war. Der BGH gibt dem OLG dann auf, zu prüfen, ob dies vorliegend wirklich glaubhaft gemacht wurde. Insbesondere dränge es sich hier auf, unter Umständen weitere ärztliche Bescheinigungen anzufordern. Die Antragsgegnerin hat somit nur einen Etappensieg errungen. Ob sie tatsächlich Wiedereinsetzung bewilligt bekommt, bleibt zunächst offen.

Für den Rechtsanwalt ist es wichtig, die Fristen für einen Wiedereinsetzungsantrag immer im Auge zu behalten. Sobald diesbezüglich etwas auffällt, ist die Frist zu berechnen und im Kalender – auffällig (!) – zu notieren. Lediglich als Notanker muss in Zweifelsfällen noch geprüft werden, ob ein anderer, noch fristgemäß eingereichter Schriftsatz unter Umständen schon als stillschweigender Wiedereinsetzungsantrag ausgelegt werden kann. Dies kann dann vielleicht eine „Rettung“ sein. Verlassen sollte man sich darauf jedoch besser nicht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen einer einseitigen Erledigungserklärung.

Erledigung nach Klage beim unzuständigen Gericht
Urteil vom 7. November 2019 – III ZR 16/18

Ein sich abzeichnender Konflikt zwischen dem III. und dem XII. Zivilsenat ist beigelegt.

Die Klägerin hatte die beklagte Stadt vor dem AG wegen Beschädigung eines Fahrzeugs bei Mäharbeiten auf Schadensersatz in Höhe von rund 1.100 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Anspruch genommen. Nach Begleichung des Klagebetrags und der Nebenforderungen hatte sie den Rechtsstreit einseitig für erledigt erklärt. Das AG verwies den Rechtsstreit an das LG, weil dieses für Amtshaftungsansprüche ausschließlich zuständig ist. Das LG wies den einseitigen Erledigungsantrag als unbegründet ab, weil die Klage im Zeitpunkt der Erledigung mangels Zuständigkeit des AG unzulässig gewesen sei. Das OLG stellte hingegen antragsgemäß die Erledigung des Rechtsstreits fest.

Die Revision der Beklagten bleibt hinsichtlich der Nebenforderungen erfolglos. Hinsichtlich der Hauptforderung verweist der BGH die Sache hingegen an das OLG zurück.

Der für die Entscheidung zuständige III. Zivilsenat hatte zunächst die Auffassung vertreten, dass die Erledigung der Hauptsache auch dann auszusprechen ist, wenn die Klage im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses bei einem nicht zuständigen Gericht anhängig ist. Dies hätte einer Entscheidung des XII. Zivilsenats widersprochen. Dieser teilte auf eine Anfrage gemäß § 132 Abs. 3 GVG (Beschluss vom 28. Februar 2019, dazu Montagsblog Nr. 127) mit, er halte an seiner Auffassung fest (Beschluss vom 22. Mai 2019, MDR 2019, 1012).

Der III. Zivilsenat sieht von einer Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen ab und tritt nunmehr der Auffassung des XII. Zivilsenats bei. Er greift aber einen Hinweis in der Mitteilung vom 22. Mai 2019 auf und hält eine einseitige Erledigungserklärung für begründet, wenn der Kläger im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses bereits die Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Gericht beantragt hat. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall hinsichtlich der Nebenforderungen zweifelsfrei vor. Zu der Frage, ob die Hauptforderung ebenfalls erst nach Stellung des Verweisungsantrags erfüllt wurde, fehlt es hingegen an tatrichterlichen Feststellungen. Diese muss das OLG in der wieder eröffneten Berufungsinstanz nachholen.

Praxistipp:  Maßgeblich ist nicht der Zeitpunkt der Erledigungserklärung, sondern der Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses. Der Kläger kann eine ihm ungünstige Kostenentscheidung in solchen Fällen deshalb nicht dadurch verhindern, dass er zunächst einen Verweisungsantrag stellt und erst danach den Rechtsstreit für erledigt erklärt.

OLG Hamm zur Haftung für Unfall im Baustellenverkehr

Bei einem tragischen Unfall wurde der Kläger, der auf einer Baustelle als „Fernsteuerungskranbediener“ tätig war, von einem rückwärtsfahrenden Lieferwagen angefahren und bedauerlicherweise dabei so schwer verletzt, dass er aus dem Berufsleben ausscheiden musste. Die Klage des Klägers vor den Sozialgerichten, es habe sich um einen Arbeitsunfall gehandelt, wurde durch alle Instanzen abgewiesen, da der Kläger selbständiger Unternehmer gewesen sei und sich nicht freiwillig versichert habe. Im sich anschließenden Zivilprozess gegen die für den Lieferwagen Verantwortlichen, insbesondere die Haftpflichtversicherung, hatte der Kläger Erfolg.

In der sehr lesenswerten Entscheidung des OLG Hamm, Urt. v. 21.5.2019 – I-9 U 56/18 widerlegt das Gericht ausführlich die zahlreichen Einwände der Beklagten gegen ihre Haftung. Die Feststellungsklage des Klägers wird zunächst als zulässig angesehen, obwohl der Kläger teilweise beziffern konnte. Es ist jedoch ausreichend für eine Feststellungsklage, dass noch weitere Schäden drohen. Die straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften, vor allem § 7 StVG, sind einschlägig, da diese nicht an einen Betrieb im öffentlichen Verkehr anknüpften, sondern auch auf privaten Verkehrsflächen maßgeblich sind. Die Beklagten hatten weiterhin eingewandt, der gesamte Fall sei konstruiert worden, um dem Kläger, der keine Ansprüche gegen die Berufsgenossenschaft durchsetzen konnte, nunmehr Ansprüche gegen eine private Versicherung zu verschaffen. Tatsächlich sei der Kläger von einem Gerüst gefallen, ohne dass der Lieferwagen überhaupt eine Rolle gespielt habe. Diesen Einwand wiederlegt das OLG mit einer ausführlichen Beweiswürdigung aufgrund von Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten. Da danach feststeht, dass der Lieferwagen rückwärtsgefahren ist und dabei den Kläger angefahren hat, spricht der Anscheinsbeweis gegen die Beklagten. Ein Mitverschulden wurde nicht nachgewiesen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Tätigkeit des Klägers als „Fernsteuerungskranführer“ höchste Konzentration und Präzision erfordert, habe der Kläger nicht auf andere Verkehrsteilnehmer achten müssen. Zwar hatte der Kläger keinen Helm getragen, es steht aber nicht fest, dass dies auf den eingetretenen Schaden überhaupt eine Auswirkung gehabt hat.

Schließlich scheidet auch eine Haftungsprivilegierung der Beklagten nach § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII aus. Die Sozialgerichte haben bindend entschieden, (§ 108 SBG VII), dass ein Arbeitsunfall nicht vorliegt. Darüber hinaus hat sich der Unfall nicht auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet. Eine „gemeinsame“ Betriebsstätte ist mehr als „dieselbe“ Betriebsstätte. Hier habe es keine Verbindung zwischen dem Kläger und den Beklagten gegeben, sondern ein beziehungsloses Nebeneinander.

Festzuhalten ist daher: An die Zulässigkeit einer Feststellungsklage nach einem Unfall sind keine hohen Anforderungen zu stellen, insbesondere steht eine teilweise Bezifferbarkeit der Ansprüche der Klage nicht entgegen. Die Vorschriften des StVG gelten letztlich praktisch überall dort, wo sich das Fahrzeug befindet, vor allem auch auf privaten Verkehrsflächen. Das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII gilt nur, wenn tatsächlich eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt und nicht nur ein beziehungsloses Nebeneinander.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit einer langfristigen Vertragsbindung in einem Mietvertrag über eine Flüchtlingsunterkunft.

Mietvertrag über Räume zur Unterbringung von Flüchtlingen
Urteil vom 23. Oktober 2019 – XII ZR 125/18

Mit einer Frage, die derzeit für viele Kommunen von Interesse sein könnte, befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Kläger haben der beklagten Stadt Anfang 2016 ein Wohnhaus vermietet, in dem bis zu 14 Flüchtlinge Unterkunft finden sollten. Die monatliche Miete beträgt 2.645 Euro. Das Recht zur ordentlichen Kündigung ist im Vertrag für fünf Jahre ausgeschlossen. Wegen Rückgangs der Flüchtlingszahlen kam es nicht zu einer Belegung der Unterkunft. Die Beklagte kündigte den Vertrag zum 30.4.2017. Die Kläger traten dem entgegen. Ihre Klage auf Zahlung der Miete für Mai bis Dezember 2017 hatte in zweiter Instanz Erfolg.

Die Revision der Beklagten bleibt erfolglos. Der BGH tritt dem Berufungsgericht darin bei, dass die Parteien das Recht zur ordentlichen Kündigung für die ersten fünf Jahre wirksam ausgeschlossen haben und die Kündigung der Beklagten deshalb unwirksam ist. Er lässt offen, ob es sich bei der maßgeblichen Vertragsbestimmung um eine Allgemeine Geschäftsbedingung handelt. In AGB kann die Kündigung bei Wohnungsmietverträgen zwar für nicht mehr als vier Jahre ausgeschlossen werden. Der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag ist aber kein Vertrag über Wohnraummiete, weil die Beklagte die Räume nicht zur Nutzung für eigene Wohnzwecke erhalten hat, sondern zur Überlassung an Dritte. Die Beklagte ist auch nicht zur außerordentlichen Kündigung berechtigt. Ein Mieter hat grundsätzlich das Risiko zu tragen, dass er die mangelfreie Mietsache nicht wie vorgesehen nutzen kann.

Praxistipp:  Mietverträge über Räume, die der Vermieter Dritten zu Wohnzwecken überlassen will, sind grundsätzlich nicht als Wohnraummietverträge zu qualifizieren. Wenn die Überlassung im Wege der Untermiete erfolgt, greifen die Vorschriften zum Schutz des Wohnungsnutzers in der Regel aber auch gegenüber dem Hauptvermieter. Bei gewerblicher Weitervermietung folgt dies aus § 565 BGB, bei Überlassung durch eine öffentliche Stelle aus der seit 1.1.2019 geltenden Sonderregelung in § 578 Abs. 3 BGB.

Professor Udo Hintzen im Interview zu den Möglichkeiten der Beitreibung einer titulierten Forderung trotz vielfältigem Schuldnerschutz und Restschuldbefreiung

Ziel der Zwangsvollstreckung ist die Befriedigung des Gläubigers als Rechtserfolg. Die Wirklichkeit zeigt jedoch ein ganz anderes Bild. Für eine effektive und zielgerichtete Vollstreckung sind vertiefte Kenntnisse in diversen Rechtsgebieten vonnöten, will man sich nicht nur auf die Pfändung von Arbeitseinkommen und Girokonten beschränken. Hierüber habe ich mit dem Autor des gerade in neuer Auflage erschienenen Buchs „Musteranträge für Pfändung und Überweisung“ Professor Udo Hintzen[1] gesprochen.

Forner: Lieber Herr Prof. Hintzen, haben Sie vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch nehmen. Was ist für einen Gläubiger die größte Herausforderung, will er seinen titulierten Anspruch zwangsweise durchsetzen?

Hintzen: Den Überblick zu gewinnen, welche Möglichkeiten es außer den in den amtlichen Formularen vorgesehenen „Klassikern“ wie Arbeitseinkommen, Arbeitslosengeld, Steuererstattungsanspruch, Lebensversicherung und Bausparvertrag noch gibt. Aber selbst bei diesen vorformulierten Ansprüchen kann es im Einzelfall Abweichungen geben, die dann extra im Anwendungsformular korrigiert werden sollten.

Forner: Muss ein Gläubiger denn die amtlichen Formulare benutzen, auch wenn er andere als die von Ihnen gerade genannten Ansprüche pfänden will?

Hintzen: Ja, muss er. Das Formular enthält einen „offenen“ Baustein; der Gläubiger muss dann – wie früher generell – den zu pfändenden Anspruch selbst formulieren. Allerdings würde der allgemeine Justizgewährungsanspruch in verfassungswidriger Weise eingeschränkt, wenn der gesetzlich geregelte Formularzwang so zu verstehen wäre, dass die Formulare ohne Einschränkung zu verwenden wären. Mit dem Formularzwang wird insbesondere eine Entlastung der Vollstreckungsgerichte bezweckt. Durch die Vereinheitlichung der Antragsformulare soll die Effizienz bei der Bearbeitung der Anträge bei Gericht gesteigert werden. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Umsetzung dieses in Anbetracht der Vielschichtigkeit der Forderungspfändung anspruchsvollen gesetzgeberischen Anliegens durch die verbindliche Vorgabe des Formulars den Anspruch des Rechtsuchenden auf effektiven Rechtsschutz unverhältnismäßig einschränkt. Daher gibt es trotz Formularzwangs immer die Möglichkeit, von den Vorgaben abzuweichen.

Forner: Wo können denn in einem Formular, das ja immerhin vom Gesetzgeber gesetzlich vorgeschrieben ist, Korrektur- bzw. Anpassungsmöglichkeiten überhaupt auftreten?

Hintzen: Die Ausfüllprobleme haben den BGH bereits kurz nach Einführung der Formulare beschäftigt. Mit seinem ersten Beschluss v. 13.2.2014  – VII ZB 39/13, MDR 2014, 495 hat der BGH das Formular in mehreren Punkten kritisiert und entschieden, dass ein Gläubiger vom Formularzwang entbunden ist, soweit das Formular unvollständig, unzutreffend, fehlerhaft oder missverständlich ist. In diesen Fällen kann der Gläubiger auch Streichungen, Berichtigungen oder Ergänzungen vornehmen oder das Formular insoweit nicht nutzen, sondern auf beigefügte Anlagen verweisen. Nicht zuletzt diese Entscheidung führte dann zur Änderungsverordnung vom 16.6.2014. Leider brachte diese VO außer der „SEPA-Umstellung“ keine Verbesserung, die Kernprobleme sind geblieben.

Forner: Wann benötigt ein Gläubiger neben den amtlichen Formularen, die ja textlich bereits die zu pfändenden Ansprüche genau bezeichnen, noch weitere Unterstützung, z.B. in Form eines Formularbuchs?

Hintzen: Ein Gläubiger sollte sich grundsätzlich nie auf vorgefertigte Texte verlassen. Insbesondere Rechtsanwälte sind ihren Mandanten gegenüber verpflichtet. Ob ein zu pfändender Anspruch im Einzelfall hinreichend bezeichnet und auch alle möglichen Nebenrechte mitgepfändet sind, entscheidet nicht der Gesetzgeber mit Textbausteinen, sondern der Gläubiger selbst ist gefragt und das Vollstreckungsgericht muss dann entscheiden, ob dem Pfändungsantrag stattgegeben wird oder nicht. Bei der Vielfalt der Pfändungsmöglichkeiten wird ein Gläubiger ohne ein Nachschlagewerk kaum auskommen können.

Forner: Ihr soeben erschienenes Buch mit mehr als 200 Musteranträgen zur Pfändung und Überweisung ist so ein Nachschlagewerk. Was erwartet den Nutzer hier an inhaltlichen Neuerungen?

Hintzen: Viele einzelne Gesetzesänderungen haben dazu geführt, dass man bei den einzelnen Anträgen genau hinsehen muss. Es fängt mit der neuen Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung an, die zu beachten ist. In den individuellen Anträgen werden unterschiedliche Änderungen relevant, z.B. durch die Reform des Bauvertragsrechts, durch das Gesetz „Ehe für alle“ oder durch die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung. Grenzüberschreitend ist auch das neue EU-KontenpfändungsVO-Durchführungsgesetz und das Gesetz zum Internationalen Erbschein zu achten. Daneben gibt es viele kleine Details, die für den Antrag wichtig sind; beispielhaft erwähnt werden kann hier die Verschmelzung der PostbankAG mit der DB Privat- und Firmenkunden. Für den Vollstreckungsgläubiger ist es ja enorm wichtig, wer der richtige Drittschuldner ist.

Forner: Wichtig ist für den Vollstreckungsgläubiger auch, dass er alle Möglichkeiten ausschöpft. Können Sie einmal kurz ein Beispiel außerhalb der eingangs genannten Pfändungsmöglichkeiten nennen?

Hintzen: Viele Schuldner verfügen über Grundbesitz, sei es in Form eines Grundstücks oder einer Eigentumswohnung. Die Zwangsvollstreckung in Vermögensrechte, die sich aus dem Grundbuch ergeben bzw. sich auf das Grundstück beziehen, wird nur selten in Anspruch genommen. Der Grund liegt möglicherweise in den praktischen und rechtlichen Problemen, die aus der Verzahnung des allgemeinen Zwangsvollstreckungsrechts mit Fragen des materiellen und formellen Grundbuchrechts und nicht zuletzt mit dem Recht der Zwangsversteigerung resultieren. Diese äußerst komplexen Fragen sind nicht immer einfach und eindeutig zu beantworten. Die Rechtspfändung und mögliche Sicherung im Grundbuch bietet aber durchaus vielversprechende Realisierungschancen, die der Gläubiger nicht ungenutzt lassen sollte.

Ein weiteres Beispiel sind Pfändungsmöglichkeiten im Rahmen einer Erbfolge. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes wurde 2017 in Deutschland ein Vermögen von insgesamt etwa 97 Milliarden Euro vererbt und verschenkt. Der Betrag dürfte von Jahr zu Jahr steigen. Hinter diesem Betrag verbergen sich Häuser, Wohnungen, Wertpapiere und Bargeld. Pfändungsmöglichkeiten, die man nicht außer Acht lassen sollte.

Forner: Lieber Herr Prof. Hintzen, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

[1] Professor Udo Hintzen ist durch langjährige Tätigkeit als Rechtspfleger ausgewiesener Experte im Umgang mit Forderungspfändungen. Er lehrt an der HWR Berlin (u.a. mit Schwerpunkt Zwangsvollstreckungsrecht) und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Rpfleger“.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit neuen Vorbringens in der Berufungsinstanz.

Neues Vorbringen im Verfahren nach § 522 Abs. 1 ZPO
Beschluss vom 24. September 2019 – VI ZB 517/18

Mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen das Berufungsgericht eine Berufung durch Beschluss als unbegründet zurückweisen darf, obwohl es die Begründung der Vorinstanz für unzutreffend hält, befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin verlangt vom beklagten Insolvenzverwalter, Schadensersatzansprüche aus der Vermittlung einer Kapitalanlage zur Insolvenztabelle festzustellen. Das LG wies die Klage als unzulässig ab. Das OLG sah die Klage als zulässig an, wies die Berufung aber dennoch gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück, weil es die Klage mangels Kausalitätsnachweis als unbegründet ansah. Ein auf Vernehmung eines Zeugen gerichtetes Beweisangebot der Klägerin zu diesem Thema wies es gemäß § 531 Abs. 2 ZPO und hilfsweise gemäß § 296 Abs.1 ZPO als verspätet zurück.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Eine Zurückweisung des Beweisangebots nach § 531 Abs. 2 ZPO ist im Streitfall schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin es bereits in der Klageschrift unterbreitet und in der Berufungsinstanz lediglich wiederholt hat. Aus diesem Grund kommt auch eine Zurückweisung nach § 296 Abs. 1 ZPO nicht in Betracht. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das Berufungsgericht den Zeugen auch dann hätte vernehmen müssen, wenn die Klägerin ihn erstmals in der Berufungsinstanz benannt hätte. Das Berufungsgericht war gehalten, die Klägerin auf seine vom Landgericht abweichende Rechtsaufassung hinzuweisen, und ihr Gelegenheit zu geben, zu dem nach Auffassung des LG nicht relevanten Thema der Kausalität ergänzende Angriffsmittel vorzubringen.

Praxistipp: Nach § 522 Abs. 3 ZPO und § 26 Nr. 8 EGZPO (ab 1.1.2020: § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO n.F.) ist eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung einer Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO nur dann zulässig, wenn der Wert der mit dem Rechtsmittel geltend zu machenden Beschwer 20.000 Euro übersteigt.