OLG Hamm: Doppeltes Einstellen von Artikel bei Amazon wettbewerbswidrig

Die Handelsplattform Amazon ist für Verbraucher unter anderem deswegen sehr beliebt, da – bis auf wenige Ausnahmen – keine Doubletten von Artikeln gefunden werden. Jeder einzigartige Artikel wird nur einmal gelistet. Dies gewährleistet Amazon durch Abfrage des EAN-Codes des jeweiligen Produktes. Im Rahmen der Artikeldarstellung werden dann die unterschiedlichen Händler aufgelistet, bei denen das Produkt zu unterschiedlichen Preisen erhältlich ist, was dem Kunden einen effektiven Preisvergleich ermöglicht.

Die Kehrseite der Medaille für Händler ist, dass die Artikelbeschreibungen inhaltlich nur begrenzt beeinflusst werden können, sich zudem Artikelbeschreibungen auch immer wieder ändern können. Nach der Rechtsprechung des BGH haftet für etwaige Rechtsverletzungen jeder einzelne Marketplace Händler als Störer auf Unterlassung (BGH Urteil vom 3. März 2016 Az.: Az. I ZR 140/14, MDR 2016, 1102), wenn nicht regelmäßig die Angebote auf Rechtsverstöße überwacht werden. Noch wichtiger für die Praxis ist de Umstand, dass bei der Auswahl mehrerer Händler für das identische Produkt der Preis wohl das entscheidendste Kriterium zur Auswahl eines Händlers sein dürfte.

Ein findiger Händler wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Durch Veränderung des EAN-Codes umging er die Doublettensuche von Amazon und konnte so seine eigene Artikelbeschreibung anlegen, für das Produkt als einziger Händler auftauchen.

Ein Wettbewerber nahm den Unternehmer auf Unterlassung in Anspruch, das OLG Hamm gab ihm Recht:

Das Gericht bejaht eine Irreführung im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG, da das neue Angebot eine unwahre oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über das Merkmal der Verfügbarkeit der Ware enthält. Hierbei verweist das OLG Hamm auf die Rechtsprechung des EuGH. Dass der durchschnittliche Verbraucher bei Eingabe der Artikelbezeichnung mindestens zwei Suchergebnisse erhalten hätte und so hätte feststellen können, dass das Produkt doch von mehreren Händlern erworben werden kann, ist unbeachtlich, weil ein Nutzer auch direkt (z.B. über einen von einem anderen Nutzer per E-Mail versandten Link auf die in Rede stehende Artikeldetailseite gelangen konnte und auf diese Weise von vornherein keine Möglichkeit hatte, Informationen über mögliche andere Anbieter zu erhalten.

Besonders pikant: Das OLG Hamm hat dem Kläger einen Auskunftsanspruch zugestanden, womit auch die Verpflichtung zur Leistung von Schadensers zumindest dem Grunde nach feststehen dürfte. Der Kläger könnte hier, zum Beispiel weil er preisgünstigter Anbieter des „legitimen“ Angebotes war, den ihm entgangenen Gewinn von dem Beklagten ersetzt verlangen.

Für die Praxis ist daher unbedingt davon abzuraten, identische Artikel unter Umgehung der „Doublettensperre“ von Amazon einzustellen. Man könnte zur Umgehung der „Doublettensperrung“ an das Einstellen von Produktbundles denken, wobei Amazon hier sehr enge Regelungen vorgibt, wonach beispielsweise der Verkauf von Proteinpulver unter Beifügung eines Shakers schon kein zulässiges Bundle darstellen soll. Es bleibt wohl nur die „zulässige“ Teilnahme am Wettbewerb auf Amazon, indem man sich dem (fairen) Preiskampf stellt und im Übrigen regelmäßig die Angebote auf Rechtsverletzungen überwacht.

 

OLG Hamm, Urteil vom 12. Januar 2017 Az.: 4 U 80/16

Montagsblog: Neues vom BGH

Erneute Anordnung des schriftlichen Verfahrens
Urteil vom 4. Juli 2017 – XI ZR 470/15

Der XI. Zivilsenat verfestigt seine Rechtsprechung zu einer nicht unwichtigen Frage im Zusammenhang mit § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO.

Der Kläger begehrte nach dem Widerruf eines Darlehensvertrags von der Beklagten Rückzahlung erbrachter Zinsleistungen. Das Begehren blieb in erster Instanz zum weitaus überwiegenden Teil und in zweiter Instanz vollständig erfolglos. Das OLG traf seine Entscheidung im schriftlichen Verfahren. Anlässlich der Verlegung des ursprünglich bestimmten Verkündungstermins hatte es erneut die Zustimmung der Parteien zum schriftlichen Verfahren eingeholt und eine neue Schriftsatzfrist bestimmt. Mit seiner Revision rügte der Kläger unter anderem, eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren sei gemäß § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht mehr zulässig gewesen, weil zwischen der ersten Zustimmungserklärung der Parteien und der Verkündung des angefochtenen Urteils mehr als drei Monate verstrichen seien.

Der BGH hebt das Urteil des OLG aus materiell-rechtlichen Gründen auf und verurteilt die Beklagte entsprechend dem zuletzt gestellten Antrag in der Revisionsinstanz. Die Verfahrensrüge des Klägers sieht er hingegen als unbegründet an. § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO hindert das Gericht nicht daran, bei drohendem Ablauf der Dreimonatsfrist mit Zustimmung der Parteien erneut das schriftliche Verfahren anzuordnen. Die Entscheidung muss dann innerhalb von drei Monaten nach Erteilung der letzten Zustimmungserklärung ergehen. Damit bestätigt der BGH eine bereits vor einiger Zeit ergangene Entscheidung zu dieser Frage (BGH, Urt. v. 17.1.2012 – XI ZR 457/10, Rz. 34 – NJW–RR 2012, 622).

Praxistipp: Beide Parteien haben es in der Hand, eine nochmalige Anordnung des schriftlichen Verfahrens durch Verweigerung ihrer Zustimmung zu verhindern.

Ordnungsgeld auch gegen juristische Personen?

Im Rahmen eines Landwirtschaftsverfahrens hatte das AG gegen den Geschäftsführer einer GmbH persönlich ein Ordnungsgeld von sagenhaften 200 € verhängt, da dieser zu einem Termin – entgegen einer gerichtlichen Anordnung – nicht erschienen war. Ersatzweise wurden vier Tage Ordnungshaft festgesetzt. Auf die sofortige Beschwerde des Geschäftsführers änderte das OLG den Beschluss dahingehend ab, dass die ersatzweise angeordnete Ordnungshaft entfiel. Auf die Rechtsbeschwerde hebt der BGH – Senat für Landwirtschaftssachen – (Beschl. v. 30.3.2017 – Blw 3/16, MDR 2017, 721) den Beschluss des AG insgesamt auf.

Der BGH folgt hier der herrschenden Meinung, wonach ein Ordnungsgeld gemäß § 141 Abs. 3  ZPO nur gegen die juristische Person selbst festgesetzt werden darf, wenn diese Partei des Rechtsstreites ist. Eine Festsetzung gegen die Organe ist nicht statthaft. Zwar muss ein Organ geladen werden, da die Partei als juristische Person nur durch ihre Organe handeln kann. Das Gesetz verpflichtet aber gleichwohl in einem Zivilprozess ausschließlich die Partei. Zwar dürfen sitzungspolizeiliche Maßnahmen auch gegen ein Organ einer Partei ergriffen werden, dabei geht es aber um eine Missachtung des Gerichts. Beim Nichterscheinen geht es um die Aufklärung des Sachverhalts. Erscheint das Organ nicht, kann die juristische Person bei diesem Regress nehmen. Hat die juristische Person kein Vermögen, läuft zwar das Ordnungsgeld leer, dies ist aber bei natürlichen Personen als Parteien auch nicht anders.

Bereits das OLG hatte die ersatzweise angeordnete Ordnungshaft aufgehoben. Dies geschah zu Recht, da das Gesetz die Anordnung von ersatzweiser Ordnungshaft gegen die nicht erschienene Partei schlichtweg nicht vorsieht. Ordnungshaft kann allerdings gegen Zeugen verhängt werden (§ 380 ZPO). Die weiteren Voraussetzungen sowie das Verfahren richten sich nach Art. 5 ff. EGStGB. Danach darf das Ordnungsgeld zwischen 5 und 1.000 € betragen. Im Verhältnis zu vielen juristischen Personen wirken diese Beträge mehr als lächerlich.

Kommentar: Eigentlich ist all dies nicht mehr zeitgemäß. Der Gesetzgeber sollte vielmehr den Gerichten mehr Möglichkeiten geben, das Erscheinen von Organen juristischer Personen vor Gericht mit Sanktionen zu erzwingen, die diesen Namen auch wirklich verdienen. So besteht die Gefahr, dass gerade diejenigen über die Justiz lachen, die sie auch sonst nicht ernst nehmen, weil sie meinen, sich dies schlichtweg leisten bzw. einkaufen zu können. Aber mit derartigen „Trivialitäten“ wird sich der Gesetzgeber sicherlich nicht befassen wollen.

Vertiefungshinweis: Ausführlich zum Ordnungsgeld zuletzt Zapf MDR 2017, 554.

Montagsblog: Neues vom BGH

Anspruch auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsverletzung ist nicht vererblich
Urteil vom 23. Mai 2017 – VI ZR 261/16

Der VI. Zivilsenat entwickelt seine Rechtsprechung zur Nichtvererblichkeit von Ansprüchen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts fort.

Der ursprüngliche Kläger war wegen vielfacher Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Treblinka angeklagt. Der Beklagte berichtete in den Jahren 2010 und 2011 in einem Internetportal laufend über das anhängige Verfahren unter voller Namensnennung. Mit einer im November 2011 zugestellten Klage nahm ihn der Kläger wegen Verletzung seines Persönlichkeitsrechts auf Zahlung einer Geldentschädigung in Anspruch. Im März 2012 verstarb der Kläger. Seine Witwe führte den Rechtsstreit fort. Die Klage blieb in den ersten beiden Instanzen erfolglos.

Der BGH weist die Revision der Witwe zurück. Er knüpft an seine Rechtsprechung an, wonach Ansprüche auf Geldausgleich wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts ungeachtet der Aufhebung von § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. nicht vererblich sind, und entscheidet nunmehr, dass dies auch dann gilt, wenn der Anspruch im Zeitpunkt des Erbfalls bereits rechtshängig ist.

Praxistipp: Vor einer Erledigungserklärung sollte sorgfältig geprüft werden, ob der Anspruch auf einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts oder auf einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit beruht. Im zuletzt genannten Fall ist der Anspruch vererblich – unabhängig davon, ob er bereits rechtshängig war.

Unterwerfung des Mieters unter die sofortige Zwangsvollstreckung
Urteil vom 14. Juni 2017 – VIII ZR 76/16

Eine strenge Ausgestaltung eines Mietvertrags billigt der VIII. Zivilsenat.

Die Beklagte hatte eine Wohnung an eine GmbH und deren Geschäftsführer vermietet. Beide Mieter hatten sich entsprechend einer im Mietvertrag vorgesehenen Verpflichtung in notarieller Urkunde der sofortigen Zwangsvollstreckung hinsichtlich der Pflicht zur Zahlung der Miete unterworfen. Nach Beendigung des Mietverhältnisses betrieb die Beklagte die Zwangsvollstreckung aus der Urkunde. Die daraufhin erhobene Vollstreckungsgegenklage blieb in erster Instanz erfolglos. Das Berufungsgericht erklärte die Zwangsvollstreckung hingegen für unzulässig.

Der BGH stellt das erstinstanzliche Urteil wieder her. Er lässt offen, ob es sich um ein Mietverhältnis über Wohnraum handelt, und hält die Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung auch für einen solchen Mietvertrag für zulässig. Unerheblich ist auch, ob der Mieter eine Kaution geleistet hat. Die Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ist nicht als Sicherheitsleistung im Sinne von § 551 Abs. 1 BGB anzusehen und deshalb bei der Prüfung, ob die danach geltende Höchstgrenze überschritten ist, nicht zu berücksichtigen. Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen § 138 sieht der BGH im Streitfall als nicht gegeben an.

Praxistipp: Um unnötige Streitigkeiten über die Wirksamkeit der notariellen Unterwerfungserklärung zu vermeiden, sollte in diese die Klarstellung aufgenommen werden, dass eine Umkehr der Beweislast nicht eintreten soll.

Mietstreitigkeit mit dem früheren Schwiegersohn als Familiensache
Beschluss vom 12. Juli 2017 – XII ZB 40/17

Dass die Zuständigkeit für sonstige Familiensachen durchaus weit sein kann, zeigt eine Entscheidung des XII. Zivilsenats.

Die Kläger hatten eine Wohnung an ihre Tochter und deren Ehemann vermietet. Im Jahr 2011 trennten sich die Ehegatten, der Ehemann zog aus der Wohnung aus. Die Kläger nahmen den Ehemann später auf Zahlung der Miete für März 2012 bis Januar 2016 in Anspruch. Der Beklagte rügte unter anderem die funktionelle Zuständigkeit der Zivilabteilung. Das AG erklärte den Zivilrechtsweg für zulässig. Die sofortige Beschwerde des Beklagten blieb erfolglos.

Der BGH verweist den Rechtsstreit an das Familiengericht. Er knüpft an seine Rechtsprechung an, wonach Mietstreitigkeiten zwischen (geschiedenen) Ehegatten als Streitigkeiten im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung im Sinne von § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG anzusehen sein können, und entscheidet nunmehr, dass dies auch für Mietstreitigkeiten zwischen einem Ehegatten und dessen (ehemaligen) Schwiegereltern gilt. Im Streitfall bejaht er den erforderlichen Zusammenhang, weil das Bestehen der Ehe für den Abschluss des Mietvertrags ausschlaggebend gewesen war, der trennungsbedingte Auszug des Beklagten die Ursache für die geltend gemachten Mietforderungen bildet, und die Kläger nicht widerlegt haben, dass die Klage eine Reaktion auf die zerrissene Familiensituation darstellt.

Praxistipp: Wenn Zweifel an der Zuständigkeit bestehen, sollten beide Parteien darauf bedacht sein, eine Vorabentscheidung nach § 17a Abs. 1 oder 2 GVG herbeizuführen, damit diese Frage verbindlich geklärt ist. Nach § 17a Abs. 6 GVG ist eine solche Vorabentscheidung nicht nur im Verhältnis zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtswege zulässig, sondern auch im Verhältnis zwischen den Spruchkörpern für Zivilsachen, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

BGH zum absoluten Revisionsgrund der nicht ordnungsgemäßen Vertretung

Die Parteien gingen gegeneinander mit Klage und Widerklage vor. Das OLG verhandelte über den Rechtsstreit am 23.4.2014. Dabei war unbekannt, dass über das Vermögen der Klägerin, eine juristische Person nach dem Recht des Großherzogtums Luxemburg, bereits am 26.8.2013 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war.

Die Beklagte, die teilweise unterlegen gewesen war, möchte nun die Zulassung der vom OLG nicht zugelassenen Revision erreichen und beruft sich auf § 547 Nr. 4 ZPO, den absoluten Revisionsgrund der nicht gesetzlichen Vertretung einer Partei. Dieser Gedanke hat natürlich einiges für sich: Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahren werden die ursprünglichen Organe der Klägerin sicherlich auch nach dem Recht des Großherzogtums Luxemburg ihre Vertretungsbefugnis verloren haben und ein Verwalter wird das Sagen haben.

Obwohl wegen der Unterbrechungswirkung gar nicht hätte verhandelt und entschieden werden dürfen, ist das Urteil nicht nichtig, sondern mit den üblichen Rechtsmitteln anfechtbar. Demgemäß liegt grundsätzlich ein absoluter Revisionsgrund vor. In einem solchen Fall ist regelmäßig auch eine Zulassung der Revision geboten, schon um eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Gestalt einer Nichtigkeitsklage zu verhindern.

All dies gilt aber nur dann, wenn der absolute Revisionsgrund der nicht ordnungsgemäßen Vertretung auch von dem Gegner der betroffenen Partei geltend gemacht werden kann! Dies ist jedoch nicht der Fall. Im Rahmen der Nichtigkeitsklage wegen nicht ordnungsgemäßer Vertretung hat der BGH bereits entschieden, dass die Klage nur von der Partei erhoben werden darf, die nicht ordnungsgemäß vertreten war (BGHZ 63, 78 = BGH MDR 1975, 44). Für den absoluten Revisionsgrund des § 547 Nr. 4 ZPO gilt dasselbe. Die Vorschrift bezweckt nur den Schutz des Beteiligten, der nicht ordnungsgemäß vertreten war. Nur dieser kann auch die Prozessführung genehmigen. Ansonsten könnte der nicht ordnungsgemäß Vertretene einem Revisionsverfahren des Gegners jederzeit die Grundlage entziehen, indem er die Prozessführung genehmigt.

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass die Missachtung der Unterbrechungswirkung des § 249 ZPO jede Partei geltend machen kann. Dies folgt aber daraus, dass im Rahmen einer zulässigen Revision dieser Gesichtspunkt ohnehin von Amts wegen zu prüfen ist. Diese Prüfung erfolgt aber erst dann, wenn die Revision statthaft, mithin zugelassen ist. Dies war aber hier nicht der Fall. Damit wird die Revision nicht zugelassen.

BGH, Beschl. v. 22.12.2016 – IX ZR 259/15, MDR 2017, 538

Montagsblog: Neues vom BGH

Kein spektakulärer Anlass, aber dennoch bemerkenswert:
Dies ist Montagsblog Nr. 50!

Alternative ärztliche Behandlungsmethoden
Urteil vom 30. Mai 2017 – VI ZR 203/16

Mit einer nicht alltäglichen Methode der Zahnbehandlung befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der beklagte Zahnarzt wirbt in seinem Internetauftritt und in Vorträgen für eine ganzheitliche Behandlung durch Beseitigung von Störfeldern im Kiefer. Bei der Klägerin diagnostizierte er ein „mehrfaches Zahnherdgeschehen mit Abwanderungen von Eiweißverfallsgiften … bis in den Unterleib“. Entsprechend seiner Empfehlung ließ sich die Klägerin zunächst vier Zähne (14 bis 17) im rechten Oberkiefer entfernen und den gesamten Kieferknochen „gründlich“ ausfräsen. Nachdem Schwierigkeiten mit der verordneten Prothese aufgetreten waren, brach die Klägerin die Behandlung ab. Ihre Klage auf Rückzahlung des Honorars, Ersatz der Kosten für Folgebehandlungen und Zahlung eines Schmerzensgeldes war in den ersten beiden Instanzen überwiegend erfolgreich.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er nimmt Bezug auf seine Rechtsprechung, wonach die Anwendung von nicht allgemein anerkannten Therapieformen grundsätzlich erlaubt ist. Zugleich betont er, dass sich der Arzt nur dann für eine solche Behandlung entscheiden darf, wenn er die Vor- und Nachteile sorgfältig und gewissenhaft abgewogen hat. Die Beurteilung dieser Frage durch die Vorinstanzen hält der BGH für unzureichend, weil der gerichtlich bestellte Sachverständige nicht über Erfahrungen mit der ganzheitlichen Zahnmedizin in Theorie und Praxis verfügte.

Praxistipp: Die Parteien sollten im eigenen Interesse darauf hinwirken, dass das Gericht die ausreichende Qualifikation des Sachverständigen schon vor Erteilung des Gutachtenauftrags umfassend prüft.

Verkehrssicherungspflicht nach vorzeitiger Besitzeinweisung
Urteil vom 13. Juni 2017 – VI ZR 395/16

Mit den Grenzen der Verkehrssicherungspflicht des Grundstückseigentümers befasst sich ebenfalls der VI. Zivilsenat.

Das Auto des Klägers wurde durch einen herabfallenden Ast beschädigt. Deshalb nahm er die Beklagte, die damals noch Eigentümerin des ursächlichen Grundstücks war, auf Schadensersatz in Anspruch. Schon geraume Zeit vor dem Unfall war der Beklagten im Rahmen eines fernstraßenrechtlichen Enteignungsverfahrens der Besitz an dem Grundstück durch vorzeitige Besitzeinweisung gemäß § 18f FStrG entzogen worden. Das LG verurteilte die Beklagte dennoch im Wesentlichen antragsgemäß. Das OLG wies die Klage hingegen ab.

Der BGH weist die Revision des Klägers zurück. Er tritt dem OLG darin bei, dass die Beklagte mit der vorzeitigen Besitzeinweisung die Einwirkungsmöglichkeit auf das Grundstück verloren hatte und deshalb im Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr die Verkehrssicherungspflicht trug.

Praxistipp: Um die Verjährung von Ansprüchen gegen weitere als Schuldner in Betracht kommende Personen zu verhindern, muss diesen rechtzeitig der Streit verkündet werden.

BGH zur Zurückweisung eines Beweisantrags nach § 531 Abs. 2 ZPO

Nach § 531 Abs. 2 ZPO kann ein erstmals in der Berufungsinstanz gestellter Beweisantrag zurückgewiesen werden. Insoweit handelt es sich um ein neues Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel. Neu im Sinne dieser Vorschrift sind alle Angriffs- und Verteidigungsmittel, die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz nicht vorgebracht worden sind. Dazu gehören auch solche, die die Partei zwar zunächst vorgebracht hat, dann aber fallen gelassen hat, z.B. Verzicht auf einen erstinstanzlich gestellten Beweisantrag. Dagegen handele es sich nach einer neuen Entscheidung des BGH v. 31.05.2017 – VIII ZR 69/16 – nicht um ein Fallenlassen eines erstinstanzlich gestellten Beweisantrags, wenn lediglich der vom Gericht geforderte Auslagenvorschuss nicht eingezahlt werde.

Änderungen zur ärztlichen Zwangsmaßnahme in Kraft getreten

Das Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten ist am 22.07.2017 in Kraft getreten (vgl. BGBl. 2017 I, 2426).

Das Änderungsgesetz schließt die Lücke, wonach bei geltender Rechtslage hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt
werden dürfen (vgl. BVerfG v. 26.07.2016, 1 BvL 8/15). Zur Beseitigung dieser Lücke wird die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt werden. Für jede dieser Maßnahmen ist eine selbständige Norm mit einem eigenen richterlichen
Genehmigungsvorbehalt geschaffen worden. Ärztliche Zwangsmaßnahmen werden an das Erfordernis eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, gebunden. Eine verfahrensrechtliche Entkoppelung enthält das Gesetz indes nicht; dies erscheint unsystematisch.

Montagsblog: Neues vom BGH

Ausgangskontrolle bei Versand per Telefax
Beschluss vom 23. Mai 2017 – II ZB 19/16

Mit den Anforderungen an die Organisation des Telefaxversands in der Anwaltskanzlei befasst sich der II. Zivilsenat.

Der Rechtsanwalt des in erster Instanz unterlegenen Klägers hatte am letzten Tag der Frist eine Mitarbeiterin beauftragt, die Berufungsschrift per Telefax an das zuständige OLG zu versenden. Dort kamen nur die erste Seite der Berufungsschrift und eine Seite aus dem angefochtenen Urteil an, nicht aber die zweite Seite der Berufungsschrift mit der Unterschrift des Anwalts. Das OLG wies das Wiedereinsetzungsgesuch zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er verweist auf seine Rechtsprechung, wonach es zur Ausgangskontrolle genügt, einen Sendebericht ausdrucken zu lassen, auf dieser Grundlage die Vollständigkeit der Übermittlung zu prüfen und die Notfrist erst nach Kontrolle des Sendeberichts zu löschen. Entgegen der Auffassung des OLG ist es nicht erforderlich, die übermittelten Schriftstücke auf inhaltliche Vollständigkeit zu überprüfen oder den fristgebundenen Schriftsatz und dazu gehörende Anlagen getrennt zu übermitteln. Ebenfalls nicht erforderlich ist es, beim Gericht telefonisch nachzufragen, ob der Schriftsatz vollständig übermittelt worden ist.

Praxistipp: Bei umfangreichen Schriftsätzen mit zahlreichen Anlagen kann es sich dennoch empfehlen, Schriftsatz und Anlagen getrennt zu übermitteln, weil einige Faxgeräte die Übermittlung nach einer bestimmten Höchstdauer (z. B. eine Stunde) automatisch abbrechen und dies unter ungünstigen Umständen zum Verlust der gesamten Sendung führen kann.

Bedingte Fristverlängerung
Beschluss vom 1. Juni 2017 – V ZB 106/16

Das Gebot der Rechtsmittelklarheit konkretisiert der V. Zivilsenat.

Der Rechtsanwalt der in erster Instanz unterlegenen Klägerin hatte nach drei vorangegangenen Fristverlängerungen beantragt, die Frist zur Begründung der Berufung nochmals zu verlängern, und anwaltlich versichert, der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe zugestimmt. Der Vorsitzende des Berufungssenats gewährte die Fristverlängerung „mit der Maßgabe, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten seine Zustimmung erteilt hat“. Nach Eingang der Begründung innerhalb der verlängerten Frist machte die Beklagte geltend, eine Zustimmung zu der Verlängerung sei nicht erteilt worden. Das Berufungsgericht hielt die Fristverlängerung wegen Nichtvorliegens der in der Verfügung ausgesprochenen Bedingung für unwirksam und verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH verweist die Sache an das Berufungsgericht zurück. Er leitet aus dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit ab, dass die Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung nicht von einer Bedingung abhängig gemacht werden darf. Wenn das Gericht hiergegen verstößt, ist nicht die Fristverlängerung unwirksam, sondern nur die Bedingung. Deshalb war die Begründungsfrist trotz fehlender Zustimmung der Gegenseite wirksam verlängert worden.

Praxistipp: Um eine irrtümliche Fristverlängerung zu vermeiden, kann es sich für den Gegner empfehlen, das Gericht von sich aus darüber in Kenntnis zu setzen, dass er eine Bitte um Zustimmung zur Fristverlängerung abgelehnt hat.

Keine Kostenentscheidung nach Rücknahme des Antrags auf Zuständigkeitsbestimmung bei Anhängigkeit der Hauptsache

Der Beschluss über die gerichtliche Bestimmung nach § 37 ZPO enthält grundsätzliche keine Kostenentscheidung. Denn die Kosten des Bestimmungsverfahrens gehören zu den Kosten des Rechtsstreits (BayObLG NJW-RR 2000, 141). Bei einer Zurückweisung des Gesuchs des Antragstellers richtet sich die Kostenentscheidung hingegen nach § 91 ZPO entsprechend, im Falle der Rücknahme des Gesuchs nach § 269 Abs. 3 ZPO entsprechend, wenn jedenfalls eine Hauptsache nicht schon anhängig ist (jeweils BGH NJW-RR 1987, 757; str.).

Nun hat das OLG München in einer aktuellen Entscheidung nochmals bestätigt, dass bei Zurücknahme des Antrags nach § 37 ZPO  jedenfalls dann keine Kostenentscheidung veranlasst sei, wenn das Hauptsacheverfahren bereits rechtshängig sei und der Antragsgegner im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren durch dieselben Anwälte vertreten werde (OLG München vom 28.06.2017 – 34 AR 64/17 – unter Fortführung von OLG München vom 21.3.2014, 34 AR 256/13). Nach § 16 Abs. 1 Nr. 3a RVG würden auch ohne Bestimmungsentscheidung endende Verfahren zu derselben Angelegenheit gehören und keinen Gebührentatbestand auslösen. Zwar sei die Kostengrundentscheidung regelmäßig unabhängig davon zu treffen, ob im Einzelfall Kosten anfallen würden oder nicht. Stehe jedoch – wie hier – fest, dass (siehe § 16 Abs. 1 Nr. 3a RVG) keinerlei Kosten geltend gemacht werden könnten, so fehle das Rechtsschutzbedürfnis für eine ins Leere laufende Entscheidung.

Das OLG München hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen, obwohl eine Befassung des BGH mit dieser Problematik wünschenswert gewesen wäre. Allerdings wird nach überwiegender Meinung eine Rechtsbeschwerde im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für nicht statthaft gehalten.