Blog Update Haftungsrecht: BGH zum Werkstattrisiko – Wer zahlt für überhöhte Reparaturrechnungen?

Grundsatz: Werkstattrisiko liegt beim Schädiger

Schon nach der bisherigen Rechtsprechung lag das Werkstattrisiko grundsätzlich beim Schädiger (BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, MDR 1975, 218). Der Geschädigte, der sein Fahrzeug nach einem Verkehrsunfall einer Werkstatt anvertraut, darf darauf vertrauen, dass die Reparatur ordnungsgemäß erfolgen wird. Dies galt nur dann nicht, wenn den Geschädigten ein Verschulden (v. a. bei der Auswahl oder der Überwachung der Werkstatt) traf oder die Reparaturen dem Unfall gar nicht mehr zuzurechnen waren. Etwaige Ansprüche gegen die Werkstatt muss der Geschädigte im Wege des Vorteilsausgleichs dem Schädiger abtreten (zum Ganzen Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., Köln 2021, Rz. 27.47 m. w. N.).

Bei diesen Grundsätzen bleibt es. Am 16.1.2024 hat der BGH aber in gleich fünf Urteilen seine Rechtsprechung zum sog. Werkstattrisiko deutlich ausgebaut und präzisiert (Pressemitteilung Nr. 7/2024 zu den Urteilen v. 16.1.2024 – VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22 und VI ZR 51/23; Urteile derzeit noch nicht veröffentlicht!).

Präzisierung 1: Schädiger trägt auch das Risiko für Abrechnung gar nicht durchgeführter Arbeiten

Der Schädiger trägt nach der Entscheidung des BGH v. 16.1.2024 – VI ZR 253/22 auch dann das Werkstattrisiko, wenn gar nicht durchgeführte Arbeiten in Rechnung gestellt werden. Auch in diesem Fall erfolgt nämlich, so der BGH, die Reparatur außerhalb der Sphäre des Geschädigten.

Präzisierung 2: Auswahl- und Überwachungsverschulden des Geschädigten – Keine vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Werkstattauswahl erforderlich

Zudem schärft der BGH den Begriff des Auswahl- und Überwachungsverschuldens nach. Auch dann, wenn der Geschädigte die Reparatur und die Auswahl des Sachverständigen vollständig der Werkstatt überlässt, liegt kein Auswahl- und Überwachungsverschulden vor. Er ist nämlich nicht verpflichtet, ein Sachverständigengutachten zur Auswahl der Reparaturwerkstatt einzuholen (Urt. v. 16.1.2024 – VI ZR 51/23).

Präzisierung 3: Werkstattrisiko bei noch nicht beglichener Reparaturrechnung

Die Rechtsprechung zu den Sachverständigenkosten, deren Erforderlichkeit nur durch eine bezahlte Rechnung bewiesen werden kann, überträgt der BGH gerade nicht auf die Reparaturkosten. Vielmehr gelten die Grundsätze zum Werkstattrisiko auch im Falle einer nicht oder nur teilweise beglichenen Reparaturrechnung. Wer aber das Werkstattrisiko letztlich trägt, richtet sich dann nach dem Klageantrag:

  • Hat der Geschädigte die Werkstattrechnung noch nicht oder noch nicht vollständig beglichen und verlangt er Zahlung an sich selbst, trägt er das Werkstattrisiko. Eine Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt geht nämlich ins Leere, wenn der Geschädigte nach Erhalt der Schadensersatzzahlung vom Schädiger nicht an die Werkstatt zahlt.
  • Vermeiden kann der Geschädigte das Werkstattrisiko, indem er nicht Zahlung an sich selbst, sondern an die Werkstatt verlangt. Er kann seinen Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt umstellen und fortan nicht mehr Zahlung an sich selbst verlangen (Urt. v. VI ZR 253/22, VI ZR 51/23). Er verlagert so das Werkstattrisiko auf die Reparaturwerkstatt, die sich darauf nie berufen kann.
  • Verlangt der Geschädigte Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber der Werkstatt, trägt er im Ergebnis das Werkstattrisiko, weil es darauf ankommt, welcher Betrag nach Werkvertragsrecht geschuldet ist.

Präzisierung 4: Bei Abtretung profitiert der Abtretungsempfänger nicht von den Grundsätzen des Werkstattrisikos

Bei Abtretung (etwa an die Reparaturwerkstatt) trägt stets der Abtretungsempfänger (Zessionar), d. h. in vielen Fällen die Reparaturwerkstatt, das Werkstattrisiko, da der Geschädigte „ein besonders schützenswertes Interesse daran hat, dass der Geschädigte sein Gläubiger bleibt“ (Urt. v. VI ZR 38/22, VI ZR 239/22). Damit baut der BGH die im Urteil vom 26. 4.2022 -VI ZR 147/21 lediglich angedeutete Rechtsprechungslinie aus.

Fazit

Auch wenn derzeit die Urteilsgründe noch nicht veröffentlicht sind, überzeugen die Präzisierungen des BGH in ihren Grundlinien.

Der Geschädigte hat keinen Einblick in die Sphäre der Reparaturwerkstätten. Er kann sich daher stets auf das sog. Werkstattrisiko berufen. Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung kann dann, auf Basis abgetretener Ansprüche aus dem Werkvertrag, gegen die Werkstatt vorgehen. Ob künftig massenhaft Prozesse zwischen Haftpflichtversicherungen und Werkstätten geführt werden, ist offen.

Rückt die Reparaturwerkstatt selbst nah an eine Gläubigerstellung heran (z. B. bei nicht bezahlter Rechnung und Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt) oder wird sie sogar selbst Gläubigerin (z. B. bei Abtretung), greifen Erwägungen, die den Geschädigten schützen sollen, nicht mehr Platz, denn die Reparaturwerkstatt kann sich selbstverständlich nicht auf das Werkstattrisiko berufen.

Hinweis: Eine genaue Einordnung/Analyse der Entscheidungen wird Gegenstand eines Aufsatzes in der MDR sein.  

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Beweiswirkungen einer Behandlungsdokumentation.

Indizwirkung einer Behandlungsdokumentation
BGH, Urteil vom 5. Dezember 2023 – VI ZR 108/21

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit einem Fall, in dem die Behandlungsdokumentation eines Beteiligten auf Fehler eines anderen Beteiligten hindeutet.

Die klagenden Sozialversicherungsträger nehmen die Beklagten wegen Behandlungsfehlern bei der Geburt eines Kindes in Anspruch. Am Tag der Geburt wurde die Mutter in der Klinik der Beklagten zu 1 bis 3 zunächst von der als Beleghebamme tätigen Beklagten zu 5 betreut. Im Laufe des Nachmittags ergaben mehrere CTG-Untersuchungen einen pathologischen Befund. Um 19:45 Uhr übernahm der als Assistenzarzt tätige Beklagte zu 4 die Behandlung. Er ordnete nach einem massiven Abfall der Herztöne einen Not-Kaiserschnitt an. Das Kind war nach der Entbindung leblos und wurde wiederbelebt. Es leidet an einer irreversiblen Hirnschädigung.

Das LG hat die Ansprüche gegen die Hebamme für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt und deren Schadensersatzpflicht festgestellt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.

Die Klagen gegen die Beklagten zu 1 bis 4 hatten in erster Instanz keinen Erfolg. Das OLG erklärte die Klageansprüche auch insoweit für dem Grunde nach gerechtfertigt und stellte die Ersatzpflicht der Beklagten zu 1 bis 4 fest.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG entfaltet die Behandlungsdokumentation der Hebamme, der zufolge der Beklagte zu 4 bereits um 19:10 Uhr das zuvor aufgenommene, hochpathologische CTG gesehen hat, keine Vermutungswirkung zu Lasten der Beklagten zu 1 bis 4.

Als Urkunde begründet eine Behandlungsdokumentation gemäß § 416 ZPO vollen Beweis (nur) dafür, dass die darin enthaltenen Erklärungen abgegeben wurden, nicht aber dafür, dass sie inhaltlich zutreffend sind.

Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kann allerdings zugunsten der Behandlungsseite eine Indizwirkung zukommen, die im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO zu berücksichtigen ist. Daraus ergibt sich aber keine Umkehr der Beweislast. Die Indizwirkung ist schon dann erschüttert, wenn der Beweisgeber Umstände dartut, die Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Dokumentation begründen.

Im Streitfall kommt der Dokumentation der Hebamme im Verhältnis gegenüber den Beklagten zu 1 bis 4 jedoch schon deshalb keine Indizwirkung zu, weil sie ambivalent ist. Der in Rede stehende Eintrag kann sowohl darauf hindeuten, dass die Hebamme die dokumentierte Maßnahme tatsächlich vorgenommen hat, als auch darauf, dass sie ihre Verantwortung für das Geschehen in Abrede stellen und den Beklagten zu 4 belasten wollte.

Der Klinikträger muss sich den Behandlungsfehler der Hebamme auch nicht gemäß § 278 BGB zurechnen lassen. Sobald ein Arzt die Behandlung übernommen hat, ist eine mitwirkende Hebamme zwar dessen Gehilfin im Sinne von § 278 BGB. Im Streitfall ist aber nicht festgestellt, dass eine ärztliche Behandlung bereits vor 19:45 Uhr begonnen hat.

Praxistipp: Nach der in § 630h Abs. 3 BGB normierten und bereits zuvor in der Rechtsprechung etablierten Vermutung, gilt eine nicht dokumentierte Maßnahme als nicht durchgeführt. Darum ging es im Streitfall indes nicht nicht.

Anwaltsblog 3/2024: Noch einmal – Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Ob das Berufungsgericht eine erstinstanzliche durchgeführte Beweisaufnahme wiederholen muss, wenn mit der Berufungsbegründung die Bewertung der Beweisaufnahme durch das erstinstanzliche Gericht angegriffen wird, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Die Klägerin hatte an die Beklagten ein Haupt- und ein Nebenhaus an einem oberbayerischen See mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² vermietet. Sie beabsichtigte zunächst, das Grundstück zu verkaufen. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt. Kurz darauf kündigte die Klägerin das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Sie wolle nunmehr das Haus selbst mit einem ihrer Söhne und dessen Familie bewohnen und ihr anderer Sohn wolle einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen.

Das Amtsgericht hat der auf Räumungsklage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die erstinstanzliche Beweiswürdigung gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht. Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Dem Berufungsgericht ist eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Das Berufungsgericht hat den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.

(BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23, MDR 2023, 1331)

 

Fazit: Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben. Allerdings reicht für eine zweitinstanzliche Wiederholung einer Beweisaufnahme nicht jegliches Infragestellen der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht aus. Bloß subjektive Zweifel sowie abstrakte Erwägungen oder Vermutungen genügen aber nicht (kritisch dazu: Elzer MDR 2023, 1501 und Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 1/2024 Anm. 6.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Sorgfaltspflichten beim elektronischen Versand fristgebundener Schriftsätze.

beA-Versand erfordert keinen Papierausdruck
BGH, Beschluss vom 30. November 2023 – III ZB 4/23

Der III. Zivilsenat befasst sich mit den Anforderungen an die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Der Kläger begehrt Ersatz materieller und immaterieller Schäden aufgrund einer Gesundheitsverletzung. Die Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Der Kläger legte Berufung ein. Die elektronisch eingereichte Begründung des Rechtsmittels ging erst einen Tag nach Ablauf der maßgeblichen Frist beim Berufungsgericht ein. Dieses lehnte die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.

Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig, weil der Kläger nicht aufzeigt, dass die angefochtene Entscheidung auf Rechtssätzen beruht, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zu Recht als unzureichend angesehen, weil er keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung enthält, weshalb die Frist nicht eingehalten werden konnte.

Die detaillierte Schilderung von Druckerproblemen, die am Tag des Fristablaufs gegen 22:30 Uhr aufgetreten und ein rechtzeitiges Ausdrucken des Schriftsatzes unmöglich gemacht haben sollen, lässt nicht erkennen, was einem rechtzeitigen Versand per beA entgegenstand. Dieser erfordert es nicht, den Schriftsatz auszudrucken, auf Papier zu unterschreiben und wieder einzuscannen. Die beim beA-Versand ohne qualifizierte Signatur gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO erforderliche einfache Signatur erfordert lediglich eine maschinenschriftliche Wiedergabe des Namens.

Praxistipp: Anwälte, die Schriftsätze vor dem beA-Versand auf Papier durchlesen, unterschreiben und wieder einscannen, sollten organisatorische Vorkehrungen dafür treffen, dass der Versand in dringenden Fällen auch ohne vorherigen Ausdruck erfolgen kann.

Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

OLG Zweibrücken: Reisekosten bei digitalen Verhandlungen

Eine immer wichtiger werdende Frage zur Erstattung von Reisekosten bei digitalen Verhandlungen hat das OLG Zweibrücken mit Beschl. v. 9.10.2023 – 6 W 47/23 entschieden.

Der Kläger beauftragte einen Rechtsanwalt an seinem Wohnsitz für einen Prozess vor dem LG Frankenthal. Das LG bestimmte einen Termin und ließ den Parteien nach, an der mündlichen Verhandlung per Video teilzunehmen. Der Klägervertreter entschloss sich gleichwohl dazu, den Termin persönlich wahrzunehmen und erschien zur mündlichen Verhandlung. Nach gewonnenem Prozess meldete er die Reisekosten zur Erstattung an. Die Beklagte widersprach.

Das LG Frankenthal (Beschl. v. 8.9.2023 – 3 O 103/21) entschied, dass die Reisekosten festzusetzen sind. § 128a ZPO spricht davon, dass den Parteien und ihren Bevollmächtigten gestattet werden kann, sich an einem anderen Ort aufzuhalten. Hieraus kann eine Pflicht zur Teilnahme an einer Videokonferenz nicht abgeleitet werden. Es ist vielmehr die freie Entscheidung der Partei und/oder des Anwalts, an dem Termin gleichwohl in Präsenz teilzunehmen. Die Teilnahme an einem Termin kann vor diesem Hintergrund auch nicht als mutwillig angesehen werden. Vielmehr ist die Wahrnehmung eines Termins stets zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder -verteidigung notwendig. In diesem Sinne hatte auch bereits das LG Aachen  (Beschl. v. 20.7.2023 – 8 O 545/21) entschieden. Das OLG Zweibrücken teilt diese Auffassung und wies die sofortige Beschwerde ohne eigene Begründung, sondern nur durch die Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung des LG Frankenthal zurück.

Es kann daher festgehalten werden: Reisekosten zu einem Termin sind auch dann erstattungsfähig nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, wenn das Gericht die Teilnahme an einer digitalen Verhandlung gestattet hatte.

 

 

Anwaltsblog 1/2024: Wann darf ein Gericht unter Berufung auf eigene Sachkunde auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten?

Dass es nach wie vor – trotz vieler einschlägiger Urteile des BGH – zur gängigen Praxis mancher Instanzgerichte gehört, Beweisaufnahmen zu verweigern, zeigt eine aktuelle Entscheidung des BGH:

 

Der Kläger verlangt von der Beklagten Architektenhonorar. Die Beklagte hatte ein Grundstück erworben, auf dem sich ein als Bürogebäude genutztes Hochhaus und eine Tiefgarage befanden. Der Kläger erbrachte im Einzelnen streitige Planungsleistungen für den auf dem Grundstück vorgesehenen Neu- und Umbau des Gebäudes. Streitig war zwischen den Parteien, ob dem Kläger mündlich auch die Ausführungsplanung für zwei Teilprojekte (Neubau eines Wohngebäudes für studentisches Wohnen und Errichtung einer Tiefgarage) übertragen worden ist. Das Berufungsgericht (OLG Dresden) hat dem Kläger Honorar für die Ausführungsplanung nicht zugesprochen. Ihm sei es nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass er von der Beklagten in diesem Umfang konkludent beauftragt worden sei. Er habe zwar vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Dokumente unter Beweis gestellt, dass er die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht und hierüber die Beklagte fortlaufend unterrichtet habe. Damit habe der Kläger eine Entgegennahme der Architektenleistung durch die Beklagte behauptet. Allerdings werde aus den von ihm vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele. Es fehle der Nachweis, dass die von dem Kläger erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können. Diese Beurteilung sei dem Berufungsgericht aufgrund eigener Sachkunde möglich, weshalb es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht bedürfe.

Der BGH hebt das Berufungsurteil insoweit auf. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen konkludenten Vertragsschluss über die Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung nicht nachgewiesen, beruht auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Zwar handelt es sich bei der Frage, in welchem Umfang der Kläger mit der Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung beauftragt wurde, um eine vom Berufungsgericht vorzunehmende Rechtsprüfung. Für die Würdigung der Gesamtumstände war für das Berufungsgericht allerdings von Bedeutung, ob der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat. Diese Beurteilung betrifft eine Fachwissen voraussetzende Frage, deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist. Dies folgt aus den verwendeten fachsprachlichen Begriffen, aus dem Erfordernis der „notwendigen zeichnerischen und textlichen Einzelangaben“, aus der vorgeschriebenen Gestaltung der Zeichnungen nach „Art und Größe des Objekts im erforderlichen Umfang und dem Detaillierungsgrad unter Berücksichtigung aller fachspezifischen Anforderungen“, sowie aus der Koordinations- und Integrationspflicht, deren Erfüllung Kenntnisse der beteiligten Gewerke voraussetzt. Das Berufungsgericht hat sich gehörswidrig über den Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob er die Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag. Das Berufungsgericht durfte den Beweisantrag auf Einholung eines Gutachtens nicht unter Hinweis auf eine eigene Sachkunde ablehnen. Es hat keine Sachkunde aufzuweisen vermocht, die es zur Beurteilung befähigen könnte, ob die für das Bauobjekt vorgelegten Pläne den technischen Anforderungen genügen, die an die zu erbringende Ausführungsplanung zu stellen sind. Allein eine längere Tätigkeit in einem Bausenat kann nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über das – für die Prüfung der vorgelegten Ausführungsplanung auf Vollständigkeit – erforderliche bautechnische Fachwissen verschaffen.

(BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – VII ZR 17/23)

 

Fazit: Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf das Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn es entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.  Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anwendbarkeit nicht abdingbarer Vorschriften des deutschen Wohnungsmietrechts trotz vertraglicher Rechtswahl zugunsten einer anderen Rechtsordnung.

Rechtswahl bei Vermietung einer im Inland belegenen Wohnung
BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 7/23

Der VIII. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen eines Binnensachverhalts im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO.

Die klagende Republik B. vermietet in einem ihr gehörenden, neben ihrer Botschaft in Berlin belegenen Haus Wohnungen an Botschaftsangehörige und Dritte. Die nicht in der Botschaft beschäftigte Beklagten sind seit 2003 Mieter einer dieser Wohnungen. In der maßgeblichen Fassung des Mietvertrags ist vorgesehen, dass der Vertrag dem Recht der Republik B. unterliegt und nach einem Jahr endet. Die Botschaft der Klägerin teilte den Beklagten vor Ablauf der vereinbarten Mietzeit mit, dass eine Verlängerung des Mietverhältnisses nicht in Betracht kommt.

Die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg.

Nach § 575 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB ist eine Befristung des Mietverhältnisses nur dann wirksam, wenn der Vermieter bei Vertragsschluss schriftlich einen Grund für die Befristung mitteilt. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt.

Der BGH lässt offen, ob § 575 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB eine zwingende Formvorschrift im Sinne von Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO darstellt. Die Regelung ist im Streitfall schon deshalb maßgeblich, weil ein Binnensachverhalt im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO vorliegt.

Nach Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO bleiben nicht abdingbare Bestimmungen eines Staates trotz einer abweichenden Rechtswahl anwendbar, wenn alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt in diesem Staat belegen sind. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hängt von den Umständen des jeweiligen Falles ab und ist in erster Linie vom Tatrichter zu beurteilen.

Im Streitfall ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen, dass ein Binnensachverhalt im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO vorliegt.

Ausschlaggebend dafür sind folgende Umstände:

–   die vermietete Wohnung ist in Deutschland belegen;

–   die Beklagten haben seit 2003 in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt;

–   Abschluss und Abwicklung des Mietvertrags einschließlich des Einzugs der Miete erfolgten durch die Botschaft der Klägerin in Deutschland (diese ist als Zweigniederlassung im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Rom I-VO anzusehen).

Nicht ausschlaggebend sind vor diesem Hintergrund folgende Umstände:

die Staatsangehörigkeit der Vertragsparteien;

–   gesetzliche Regelungen der Klägerin über die Verwendung von Staatseigentum;

–   die Erfüllung diplomatischer Aufgaben (weil die die in Streit stehende Wohnung nicht zu diesem Zweck vermietet worden ist);

–   die Abfassung des Mietvertrags in der Amtssprache der Klägerin;

–   die Frage, ob die Rechtswahl mit dem Ziel der Gesetzesumgehung erfolgt ist.

Praxistipp: Ohne Rechtswahl unterliegen Miet- und Pachtverträge über unbewegliche Sachen gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Rom I-VO dem Recht des Staats, in dem die Sache belegen ist. Eine Ausnahme gilt gemäß Buchst. d für kurzfristige Verträge zwischen Parteien mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Staat.

Anwaltsblog: Kann in der Berufungsinstanz Gegenvortrag auf zulässigen neuen Vortrag der anderen Partei als verspätet zurückgewiesen werden?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob in der Berufungsinstanz Vortrag einer Partei als verspätet zurückgewiesen werden kann, den diese in Erwiderung zu neuem Vortrag gehalten hat, den die in I. Instanz siegreiche Partei nach einem Hinweis des Gerichts vorgebracht hatte:

 

Die Klägerin hatte sich verpflichtet, als „Expertin für Performance Marketing“ (Optimierung von Webseiten) die Beklagte, ein „Legal Tech – Start-Up“, im „Umfang von in Summe 96 Arbeitstagen“ auf dem Themenfeld „Marketing“ unterstützen. Die zum jeweiligen Monatsende fällige Vergütung betrug 1.500 € pro Tag. Nach Unstimmigkeiten kündigte die Klägerin den Vertrag und klagte Restvergütung ein. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 66.187,50 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat die Vergütung mit pro Tag 1.500 € und nicht, wie von der Klägerin abgerechnet, mit pro Tag 1.500 € zuzüglich Umsatzsteuer als vereinbart angesehen. Des Weiteren hat es einige Positionen vom geltend gemachten Anspruch abgesetzt. Das Bestreiten der anderen von der Klägerin angeführten Rechnungspositionen durch die Beklagte mit Nichtwissen hat es als unzulässig und insoweit das Vorbringen der Klägerin als zugestanden angesehen. Das Berufungsgericht hat die Parteien auf Folgendes hingewiesen: „Die Beklagte hat die Leistungen bestritten; zu einzelnen Tagen hat sie konkrete Beanstandungen vorgebracht (Anlage B 1), im Übrigen die Leistungserbringung mit Nichtwissen bestritten. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob die Klägerin hinreichend vorgetragen hat. Sie hat kein einziges Detail dargelegt, weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die ‚Beratung‘ erfolgt sein soll. Andererseits ist aber auch fraglich, ob die Beklagte die Leistungen mit Nichtwissen bestreiten darf nach § 138 Abs. 4 ZPO. Denn es könnte ihr zumutbar sein zu prüfen, ob sie oder in ihrem Verantwortungsbereich tätige Personen an den abgerechneten Tagen eine ‚Beratung‘ der Klägerin erhalten haben. Um Stellungnahme binnen drei Wochen wird gebeten. “ Mit Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Klägerin „zur Detaillierung der Klageforderung“ erstmals die Anlage K 6 vorgelegt, mit der die ihrem Vortrag zufolge erbrachten Leistungen konkretisiert wurden; mit Schriftsatz vom 19. August 2022 hat die Beklagte erstmals die abgerechneten Leistungen der Klägerin detailliert bestritten. Die Berufung der Beklagten hat nur in geringfügigem Umfang Erfolg gehabt; in der Hauptsache hat das Berufungsgericht den Verurteilungsbetrag auf 63.468,75 € herabgesetzt. Die Klägerin habe die Entstehung der abgerechneten Vergütung für Beratungsleistungen hinreichend dargelegt. Hingegen sei das Bestreiten der Leistungserbringung durch die Beklagte prozessual ungenügend. Eine Erklärung mit Nichtwissen sei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen seien. Die Klägerin habe bereits in der Klageschrift unerwidert vorgetragen, sie habe der Beklagten mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 die im Berufungsverfahren als Anlage K 6 eingereichte Übersicht mit weiteren Details über die erbrachten Leistungen übersandt. Dies habe die Beklagte erstinstanzlich nicht bestritten, im Berufungsverfahren habe ihr Geschäftsführer erklärt, er wisse nicht mehr, wann er diese Übersicht erstmals gesehen habe. Sofern hierin ein Bestreiten der vorgerichtlichen Kenntnis von der Übersicht liegen sollte, wäre es im Berufungsverfahren jedenfalls nicht zuzulassen, da kein Grund für die Zulassung dieses neuen Verteidigungsmittels gemäß § 531 Abs. 2 ZPO vorgetragen oder sonst ersichtlich wäre. Wenn der Beklagten aber die Übersicht mit den weiteren Details insbesondere hinsichtlich der Rechnung vom 20. November 2018 vorgerichtlich bekannt gewesen sei, wäre ein Vortrag, der über ein Bestreiten mit Nichtwissen hinausgehe, tatsächlich unschwer möglich und prozessual auch gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erforderlich gewesen. Das erstmals im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 19. August 2022 erfolgte detaillierte Bestreiten der abgerechneten Leistungen seitens der Beklagten sei als neues Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unbeachtlich.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es ihr erstmals im Berufungsverfahren erfolgtes detailliertes Bestreiten der von der Klägerin abgerechneten Leistungen zu Unrecht nach § 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO nicht zugelassen hat, obgleich deren entsprechender (Gegen-)Vortrag seinerseits – nach einem Hinweis des Gerichts – erst in der Berufungsinstanz weiter konkretisiert worden war. Eine in erster Instanz siegreiche Partei – hier die Klägerin – darf darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis erteilt, wenn es in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Außer zur Hinweiserteilung ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall auch verpflichtet, der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen sowie gegebenenfalls auch Beweis anzutreten. Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Das Gericht darf allerdings nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Ist in einem nach Erteilung eines richterlichen Hinweises eingegangenen Schriftsatz des Berufungsbeklagten neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff enthalten, ist der Schriftsatz dem Berufungskläger mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Tritt dieser dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel des Berufungsbeklagten entgegen, ist sein Vorbringen gleichfalls zu berücksichtigen.    Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt es, dass das Berufungsgericht das mit Schriftsatz vom 19. August 2022 „erfolgte detaillierte Bestreiten“ des Inhalts dieser Liste für prozessual unbeachtlich erklärt hat. Zwar ist dieser Sachvortrag erstmals im Berufungsrechtszug gehalten worden. Konkret veranlasst worden ist der neue Vortrag jedoch durch den Hinweis des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2022 und die sich daran anschließende erstmalige Vorlage der Liste im Prozess mit Schriftsatz der Klägerin vom 17. August 2022. Aus besonderen in der Verfahrensordnung angelegten Gründen – § 531 ZPO – durfte der neue Vortrag daher nicht unberücksichtigt bleiben.

(BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – III ZR 184/22)

 

Fazit: Bringt eine Partei auf einen richterlichen Hinweis ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel vor, ist dies der anderen Partei mitzuteilen und das Vorbringen, mit dem diese dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel entgegentritt, gleichfalls zu berücksichtigen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Innenausgleich zwischen den Haftpflichtversicherern eines an einem Verkehrsunfall beteiligten Gespanns.

Rückwärtsfahren mit Anhänger
BGH, Urteil vom 14. November 2023 – VI ZR 98/23

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit der Haftungsverteilung gemäß § 78 Abs. 3 VVG und § 19 Abs. 4 StVG.

Bei einem Rangiervorgang mit einem Gespann wurde ein anderes Fahrzeug beschädigt. Die Klägerin, bei der das Zugfahrzeug haftpflichtversichert ist, regulierte den Schaden in Höhe von 930 Euro. Sie nimmt die Beklagte, bei der der Anhänger haftpflichtversichert ist, auf Erstattung der Hälfe dieses Betrages in Anspruch. Das AG gab der Klage statt, das LG wies sie ab.

Die Revision der Klägerin bleibt ohne Erfolg.

Gemäß § 78 Abs. 3 VVG bestimmt sich das Innenverhältnis zwischen den beiden Haftpflichtversicherern eines Gespanns nach der Regelung in § 19 Abs. 4 StVG. Danach hat der Versicherer des Zugfahrzeugs grundsätzlich den gesamten Schaden zu tragen. Etwas anderes gilt nur, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein. Gemäß § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG verwirklicht das Ziehen des Anhängers allein im Regelfall keine höhere Gefahr.

Der BGH tritt dem LG darin bei, dass der in § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG normierte Grundsatz auch dann greift, wenn der Anhänger beim Rückwärtsfahren geschoben wird. Dass das Gespann länger und weniger übersichtlich ist als das Zugfahrzeug allein, reicht nach dem Gesetz nicht aus, um einen Anspruch gegen den Versicherer des Anhängers zu begründen.

Praxistipp: Die beiderseitige Ersatzpflicht für Schäden am versicherten Zugfahrzeug oder am versicherten Anhänger richtet sich gemäß § 19 Abs. 4 Satz 5 StVG nach den allgemeinen Regeln, also §§ 823 ff. BGB und ggf. vertraglichen Vereinbarungen.