Anwaltsblog: Nachträgliche Unzulässigkeit einer Berufung

Mit den Anforderungen an die Zulässigkeit einer bereits fristgemäß begründeten Berufung hatte sich der XI. Zivilsenat des BGH zu befassen:
Der Kläger verlangte von der beklagten Bank nach von ihm erklärten Widerruf die Rückabwicklung eines Verbraucherdarlehensvertrags und begehrte Feststellung, dass seine primären Leistungspflichten zur Zahlung von Zinsen und Tilgungsleistungen aufgrund des Widerrufs erloschen seien. Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Dagegen hat der Kläger fristgerecht Berufung eingelegt und diese begründet. Nachdem er das Darlehen vollständig abgelöst hatte, hat er den Feststellungsantrag in der Hauptsache für erledigt erklärt und (stattdessen) Rückzahlung der auf das Darlehen erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen verlangt. Die Beklagte hat sich der Erledigungserklärung angeschlossen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen.
Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels der Berufung setzt voraus, dass der Angriff des Rechtsmittelführers (auch) auf die Beseitigung der im vorinstanzlichen Urteil enthaltenen Beschwer gerichtet ist. Das Rechtsmittel ist mithin unzulässig, wenn mit ihm lediglich im Wege der Klageänderung ein neuer, bislang nicht geltend gemachter Anspruch zur Entscheidung gestellt wird; vielmehr muss zumindest auch der in erster Instanz erhobene Klageanspruch wenigstens teilweise weiterverfolgt werden. Die Erweiterung oder Änderung der Klage kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein, sondern nur auf der Grundlage eines zulässigen Rechtsmittels verwirklicht werden. Deshalb muss nach einer Klageabweisung das vorinstanzliche Begehren zumindest teilweise weiterverfolgt werden. Eine Berufung, die die Richtigkeit der vorinstanzlichen Klageabweisung nicht in Frage stellt und ausschließlich einen neuen – bisher noch nicht geltend gemachten – Anspruch zum Gegenstand hat, ist unzulässig. Daher ist die Berufung des Klägers unzulässig, weil er sein erstinstanzliches Begehren nicht weiterbetrieben, sondern im Wege der Klageänderung einen neuen, bislang nicht erhobenen Anspruch zur Prüfung unterbreitet hat. Die auf die positive Feststellung eines bestimmten Saldos aus einem Rückgewährschuldverhältnis gerichtete und die auf die Feststellung des Wegfalls von Primärpflichten des Darlehensnehmers aus dem Darlehensvertrag zielende Klage betreffen unterschiedliche Streitgegenstände. Aufgrund dessen handelt es sich beim Übergang von dem einen zu dem anderen Antrag um eine Klageänderung iSd. § 263 ZPO und nicht bloß um eine Antragsbeschränkung oder -erweiterung iSd. § 264 Nr. 2 ZPO. Dies gilt gleichermaßen für den vom Kläger in erster Instanz verfolgten negativen Feststellungsantrag und dem in zweiter Instanz geltend gemachten Anspruch auf Rückgewähr der erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen. Denn der Zahlungsantrag stellt in Form der Leistungsklage die Fortsetzung der positiven Feststellungsklage dar und wäre im Fall des Übergangs als Klageerweiterung nach § 264 Nr. 2 ZPO anzusehen. Gegenüber der negativen Feststellungsklage betrifft die Zahlungsklage dagegen einen anderen Streitgegenstand.

(BGH, Beschluss vom 19. September 2023 – XI ZB 31/22)


Fazit: Eine Berufung ist nur zulässig, wenn der Berufungskläger noch bei Schluss der letzten mündlichen Verhandlung die aus dem erstinstanzlichen Urteil folgende Beschwer beseitigen will. Eine Berufung ist danach unzulässig, wenn sie den in erster Instanz erhobenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiterverfolgt, sondern lediglich im Wege der Klageerweiterung einen neuen, bislang nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt. Die bloße Erweiterung oder Änderung der Klage in zweiter Instanz kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein (BGH, Urteil vom 30. November 2005 – XII ZR 112/03 –, MDR 2006, 828).

Anwaltsblog: Welche Folgen hat die Überlassung von Chipkarte und PIN durch den Rechtsanwalt an Mitarbeiter?

Es soll nicht unüblich sein, dass Rechtsanwälte ihre beA-Chipkarte und den dazugehörigen PIN Mitarbeitern überlassen, um sich die Mühen der Versendung von (fristgebundenen) Schriftsätzen auf dem sicheren Übermittlungsweg (§ 130a Abs. 3 ZPO) zu ersparen. Welche Folgen das für Wiedereinsetzungsverfahren hat, wenn es bei der Übermittlung zu Fehlern kommt und dadurch Fristen nicht gewahrt werden, hatte der BGH in einem Dieselfall zu entscheiden.

Die Anforderungen an das besondere elektronische Anwaltspostfach nach §§ 31a und 31b BRAO sind in der RAVPV (Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer) geregelt. Nach § 26 Abs. 1 RAVPV darf der Inhaber eines für ihn erzeugten Zertifikats (Chipkarte) dieses keiner anderen Person überlassen, die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN muss geheim gehalten werden. Erfolgt der Zugang zum Anwaltspostfach verbotswidrig durch eine andere Person, z.B. durch ermächtigten Kanzleimitarbeiter, sind die damit vorliegenden Erklärungen eines Unbefugten zwar formgerecht. Über die Folgen einer verbotswidrigen Nutzung hat 2022 höchstrichterlich erstmalig das BSG entschieden. Danach muss sich ein Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs, setzt er sich über die Verpflichtung zur ausschließlich eigenen – höchstpersönlichen – Nutzung durch Überlassung des nur für seinen Zugang erzeugten Zertifikats und der dazugehörigen Zertifikats-PIN an Dritte oder auf andere Weise bewusst hinweg, das von einem Dritten abgegebene elektronische Empfangsbekenntnis auch dann wie ein eigenes zurechnen lassen, wenn die Abgabe ohne seine Kenntnis erfolgt ist. Bis zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs waren die beteiligten Rechtsanwälte wie der Rechtsverkehr geschützt durch das Schriftformerfordernis und die daraus abgeleiteten Anforderungen an die höchstpersönliche und eigenhändige Unterschriftsleistung. Im elektronischen Rechtsverkehr ist dies abgelöst durch die Sicherungen entweder der qualifizierten elektronischen Signatur oder der vom Gesetzgeber im Interesse einer gesteigerten Akzeptanz der elektronischen Kommunikation begründeten Möglichkeit der Übermittlung von Dokumenten aus besonderen elektronischen Anwaltspostfächern. Im Interesse des Rechtsverkehrs an der strikten Verlässlichkeit der mit einem elektronischen Empfangsbekenntnis abgegebenen Erklärung kann sich ein Postfachinhaber deshalb nicht auf die Unbeachtlichkeit von Erklärungen berufen, die er unter Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs selbst ermöglicht hat. Verhält es sich so, hat er sich eine von Dritten abgegebene Erklärung vielmehr so zurechnen lassen, als habe er sie selbst abgegeben und im Vorhinein – durch die nicht vorgesehene Eröffnung der Nutzungsmöglichkeit für den Dritten – autorisiert (BSG, Urteil vom 14. Juli 2022 – B 3 KR 2/21 R –, juris Rn. 15). Dem schließt sich nunmehr der BGH für den Zivilprozess an: „Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem (= § 26 Abs. 1 RAVPV) zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben.“ Dies hat zur Folge, dass der Rechtsanwalt sich nicht damit entlasten kann, die in Frage stehende Sorgfaltspflichtverletzung sei einer erfahrenen und regelmäßig kontrollierten Mitarbeiterin unterlaufen, so dass ihn kein Verschulden träfe. Dazu hält der BGH erneut fest: Auch bei der Nutzung des beA ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Die Kontrollpflichten umfassen dabei die Überprüfung der nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO übermittelten automatisierten Eingangsbestätigung des Gerichts. Sie erstrecken sich u.a. darauf, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist. Dabei ist für das Vorliegen einer Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO auch erforderlich, dass gerade der Eingang des elektronischen Dokuments im Sinne von § 130a Abs. 1 ZPO, das übermittelt werden sollte, bestätigt wird. Die Bestätigung der Versendung irgendeiner Nachricht oder irgendeines Schriftsatzes genügt nicht. Vielmehr ist anhand des zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens auch zu prüfen, ob sich die automatisierte Eingangsbestätigung auf die Datei mit dem Schriftsatz bezieht, dessen Übermittlung erfolgen sollte. Dies rechtfertigt sich daraus, dass bei einem Versand über beA – anders als bei einem solchen über Telefax – eine Identifizierung des zu übersendenden Dokuments nicht mittels einfacher Sichtkontrolle möglich ist und deshalb eine Verwechslung mit anderen Dokumenten, deren Übersendung nicht beabsichtigt ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.
(BGH, Beschluss vom 31. August 2023 – VIa ZB 24/22).

Fazit: Will der Rechtsanwalt die Übermittlung über beA nicht selbst vornehmen, muss er den Schriftsatz, den dann Mitarbeiter übermitteln können, zuvor qualifiziert signieren (§ 130a Abs. 3 ZPO). Durch die qualifizierte Signatur ist sichergestellt, dass eine anwaltliche Kontrolle stattfindet.


Blog powered by Zöller: Video-Novelle – kein Selbstläufer

Bei der 1. Lesung des Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Gerichtsverfahren (BT-Drucks. 20/8095) hat sich gezeigt, dass dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch heiße Debatten in den Ausschüssen bevorstehen.

Für die Unionsfraktion erachtete der Abgeordnete Martin Plum es als unvereinbar mit dem Prozessleitungsermessen des Gerichts, dass es seine Entscheidung, entgegen einem Antrag der Parteivertreter in Präsenz zu verhandeln, trotz Unanfechtbarkeit mit einer besonderen Begründung versehen muss. Kritik übte er auch daran, dass Richter künftig die Sitzungen vom „heimischen Sofa“ aus leiten können; dies entspreche nicht der Rolle der Gerichte als „Zentren unseres Rechtsstaats“. Statt „digitale Leuchtturmprojekte“ zu schaffen, müsse zuerst für eine ausreichende digitale Grundausstattung der Gerichte in der Fläche gesorgt werden.

Die Abgeordnete Luiza Licina-Bode (SPD) befürwortete den Entwurf im Grundsatz, wies aber darauf hin, dass besonders in „sensiblen Verfahren“ die persönliche Anwesenheit der Parteien von großer Bedeutung ist, und sprach sich dafür aus, die Interessenlagen in den Ausschussberatungen noch einmal genau anzuschauen und zusammenzuführen.

In dieselbe Richtung argumentierte Susanne Hennig-Wellsow (Die Linke). In hochsensiblen Lebensbereichen müsse die Präsenzverhandlung weiterhin das übliche Verfahren bleiben. Gegen eine vollvirtuelle Verhandlung brachte sie vor, im Namen des Volkes Recht zu sprechen, erfordere den öffentlichen Raum, also den Gerichtssaal als Ort des Geschehens.

Für die AfD-Fraktion erklärte Fabian Jacobi, es müsse grundsätzlich dabei bleiben, dass das Gericht dem rechtsuchenden Bürger als Person gegenübertritt. Es dürfe nicht dahin kommen, dass er „bei der Verhandlung über für ihn womöglich existenzielle Angelegenheiten auf eine Videokachel auf einem Bildschirm reduziert wird“. An der Möglichkeit, gegen eine entsprechende richterliche Anordnung des Richters Einspruch zu erheben, könne er sich gehindert sehen, um den Richter nicht gegen sich einzunehmen.

Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) monierte, dass der Entwurf nicht weit genug geht. Um unnötigen Aufwand zu reduzieren, zu schnelleren Prozessen zu kommen, die Daseinsvorsorge in der Fläche zu gewährleisten und die Qualität der Rechtspflege zu sichern, müsse man sich wesentlich mehr einfallen lassen. Dazu werde die Fraktion in den Ausschüssen konkrete Vorschläge unterbreiten.

Aus mehreren Redebeiträgen wurde deutlich, dass es zu einer Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss kommen wird. Mit welchem Inhalt das Gesetz den Bundestag eines Tages verlassen wird, ist nicht absehbar. Daher kann die Anfang Dezember erscheinende 35. Auflage des Zöller für den Moment nur Ausblicke auf das künftige Recht geben und es noch nicht in seiner Endfassung kommentieren. Dies wird jedoch in der Online-Version des Kommentars zeitnah geschehen, auf die jeder Erwerber der Printauflage freien Zugriff hat. Das sind gute Aussichten!

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Der Zöller ist das Standardwerk zur ZPO und ein Muss für jeden Prozessualisten. Die Autoren des Zöller informieren im „Blog powered by Zöller“ regelmäßig über einschlägige Gesetzesentwicklungen und aktuelle Rechtsprechung.

Anwaltsblog: Wie muss die Ausgangskontrolle bei Versendung fristgebundener Schriftsätze per beA organisiert sein?

Wieder einmal hatte der BGH Anlass, in einem Wiedereinsetzungsverfahren die Voraussetzungen an die Kanzleiorganisation und insbesondere an die Postausgangskontrolle bei Versendung fristgebundener Schriftsätze per beA zusammenzufassen:
Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Unerlässlich ist die Überprüfung des Versandvorgangs. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden ist. Diese Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Bleibt sie dagegen aus, muss dies den Rechtsanwalt zur Überprüfung und gegebenenfalls erneuten Übermittlung veranlassen. Der Rechtsanwalt darf nicht von einer erfolgreichen Übermittlung eines Schriftsatzes per beA an das Gericht ausgehen, wenn in der Eingangsbestätigung im Abschnitt „Zusammenfassung Prüfprotokoll“ nicht als Meldetext „request executed“ und unter dem Unterpunkt „Übermittlungsstatus“ nicht die Meldung „erfolgreich“ angezeigt wird. Es fällt deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren.
Die Wiedereinsetzung gegen den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist begehrende Klägerin hat lediglich allgemein behauptet, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze die Anweisung, am Ende eines jeden Arbeitstages die Fristenliste mit den erfolgreichen „beA-Versandprotokollen“ abzugleichen und eine endgültige Erledigung nur zu notieren, wenn das „Versandprotokoll“ auf Existenz und Inhalt geprüft worden sei. Es lässt sich insoweit bereits nicht feststellen, ob sich die behauptete Anweisung einer Überprüfung des „Versandprotokolls“ auf die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO oder das Übermittlungsprotokoll bezog. Eine genaue Anweisung durch den Rechtsanwalt ist insbesondere erforderlich, um Verwechslungen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO mit dem Übermittlungsprotokoll zu vermeiden, dessen Vorliegen für die Ausgangskontrolle nicht genügt. Schon an der Darlegung einer solchermaßen eindeutigen Anweisung fehlt es. Zudem fehlen einer solcherart gefassten Anordnung auch hinreichende Anweisungen dazu, wie der zuständige Mitarbeiter die Kontrolle im Einzelfall vorzunehmen hat. Insoweit genügt es nicht, dass zur Organisation der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten die Weisung an die den Postversand tätigenden Büromitarbeiter gehört, zu prüfen, ob die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO vorliegt. Der Rechtsanwalt muss dem Mitarbeiter vielmehr vorgeben, an welcher Stelle innerhalb der benutzten Software die elektronische Eingangsbestätigung zu finden ist und welchen Inhalt sie haben muss. Die pauschale Anweisung, das Vorliegen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren, lässt den Mitarbeiter dagegen schon darüber im Unklaren, welches im Zusammenhang mit der Übermittlung von Schriftsätzen im elektronischen Rechtsverkehr erstellte Dokument eine elektronische Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO ist. Wie die Eingangsbestätigung aufgerufen und ihr Inhalt überprüft werden kann, erfordert eine intensive Schulung der mit dem Versand über das beA vertrauten Mitarbeiter. Dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine den Postversand tätigenden Mitarbeiter entsprechend geschult oder angewiesen hat, hat die Klägerin schon nicht vorgetragen.
(BGH, Beschluss vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23).

Fazit: Fristen dürfen erst nach Erhalt und Kontrolle der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs gestrichen werden (BGH MDR 2023, 858; Schwenker MDR 2023, 1161).

Anwaltsblog: Wann ist die bei einer Ersatzeinreichung per Fax erforderliche Darlegung und Glaubhaftmachung der Störung der elektronischen Übermittlungsmöglichkeit rechtzeitig?

Die Berufungsschrift der Beklagten gegen ein Urteil des Patentgerichts ist am letzten Tag der Berufungsfrist, dem 20. April 2023 um 15:15 Uhr per Telefax beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist. In einem am gleichen Tag um 20:09 Uhr per Telefax eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte dargelegt, weshalb ihre Prozessbevollmächtigten die Berufungsschrift nicht über das beA eingereicht haben.
Der BGH erklärt die Berufung durch Zwischenurteil für zulässig. Die Übermittlung der Berufungsschrift per Telefax war gemäß § 130d Satz 2 ZPO ausnahmsweise ausreichend. Die Beklagte hat dargelegt und anwaltlich versichert, dass zwei ihrer Prozessbevollmächtigten am 20. April 2023 zwischen 12:56 Uhr und 18:34 Uhr insgesamt zwölfmal versucht haben, die Berufungsschrift aus ihrem beA zu übermitteln, und dass alle Übermittlungsversuche mit der Meldung geendet haben, die Nachricht habe nicht an den Intermediär des Empfängers übermittelt werden können. Sie haben ferner dargelegt, dass am 20. April 2023 auf den Internetseiten des EGVP eine als „aktuell“ gekennzeichnete Meldung veröffentlicht war, wonach (u.a.) die Bundesgerichte seit dem 19. April 2023 um 14:12 Uhr „vorläufig nicht erreichbar“ seien. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Glaubhaftmachung rechtzeitig erfolgt. Gemäß § 130d Satz 3 ZPO ist die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung hat danach möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen. Eine unverzügliche Nachholung kommt ausschließlich dann in Betracht, wenn der Rechtsanwalt das technische Defizit erst kurz vor Fristablauf bemerkt und ihm daher nicht mehr genügend Zeit für die gebotene Darlegung und Glaubhaftmachung in dem ersatzweise einzureichenden Schriftsatz verbleibt. Eine noch am gleichen Tag wie die Ersatzeinreichung bei Gericht eingegangene Darlegung und Glaubhaftmachung ist als gleichzeitig im Sinne dieser Grundsätze anzusehen. Der Regelung in § 130d Satz 3 ZPO ist allerdings zu entnehmen, dass die Gründe für die Ersatzeinreichung so schnell wie möglich darzulegen und glaubhaft zu machen sind. Bei Anlegung dieses Maßstabes darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Frist für die Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels grundsätzlich bis zum Ende des betreffenden Tages ausgenutzt werden darf. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn die Ersatzeinreichung und die Darlegung und Glaubhaftmachung am gleichen Tag mit zwei getrennten Schriftsätzen übermittelt werden.
Aus der Rechtsprechung zu den Sorgfaltspflichten bei dem früher zulässigen Einreichen fristgebundener Schriftsätze per Telefax ergibt sich keine abweichende Beurteilung. Danach darf die Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax nicht vorschnell abgebrochen werden, wenn eine Übersendung zunächst nicht gelingt. Danach ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch dann zu versagen, wenn schon um 20 Uhr von weiteren Sendeversuchen abgesehen worden ist. Diese Rechtsprechung ist auf § 130d Satz 2 ZPO nicht übertragbar. Ein Rechtsanwalt, der aus technischen Gründen gehindert ist, einen fristwahrenden Schriftsatz elektronisch einzureichen, und deshalb eine zulässige Ersatzeinreichung veranlasst hat, ist nicht gehalten, sich vor Fristablauf weiter um eine elektronische Übermittlung zu bemühen. Diese Unterscheidung ist konsequent, weil § 130d Satz 2 ZPO nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumen einer Frist betrifft, sondern die Möglichkeit zur Einhaltung einer Frist in einer von der Vorgabe aus § 130d Satz 1 ZPO abweichenden Form vorsieht. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass ein Telefaxgerät wegen Belegung mit anderweitigen Sendungen vorübergehend nicht erreichbar ist, auch bei ordnungsgemäßer Funktion aller Komponenten. § 130d Satz 2 ZPO betrifft demgegenüber Fälle, in denen die zur Übermittlung eingesetzten Systeme eine Störung aufweisen.
(BGH, Zwischenurteil vom 25. Juli 2023 – X ZR 51/23)

Fazit: Der Grund für eine Ersatzeinreichung muss möglichst zeitgleich mit der Übermittlung glaubhaft gemacht werden. Eine Darlegung in einem gesonderten Schriftsatz am selben Tag ist als „gleichzeitig“ und damit rechtzeitig zu werten.

Anwaltsblog: Erkennbar falsches Datum in Rechtsmittelschrift schadet nicht!

Wie genau muss in einer Rechtsmittelschrift die angegriffene Entscheidung bezeichnet werden?

Das Familiengericht hat mit am 12. Mai 2021 verkündetem Beschluss den Antragsgegner zur Zahlung von Betreuungsunterhalt verpflichtet. Mit am 14. Mai 2021 erlassenem Beschluss hat es den Verfahrenswert festgesetzt. Beide Beschlüsse sind den Verfahrensbevollmächtigten am 17. Mai 2021 zugestellt worden. Mit Anwaltsschriftsatz vom 7. Juni 2021 hat der Antragsgegner gegen den „Beschluss des AG Neuss – Familiengericht – vom 14.05.2021, zugestellt am 17.05.2021“ Beschwerde eingelegt. Mit weiterem Schriftsatz vom 30. Juni 2021 hat er klargestellt, dass sich die Beschwerde gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 richte. Das OLG hat die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 verworfen. Der innerhalb der Beschwerdefrist eingegangene Schriftsatz vom 7. Juni 2021, nach dessen Wortlaut Beschwerde gegen einen am 17. Mai 2021 zugestellten Beschluss vom 14. Mai 2021 eingelegt werde, könne nicht als Beschwerde gegen die Entscheidung in der Hauptsache vom 12. Mai 2021 ausgelegt werden.
Das sieht der BGH anders. Nach § 64 Abs. 2 Satz 3 FamFG muss die Beschwerdeschrift die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Wie bei der für das zivilprozessuale Berufungsverfahren maßgeblichen Regelung in § 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift allerdings nicht, auf welche Weise die angefochtene Entscheidung bezeichnet werden muss. Da § 64 Abs. 2 Satz 3 FamFG dem Zweck dient, dem Beschwerdegericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten Klarheit über den Gegenstand und die Beteiligten des Rechtsmittelverfahrens zu verschaffen, ist in der Beschwerdeschrift die angegriffene Entscheidung in der Regel durch eine vollständige Bezeichnung der Verfahrensbeteiligten, des Gerichts, das den angefochtenen Beschluss erlassen hat, des Verkündungsdatums und des Aktenzeichens zu bezeichnen. Verfahrensrechtliche Formvorschriften sind jedoch kein Selbstzweck. Daher dürfen keine übermäßigen Anforderungen an die Beachtung der Förmlichkeiten der Beschwerdeschrift gestellt werden. Ausreichend ist, wenn aufgrund der Angaben in der Beschwerdeschrift und den sonstigen aus den Verfahrensakten erkennbaren Umständen vor Ablauf der Beschwerdefrist für das Gericht nicht zweifelhaft bleibt, welche Entscheidung angefochten wird, und es anhand der im Übrigen richtigen und vollständigen Angaben in der Rechtsmittelschrift nicht daran gehindert ist, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen. Gemessen hieran hat der Antragsgegner rechtzeitig Beschwerde gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 eingelegt. Zwar hat er den Erlasstermin der Entscheidung, gegen die sich das Rechtsmittel richten sollte, unzutreffend angegeben. Aus dem Inhalt der Verfahrensakten ergaben sich für das Gericht jedoch schon vor Ablauf der Beschwerdefrist hinreichende Anhaltspunkte, aus denen erkennbar war, dass der Antragsgegner die Entscheidung in der Hauptsache und nicht den Beschluss über die Festsetzung des Verfahrenswerts anfechten wollte. So befand sich in den Verfahrensakten bereits die Verfahrenshilfeliquidation des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners, die er am Tage der Abfassung der Beschwerdeschrift beim Amtsgericht eingereicht und der er die in dem Beschluss vom 14. Mai 2021 festgesetzten Verfahrenswerte unbeanstandet zugrunde gelegt hatte. Trotz der fehlerhaften Angaben in der Beschwerdeschrift zum Erlassdatum war das Beschwerdegericht auch seit Beginn seiner Befassung mit der Sache nicht gehindert, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen. Das Verfahren wurde von der Geschäftsstelle des OLG ohne weitere Beanstandung als Rechtsmittel gegen eine Hauptsacheentscheidung unter dem „UF“-Registerzeichen und nicht – wie bei einer Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Festsetzung des Verfahrenswerts – unter dem „WF“-Registerzeichen eingetragen.
(BGH, Beschluss vom 2. August 2023 – XII ZB 432/22)

Fazit: Ein Rechtsmittel ist formgerecht eingelegt, wenn trotz fehlerhafter Bezeichnung der angegriffenen Entscheidung aufgrund der Angaben in der Rechtsmittelschrift und den sonstigen aus den Verfahrensakten erkennbaren Umständen vor Ablauf der Rechtsmittelfrist für das Gericht nicht zweifelhaft bleibt, welche Entscheidung angefochten wird, und es anhand der im Übrigen richtigen und vollständigen Angaben in der Rechtsmittelschrift nicht daran gehindert ist, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen.

BGH: Übertragung vom Einzelrichter auf die Kammer

Im Rahmen eines Mobiliarzwangsvollstreckungsverfahrens hatte das Amtsgericht eine Erinnerung des Gläubigers zurückgewiesen. Der Gläubiger legte gegen den entsprechenden Beschluss sofortige Beschwerde ein. Die Beschwerdekammer beschloss in der Besetzung mit drei Richtern, die Sache in die Kammer zu übernehmen, und wies später die sofortige Beschwerde zurück, ließ jedoch die Rechtsbeschwerde zu.

Anstatt die sicherlich vom LG erhoffte Entscheidung in der Sache zu treffen, hob der BGH (Beschl. v. 12.4.2023 – VII ZB 33/22) den Beschluss des LG auf und verwies die Sache zurück! Das Gericht war nämlich nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen §§ 576 Abs. 3, 547 Abs. 1 ZPO). In einem solchen Fall ist der ergangene Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 ZPO).

Hier hatte ein Richter am Amtsgericht über die Erinnerung entschieden. Demgemäß hätte gemäß § 568 S. 1 ZPO bei dem LG als Beschwerdegericht gleichfalls ein Einzelrichter entscheiden müssen. Die Kammer in vollständiger Besetzung mit drei Berufsrichtern darf nur entscheiden, wenn der Einzelrichter durch eine besondere Entscheidung die Sache der Kammer übertragen hat. An einem solchen Beschluss fehlte es hier. Da dieser Beschluss in die alleinige Entscheidungskompetenz des bei dem LG tätigen Einzelrichters fällt, ist es auch unerheblich, dass der originär zuständige Einzelrichter hier an der Kammerentscheidung mitgewirkt hat, zumal es sein kann, dass er überstimmt wurde.

Fazit: Es sollte allseits versucht werden, derartige Verfahrensfehler zu vermeiden, die weder für die Gerichte noch für die Parteien irgendwelche Vorteile bringen. Die Beschwerdekammern sollten sich vielmehr an den klaren Gesetzeswortlaut halten und nicht experimentieren, möglicherweise hat es sich aber auch nur um ein Versehen gehandelt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Hemmung der Verjährung durch einen Mahnbescheid.

Nachträgliche Individualisierung des Anspruchs im Mahnverfahren
BGH, Urteil vom 7. Juni 2023 – VII ZR 594/21

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit den Anforderungen an die rechtzeitige Individualisierung des geltend gemachten Anspruchs.

Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen mangelhafter Ingenieurleistungen auf Schadensersatz in Anspruch. Die vertraglich geregelte Verjährungsfrist von fünf Jahren lief am 29.12.2014 ab. Ende August 2014 wurde der Beklagten ein Mahnbescheid zugestellt über einen „Anspruch aus Ingenieurvertrag vom 08.05.2007“. Zwei Tage erhielt die Beklagte ein Schreiben der Rechtsanwälte der Klägerin, in dem die Zustellung des Mahnbescheids angekündigt und der Sachverhalt, auf den der Anspruch gestützt wird, im Einzelnen dargelegt wird.

Das LG wies die Klage wegen Verjährung ab. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Die Zustellung eines Mahnbescheids hemmt die Verjährung nur dann, wenn die Forderung so individualisiert ist, dass der Schuldner erkennen kann, woraus der Gläubiger seinen Anspruch herleitet. Im Streitfall wird die Bezeichnung des Anspruchs im Mahnbescheid diesen Anforderungen nicht gerecht.

Entgegen der Auffassung des OLG kann eine fehlende Individualisierung nach Zustellung des Mahnbescheids nachgeholt werden, solange die Verjährung noch nicht eingetreten ist. Dies kann auch durch ein direkt an den Schuldner gerichtetes Schreiben erfolgen, weil es ausschließlich auf dessen Erkenntnishorizont ankommt. Im Streitfall ist die Verjährung deshalb durch den Zugang des Anwaltsschreibens gehemmt worden, in dem der maßgebliche Sachverhalt geschildert wird.

Praxistipp: Wenn sich die Individualisierung des Anspruchs schon aus der vorangegangenen Korrespondenz ergibt, kann im Mahnbescheid darauf (unter Angabe des Datums der einschlägigen Mitteilung) Bezug genommen werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die rechtliche Zuordnung eines Gebäudes zu einem Grundstück.

Tiefgarage als rechtmäßiger Überbau
BGH, Beschluss vom 15. Juni 2023 – V ZB 12/22

Der V. Zivilsenat befasst sich mit materiellen und formellen Voraussetzungen für die Begründung von Teileigentum.

Die Beteiligte möchte ein ihr gehörendes, mit einer Tiefgarage bebautes Grundstück in Teileigentum aufteilen. Der weitaus größte Teil des Gebäudekörpers erstreckt sich auf drei Nachbargrundstücke. Diese Grundstücke sind mit Grunddienstbarkeiten belastet, die den Überbau gestatten. Zu Lasten des Grundstücks der Beteiligten sind Grunddienstbarkeiten eingetragen, die dem jeweiligen Eigentümer der Nachbargrundstücke das Recht zum Aufbau eines Wohngebäudes auf der Decke der Tiefgarage einräumen.

Das Grundbuchamt hat die Teilung abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, die Bildung von Teileigentum an mehreren Grundstücken sei nicht möglich. Die Beschwerde der Beteiligten ist erfolglos geblieben.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, dass die beantragte Begründung von Teileigentum nur dann zulässig ist, wenn die Tiefgarage einen wesentlichen Bestandteil des Grundstücks der Beteiligten bildet. Bei einem nach § 912 Abs. 1 BGB zu duldenden oder einem vom Nachbarn gestatteten Überbau sind diese Voraussetzungen grundsätzlich auch hinsichtlich der überbauten Gebäudeteile erfüllt.

Dies gilt jedoch nur, wenn es sich bei dem Bauwerk um ein einheitliches Gebäude handelt. Hierfür ist bei einem Überbau grundsätzlich die Verkehrsanschauung maßgeblich. Die bautechnische Beschaffenheit kann die Verkehrsanschauung beeinflussen. Sie stellt aber nicht das allein entscheidende Kriterium dar.

Eine Tiefgarage mit rechtmäßig überbauten Gebäudeteilen ist danach grundsätzlich als einheitliches Gebäude anzusehen, wenn sie als Ganzes über eine Zufahrt von dem Stammgrundstück aus erreichbar ist. Sofern diese Voraussetzung vorliegt, ist es unschädlich, ob Gebäude auf den Nachbargrundstücken baustatisch von der Tiefgarage abhängen, ob solche Gebäude mit der Tiefgarage durch Treppenhäuser, Aufzugsschächte, Fluchtwege oder Versorgungseinrichtungen verbunden sind und ob auf den anderen Grundstücken weitere Zufahrten zur Tiefgarage angelegt sind.

Für den nach § 29 Abs. 1 GBO erforderlichen Nachweis durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden reicht es demnach aus, wenn die Rechtmäßigkeit des Überbaus durch Grunddienstbarkeiten belegt wird und wenn aus einer formgerechten Teilungserklärung nebst Aufteilungsplan hervorgeht, dass die Tiefgarage in ihrer Gänze über eine auf dem Stammgrundstück gelegene, zum Baukörper gehörende Zufahrt erreichbar ist.

Praxistipp: Als auf dem Stammgrundstück befindlicher Gebäudeteil reicht in der Regel eine befestigte Rampe aus, die in die Tiefgarage hinunterführt.

Blog powered by Zöller: Vorsicht bei Video-Verhandlung

Eine aktuelle Entscheidung des BFH macht deutlich, dass bei der Durchführung von mündlichen Verhandlungen per Video-Übertragung hohe Anforderungen an die „Bildregie“ zu stellen sind. Es muss sichergestellt sein, dass zugeschaltete Teilnehmer alle an der Verhandlung Beteiligten jederzeit sehen können. Dies gilt insbesondere für die Richterbank. Es genügt nicht, dass – wie im vorliegenden Fall – nur der Vorsitzende oder der gerade sprechende Richter zu sehen ist. Die Richterbank sei dann nicht ordnungsgemäß besetzt, denn der Zugeschaltete könne nicht überprüfen, ob ein Richter z.B. eingeschlafen oder vorübergehend abwesend ist. Damit liege ein absoluter Revisionsgrund vor; dass der Mangel während der Verhandlung nicht gerügt wurde, sei unerheblich. Das aufgrund dieser Verhandlung ergangene Urteil wurde daher aufgehoben. Die Sache wird vor der Kammer – entweder in Präsenz oder mit ordnungsgemäßem Kamerasystem – erneut zu verhandeln sein (BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22).

Diese Entscheidung ist als Warnruf, auch an die anderen Gerichtsbarkeiten, zu verstehen. In der Corona-Zeit wurde – notgedrungen – eine gewisse Großzügigkeit beim Einsatz von Video-Technik an den Tag gelegt; viele Prozesse wären sonst überhaupt nicht zu erledigen gewesen. Inzwischen ist es anders: Die Videoverhandlung wird als entlastende und beschleunigende Alternative zur Präsenzverhandlung geschätzt und soll nach einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung noch gefördert werden. Deshalb rücken nun wieder die Anforderungen an eine rechtsstaatliche Gestaltung der Gerichtsverhandlung in den Vordergrund, die sich gerade in der geordneten, nicht durch Sicht- oder Gehörsbeeinträchtigungen gestörten Interaktion zwischen den Prozessbeteiligten manifestiert. Auch nach der Begründung des genannten Gesetzentwurfs ist sicherzustellen, dass die im Gericht befindlichen Personen von den per Video zugeschalteten visuell und akustisch während der gesamten Verhandlung gut wahrnehmbar sind (BR-Drucksache 228/23, S. 49). Das wird in der Regel nur möglich sein, wenn mehrere Kameras zum Einsatz kommen, die jeden Beteiligten – auch gut erkennbar – erfassen. Systeme, die jeweils nur den Sprechenden zeigen, sind damit nicht zu vereinbaren; Raumkameras, die alle Anwesenden zusammen abbilden, hält der Entwurf nur bei einfach gelagerten Terminen ohne Beweisaufnahme und mit wenigen Verfahrensbeteiligten für ausreichend.

Verfügt das Gericht nicht über eine entsprechende Ausstattung, muss von einer Videoverhandlung abgesehen werden. Nach der jüngst ergangenen Entscheidung drohen sonst massenhafte Urteilsaufhebungen.

Davon unberührt und daher vorzuziehen ist der Einsatz der Videokommunikation bei informellen Erörterungsterminen außerhalb der mündlichen Verhandlung (durch die eine solche samt ihres technischen und organisatorischen Aufwands oft erspart werden kann; s. dazu Zöller/Greger, § 128 ZPO Rn 1a, auch Greger, MDR 2020, 957 Rn. 29 ff. und MDR 2023, 810 Rn. 22 ff.).

Mehr dazu im neuen Zöller, 35. Auflage.