Anwaltsblog 12/2024: Nur eingeschränktes Rechtsmittel gegen zweites Versäumnisurteil!

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur statthaft, wenn sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Mit den Voraussetzungen einer unverschuldeten Säumnis musste sich der BGH befassen (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2024 – VIII ZB 47/23):

 

Auf den Einspruch des Klägers gegen ein Versäumnisurteil hatte das Landgericht Aachen Termin auf den 9. Dezember 2022, 13.00 Uhr bestimmt. Zu diesem Termin ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers bis um 13.20 Uhr nicht erschienen, sondern hat über seine Kanzlei mitteilen lassen, er befinde sich derzeit noch „im Gerichtsgebäude in Essen“ und werde nicht vor 14.30 Uhr zu dem Einspruchstermin erscheinen. Daraufhin hat das LG den Einspruch des Klägers durch zweites Versäumnisurteil als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Einer der Rechtsanwälte der aus drei Mitgliedern bestehenden Sozietät habe an dem Sitzungstag einen unaufschiebbaren Termin gegen 12.00 Uhr vor dem Amtsgericht Marl wahrgenommen. Aufgrund der unerwarteten Erkrankung eines weiteren Mitglieds der Sozietät habe der dritte Sozietätskollege vertretungsweise zwei auf 11.00 Uhr und 11.15 Uhr anberaumte Termine in Essen vor dem dortigen LG und dem AG wahrnehmen müssen. Nachdem der erste vorgenannte Termin, in dem lediglich Anträge hätten gestellt werden sollen, aus unvorhergesehenen Gründen bis 11.30 Uhr gedauert habe, habe der vorgenannte, in Essen befindliche Rechtsanwalt sein Büro gebeten, das LG Aachen über seine voraussichtliche Verspätung zu informieren und gegebenenfalls um eine Verlegung des dortigen Termins zu ersuchen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Prozessbevollmächtigte davon ausgegangen, dass der zweite Termin in Essen nicht länger als 20 Minuten dauern und er bei einer Fahrtzeit von Essen nach Aachen von circa eineinviertel Stunden allenfalls mit einer Verspätung von 15 Minuten nach Terminsaufruf vor dem LG Aachen erscheinen werde. Vollkommen überraschend und unvorhersehbar sei die zweite Sitzung in Essen jedoch erst um circa 13.00 Uhr beendet worden.

Das OLG hat die Berufung als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zu einer unverschuldeten Säumnis im Einspruchstermin nicht schlüssig vorgetragen, so dass die Berufung unzulässig sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe nicht ausreichend dargelegt, aus seiner Sicht alles Erforderliche und Zumutbare unternommen zu haben, um den Termin vor dem Landgericht wahrnehmen zu können.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Kläger hat nicht schlüssig dargetan, dass sein Prozessbevollmächtigter den Einspruchstermin am 9. Dezember 2022 ohne ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden versäumt hat. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers war nicht ohne Verschulden gehindert war, an der Sitzung vor dem Landgericht in Aachen am 9. Dezember 2022 teilzunehmen. Die Säumnis war nicht aufgrund der Wahrnehmung von Gerichtsterminen in Essen für den erkrankten Sozietätskollegen unverschuldet. Der Kläger hat in der Berufungsbegründung weder schlüssig dargelegt, dass sein Prozessbevollmächtigter „überraschend und unvorhersehbar“ aufgrund der Dauer des erst um 11.30 Uhr beginnenden Termins vor dem AG Essen bis um 13.00 Uhr an der Wahrnehmung des Einspruchstermins in Aachen gehindert gewesen sei, noch, dass wegen einer (absehbaren) Kollision des zweiten in Essen anberaumten Verhandlungstermins mit dem Einspruchstermin der zuletzt genannte Termin hätte verlegt werden müssen. Eine Terminsverlegung oder -vertagung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird.

Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon zu Beginn der zweiten Verhandlung in Essen um 11.30 Uhr nicht mehr von einer rechtzeitigen Ankunft beim LG Aachen ausgehen durfte. Denn der Prozessbevollmächtigte konnte weder von einem pünktlichen Beginn der Sitzung vor dem AG Essen um 11.15 Uhr noch von einer maximal 20minütigen Dauer der dortigen Verhandlung sicher ausgehen. Denn der zeitliche Verlauf einer Sitzung lässt sich – wie der tatsächliche Beginn der Sitzung um 11.30 Uhr und deren Dauer von anderthalb Stunden zeigen – erfahrungsgemäß grundsätzlich nicht zuverlässig voraussagen. Ein Prozessbevollmächtigter muss daher bei seiner Zeitplanung einkalkulieren, dass ein Sitzungstermin eine gewisse, im Voraus nicht sicher absehbare Zeit in Anspruch nehmen wird. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers musste deshalb nicht nur einen späteren Beginn der zweiten Sitzung in Essen – von hier lediglich einer Viertelstunde -, sondern auch eine längere Verhandlungsdauer vorsorglich einplanen. Für ihn war deshalb spätestens um 11.30 Uhr absehbar, dass er schon bei einer (einzukalkulierenden) geringfügigen Überschreitung der von ihm angesetzten Verhandlungsdauer selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Wartezeit von etwa 15 Minuten nach Aufruf der Sache vor dem LG Aachen nicht mehr rechtzeitig in dem Einspruchstermin würde erscheinen können. Allein mit dem späteren Beginn und der tatsächlichen Dauer der Verhandlung vor dem AG Essen konnte der Prozessbevollmächtigte deshalb sein Fernbleiben in dem Einspruchstermin nicht entschuldigen.

Das Landgericht war auch nicht gehalten, den Einspruchstermin wegen der (absehbaren) Kollision mit dem Verhandlungstermin in Essen auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu verlegen. Die Verhinderung des Prozessbevollmächtigten einer Partei aufgrund eines bereits zuvor anberaumten kollidierenden Verhandlungstermins kann einen erheblichen Grund für eine Terminsverlegung darstellen. Eine Kollision setzt voraus, dass die Wahrnehmung beider Termine zeitlich nicht möglich ist. In die Entscheidung über die Terminsverlegung sind alle Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls einzubeziehen, beispielsweise die Art des kollidierenden Gerichtstermins und des Zeitpunkts seiner Bestimmung, die Besonderheiten der Mandatsbeziehung, die Möglichkeit, den kollidierenden Termin zu verlegen oder einen der Termine durch einen Vertreter wahrnehmen zu lassen. Ausnahmsweise kann auch ein später anberaumter Termin Vorrang vor einem früher bestimmten Termin genießen, etwa wenn ein Verhandlungstermin bereits verlegt worden ist, prozessuale Gründe die Durchführung dieses Termins gebieten, es sich um einen Termin zur Durchführung einer aufwendigen Beweisaufnahme oder ein besonders eilbedürftiges Verfahren handelt. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger bereits einen erheblichen Grund iSv. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die Verlegung des Einspruchstermins in Aachen nicht schlüssig dargelegt. Das Berufungsgericht hat deshalb jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, dass eine Verlegung des Einspruchstermins aufgrund des von dem Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalts nicht in Betracht kam.

Es kommt vor diesem Hintergrund auch nicht darauf an, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon um 11.30 Uhr seine Mitarbeiter gebeten hat, das Landgericht in Aachen über seine voraussichtliche Verspätung aufgrund des Gerichtstermins in Essen zu informieren und um eine Terminsverlegung zu ersuchen. Das Berufungsgericht hat diesen Vortrag zu Recht als unerheblich angesehen. Es hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte nicht darauf vertrauen durfte, seinem (behaupteten) Verlegungsantrag werde entsprochen. Denn (allein) der von einer Partei gestellte Antrag auf Verlegung eines Verhandlungstermins – ohne Darlegung eines erheblichen Grunds – entschuldigt eine Versäumnis nach § 337 ZPO nicht, weil die Termine zur mündlichen Verhandlung der Parteidisposition entzogen sind.

 

Fazit: Eine Terminsverlegung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob es bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung verlegt, nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Einem Antrag auf Terminsverlegung oder -vertagung ist daher regelmäßig aufgrund Vorliegens eines erheblichen Grunds stattzugeben.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Kosten für Schönheitsreparaturen in einer Mietwohnung.

Individuell vereinbarte Quotenabgeltungsklausel
BGH, Beschluss vom 6. März 2024 – VIII ZR 79/22

Der VIII. Zivilsenat ergänzt seine Rechtsprechung zu Klauseln, die den Mieter für den Fall eines Auszugs vor Fälligkeit von Schönheitsreparaturen zur anteiligen Kostentragung verpflichten.

Die Beklagte hatte seit Mai 2015 eine Wohnung vermietet. Die Kläger traten im Oktober 2015 anstelle des vorherigen Mieters in den Mietvertrag ein. Damals vereinbarten die Parteien, dass die Kläger die vom Vormieter eingegangene Verpflichtung zur Zahlung anteiliger Kosten bei Auszug vor Fälligkeit von Schönheitsreparaturen übernehmen und dass es deshalb bei einer dem Vormieter gewährten Reduzierung der monatlichen Miete um 80 Euro verbleibt.

Das Mietverhältnis endete mit Ablauf des Monats Mai 2018. Die Beklagte behielt von der geleisteten Kaution einen Teilbetrag von rund 1.250 Euro wegen anteiliger Kosten für Schönheitsreparaturen ein. Das AG wies die auf Zahlung dieses Betrags gerichtete Klage ab. Das LG verurteilte die Beklagte antragsgemäß.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück.

Entgegen der Auffassung des LG ist für die Entscheidung des Streitfalls erheblich, ob die vertragliche Regelung über die anteilige Kostenpflicht eine Allgemeine Geschäftsbedingung oder eine Individualvereinbarung darstellt.

Als Allgemeine Geschäftsbedingung ist eine solche Klausel nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam, weil für den Mieter nicht absehbar ist, welche Kostenbelastung auf ihn zukommt (BGH, Urt. v. 18.3.2015 – VIII ZR 242/13, MDR 2015, 636).

Eine Individualvereinbarung dieses Inhalts ist hingegen wirksam.

  • 556 Abs. 4 BGB, wonach Vereinbarungen über Betriebskosten nicht zum Nachteil des Mieters von den Vorgaben in § 556 Abs. 1 BGB abweichen dürfen, steht solchen Regelungen entgegen der Auffassung des LG nicht entgegen. Kosten für Schönheitsreparaturen sind keine Betriebskosten. Sie betreffen vielmehr die Instandhaltung und Instandsetzung der Mietsache. Die diesbezügliche Pflicht obliegt zwar gemäß § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB dem Vermieter. Diese Regelung ist aber dispositiv.

Das LG wird deshalb zu prüfen haben, ob die für den Streitfall relevante Regelung individuell ausgehandelt worden ist. Hierfür genügt es nicht, dass die Kläger die Wahl zwischen der vereinbarten Klausel und einer um 80 Euro höheren Miete hatten. Vielmehr müssen sie die Möglichkeit gehabt haben, alternativ eigene Textvorschläge mit der effektiven Möglichkeit ihrer Durchsetzung einzubringen.

Praxistipp: Eine Pflicht zur Vornahme von Renovierungsarbeiten für den Fall, dass die Räume mehr als unerhebliche Gebrauchsspuren aufweisen, kann nach der neueren Rechtsprechung des BGH in AGB nicht wirksam vereinbart werden, wenn die Wohnung in nicht renoviertem Zustand übergeben worden ist (BGH, Urt. v. 18.3.2015 – VIII ZR 185/14, MDR 2015, 578).

Blog-Update Haftungsrecht: Brandgefährliches Parken

Wenn durch den Brand eines geparkten Kfz ein Fremdschaden entsteht, z.B. weil das Feuer auf ein daneben stehendes Fahrzeug übergreift, ist dieser Schaden nicht in jedem Fall von der Gefährdungshaftung des Kfz-Halters und dessen Kfz-Haftpflichtversicherung gedeckt. Voraussetzung ist vielmehr, dass der Brand in einem „nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kfz“ steht. Für diesen vom Geschädigten zu führenden Beweis reicht es, wie der BGH in einem solchen Fall jüngst entschieden hat, nicht aus, dass die Brandursache nicht geklärt und eine vorsätzliche Brandstiftung nicht nachgewiesen wurde. Dass eine Brandstiftung als Brandursache nicht in Betracht kommt, könne zwar als Indiz dafür dienen, dass der Brand auf den Betrieb des Fahrzeugs zurückzuführen ist. Im konkreten Fall hatte das OLG eine Brandstiftung aber lediglich als nicht erwiesen angesehen. Darauf könne eine Verurteilung der Beklagten nicht gestützt werden, denn auch für Indiztatsachen trage der Kläger die Beweislast. Ein Anscheinsbeweis komme mangels typischen Geschehensablaufs nicht in Betracht.

Die Sache wurde ans OLG zurückverwiesen, damit es prüfen kann, ob bei richtiger Beweislastverteilung und ggf. nach ergänzenden Feststellungen eine Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhang des Brandes mit einer Betriebseinrichtung des Kfz zu gewinnen ist (Urt. v. 12.12.2023 – VI ZR 76/23). Gelingt dies nicht, geht der Eigentümer des mitverbrannten Autos, sofern er keine Kasko-Versicherung hat, leer aus.

Die umfangreiche Rechtsprechung zur Ursächlichkeit des Kfz-Betriebs wird, alphabetisch geordnet (z.B. auch zum Stichwort „Brand“), wiedergegeben in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz 3.103 ff.

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um formelle Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung.

Gläubigeridentität in der Zwangsvollstreckung
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 54/21

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit dem Erfordernis einer Titelumschreibung nach einer Ringabtretung.

Die Gläubigerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus einem im Jahr 2005 erlassenen Vollstreckungsbescheid über eine Hauptforderung in Höhe von 525 Euro. Nach ihrem Vorbringen ist die titulierte Forderung im Laufe der Jahre ohne Umschreibung des Titels insgesamt dreimal abgetreten worden: von ihr an eine erste Zessionarin, von dieser an eine zweite, inzwischen insolvente Zessionarin und von dieser wieder an die Gläubigerin.

Das AG hat den Antrag auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses abgelehnt, weil Zweifel daran bestünden, ob die dritte Abtretung wirksam sei. Die Beschwerde der Gläubigerin ist erfolglos geblieben.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sind die Voraussetzungen des § 750 Abs. 1 ZPO gegeben. Die darin normierten Anforderungen an die Angabe des Gläubigers sind im Streitfall schon deshalb erfüllt, weil der Vollstreckungsantrag durch diejenige (juristische) Person gestellt wird, die in dem Titel als Gläubigerin bezeichnet ist.

Dass die titulierte Forderung zwischendurch an Dritte abgetreten war, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der Verlust der Aktivlegitimation steht einer Vollstreckung durch den im Titel bezeichneten Gläubiger formell nicht entgegen. Darauf gestützte Einwendungen kann der Schuldner nur mit einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO geltend machen.

Praxistipp: Eine Vollstreckungsabwehrklage gegen den bisherigen Gläubiger ist unbegründet, wenn der neue Gläubiger diesem die materiellrechtliche Ermächtigung zur Einziehung der abgetretenen Forderung erteilt hat (BGH, Urt. v. 9.12.1992 – VIII ZR 218/91, MDR 1993, 473). Eine nur prozessuale Ermächtigung reicht hingegen nicht aus (BGH, Urt. v. 26.10.1984 – V ZR 218/83, MDR 1985, 309).

Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen?

Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Wann das Berufungsgericht ausnahmsweise unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen darf, weil das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Februar 2024 – VII ZR 42/22):

 

Die Klägerin hatte für die Beklagte 1.600 Haushalte mit Glasfaserkabeln erschlossen. Ihre Schlussrechnung von rund sechs Mio. € hat die Beklagte bis auf einen Betrag von 284.013,78 € ausgeglichen, den sie als Vertragsstrafe geltend macht. Diesen Betrag klagt die Klägerin ein. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Eine Vertragsstrafe sei nicht vereinbart, weil das ursprüngliche Angebot der Klägerin, das die AGB der Beklagten mit der Vertragsstrafenklausel einbeschloss, durch anschließende Verhandlungen der Parteien erloschen sei. Der dann geschlossene Vertrag enthalte keine Bezugnahme auf die AGB. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das  Landgericht sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten zu der Annahme gelangt, dass die Vertragsstrafe nicht vereinbart worden sei. Soweit es angenommen habe, das ursprüngliche Angebot der Klägerin sei erloschen, habe das Landgericht Vortrag der Beklagten übergangen, wonach die Klägerin bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist (= Bindefrist) an ihr Angebot gebunden gewesen sei. Das Landgericht habe zudem Vortrag der Beklagten zu den Vertragsverhandlungen nicht berücksichtigt.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen. Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung sein kann. Ob ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn dieser verfehlt ist oder das Berufungsgericht ihn für verfehlt erachtet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Verfahrensfehler des Landgerichts nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die Frage, ob dem Landgericht ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form eines Gehörsverstoßes unterlaufen ist, rechtsfehlerhaft nicht aufgrund des allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Standpunkts des Landgerichts beantwortet, sondern seinen eigenen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt zugrunde gelegt.

Zwar kann es einen schweren Verfahrensfehler iSd. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO darstellen, wenn das erstinstanzliche Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es den Kern ihres Vorbringens verkennt und daher eine entscheidungserhebliche Frage verfehlt. Das ist hingegen nicht der Fall, wenn es die sachlich-rechtliche Relevanz eines Parteivorbringens verkennt und ihm deshalb keine Bedeutung beimisst. Ein Verfahrensfehler liegt daher nicht vor, wenn das erstinstanzliche Gericht das Parteivorbringen lediglich unter einem sachlich-rechtlich fehlerhaften Gesichtspunkt gewürdigt oder deshalb nicht weiter erörtert hat, weil es hierauf nach seinem materiell-rechtlichen (möglicherweise unrichtigen) Standpunkt nicht ankommt. Bei einer Vertragsauslegung kann ein Verfahrensfehler nur angenommen werden, wenn das Gericht die Vertragsbestimmungen nicht lediglich inhaltlich unzutreffend würdigt, sondern erkennbar vertragliche Regelungen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder sprachlich falsch versteht. Das Landgericht hat bei der Vertragsauslegung keinen wesentlichen Vortrag der Beklagten übergangen oder den Kern ihres Vorbringens verkannt. Es hat festgestellt, dass die AGB der Beklagten Gegenstand der Ausschreibung waren und das Angebot der Klägerin vom 23. März 2016 auf diese Vertragsbestimmungen Bezug genommen hat. Ob und in welchem Umfang dieses Angebot Bestandteil des Vertrags geworden ist, ist nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, wobei allerdings die tatsächlichen Umstände der Vertragsverhandlungen der Parteien zu berücksichtigen sind. Soweit das Berufungsgericht einen Gehörsverstoß in der fehlenden Berücksichtigung der Annahmefrist (Bindefrist) sieht, war dieser Gesichtspunkt für die Entscheidung des Landgerichts nicht erheblich. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hat die Beklagte durch das Schreiben vom 1. Juni 2016 nur das Angebot vom 20. April 2016 angenommen und damit konkludent das Angebot vom 23. März 2016 abgelehnt. Deshalb kam es nach der Rechtsansicht des Landgerichts auf die in Ziffer 4 enthaltene Bindefrist wegen Erlöschen des Antrags gemäß § 146 BGB nicht an. Es bedurfte nach der Rechtsansicht des Landgerichts auch deshalb keiner Beweisaufnahme zu den Ursachen der verzögerten Erbringung der Werkleistungen, weil das Landgericht in seiner Hilfsbegründung die Vertragsklausel über die Vereinbarung der Vertragsstrafe gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erachtet hat. Soweit das Berufungsgericht hierzu eine andere Rechtsansicht vertritt, kann dies keinen Verfahrensfehler des Landgerichts begründen.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen unabhängig davon nicht erkennen, dass es das ihm in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, pflichtgemäß ausgeübt hat. Das Berufungsgericht hat weder in Erwägung gezogen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt, was den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann, noch hat es nachprüfbar dargelegt, dass die aus seiner Sicht durchzuführende Beweisaufnahme so aufwändig und umfangreich ist, dass eine Zurückverweisung an das Landgericht ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint. Das angefochtene Urteil hat daher keinen Bestand und ist aufzuheben.

 

Fazit: § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist eine Ausnahmeregelung, die den Grundsatz der Prozessbeschleunigung durchbricht, wenn die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers erfolgt und noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist. Das Berufungsgericht ist gehalten, nachprüfbar darzulegen, inwieweit eine noch ausstehende Beweisaufnahme so aufwendig oder umfangreich ist, dass es gerechtfertigt ist, die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen. Dabei hat es in Erwägung zu ziehen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer weiteren Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits und zu weiteren Nachteilen führt und dies den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann. Die Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme wird deshalb auf wenige Ausnahmefälle beschränkt sein, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht (BGH, Versäumnisurteil vom 16. Dezember 2004 – VII ZR 270/03 –, MDR 2005, 645).

Blog powered by Zöller: Ein geplanter § 102 ZPO und neue Fragen

Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Änderung des Zuständigkeitswerts der Amtsgerichte, zum Ausbau der Spezialisierung der Justiz in Zivilsachen sowie zur Änderung weiterer prozessualer Regelungen füllt unter anderem eine Leerstelle in der ZPO. § 102 ZPO soll einen Text bekommen.

Hintergrund ist eine seit langem bekannte Frage: die Abstimmung von Streitwert und Kostenentscheidung (siehe Zöller, ZPO, 35. Auflage, § 91 ZPO Rn. 13.20; § 319 ZPO Rn. 31): Wenn beide Parteien teils obsiegen/teils unterliegen, werden die Kosten des Rechtsstreits nämlich in aller Regel am Streitwert orientiert gequotelt (§ 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ZPO). Wird dann nachträglich der Streitwert geändert, wird die ursprüngliche Quotelung zwangsläufig falsch.

Das kann man mit gutem Grund als ungerecht und korrekturbedürftig ansehen. Der BGH hat aber entschieden, nach geltendem Recht sei das Ergebnis hinzunehmen, indem er eine planwidrige Regelungslücke verneint und deshalb eine Berichtigung analog § 319 ZPO ablehnt (BGH v. 30.7.2008 – II ZB 40/07, MDR 2008, 1292; BGH v. 17.11.2015 – II ZB 20/14, NJW 2016, 1021). Hier schafft § 102 ZPO-E Abhilfe. Wird die Wertfestsetzung geändert, kann das Gericht seine getroffene Kostenentscheidung von Amts wegen ändern (§ 102 Abs. 1 Satz 1 ZPO-E), also dem neuen Wert anpassen. Und ist die Rechtslage dann wieder in sich stimmig?

1. Diese neue Kostenentscheidung ist unanfechtbar (§ 102 Abs. 3 Satz 1 ZPO-E). Das wird im Entwurf (dort Seite 22) damit erklärt, dass die zu ändernde Kostenentscheidung im Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung des Gerichts ihrerseits nicht isoliert angefochten werden konnte; auf § 99 Abs. 1 ZPO wird dabei hingewiesen. Nun hat § 99 ZPO aber auch einen Absatz 2, der mit seinem Satz 1 den Beschwerdeweg eröffnet.

Beispiel: Der Kläger verlangt zwei Gegenstände heraus; Wert der Sache 1: 2.500 Euro, der Sache 2: 7.500 Euro. Er obsiegt voll; von den Kosten muss der Beklagte 25 % tragen (§ 91 ZPO, betr. Sache 1), der Kläger wegen eines sofortigen Anerkenntnisses des Beklagten 75 % (§ 93 ZPO, betr. Sache 2). Der Kläger kann (die übrigen Voraussetzungen unterstellt) Beschwerde einlegen. – Nun wird der Wert der Sache 2 auf 10.000 Euro erhöht. Die Kostenentscheidung wird angepasst. Der Kläger muss 80 % tragen und eine Beschwerde dagegen ist jetzt nicht mehr möglich. Warum?

2. Die Änderung der Kostenentscheidung hat keine Änderung der übrigen Teile des Urteils oder des Beschlusses zur Folge (§ 102 Abs. 2 Satz 4 ZPO-E). Im Entwurf (dort Seite 22) wird dies als klarstellend bezeichnet.

Auch hier ein Beispiel: Bei einem Streitwert X werden dem Kläger 75 % der Kosten auferlegt. Dem Beklagten sind Kosten in Höhe von 1.600 Euro entstanden, von denen er also 1.200 Euro in die vorläufige Vollstreckung geben kann ohne Sicherheit leisten zu müssen. Der Ausspruch im Urteil folgt aus § 708 Nr. 11 Alt. 2 ZPO, § 711 Satz 1 ZPO. – Nun wird der Streitwert auf X-Plus erhöht und die Kostenlast des Klägers anschließend auf 80 %. Jetzt sind dem Beklagte wegen des höheren Streitwerts Anwaltskosten in Höhe von 2.000 Euro entstanden; vollstrecken kann er davon 1.600 Euro. Für den Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit wäre jetzt § 709 ZPO zuständig, der Beklagte müsste vor der Vollstreckung Sicherheit leisten. Die jetzt nicht mehr einschlägigen §§ 708, 711 ZPO sollen aber weiter gelten. Warum?

Ergebnis: § 102 ZPO-E beantwortet eine Frage, stellt aber (mindestens) zwei neue.

Mehr – auch zum Kostenrecht – im neuen Zöller, 35. Auflage.

BVerwG: Entwurf einer Nichtzulassungsbeschwerde

Einen fast schon tragischen Fall musste das BVerwG (Beschl. v. 21.12.2023 – 2 B 2.23) entscheiden. Die Klägerin war Zeitsoldatin und wurde entlassen. Die Klage gegen die Entlassungsverfügung wurde zweitinstanzlich vom OVG abgewiesen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete und eingereichte Nichtzulassungsbeschwerde war auf allen Seiten im Hintergrund des Fließtextes („Wasserzeichen“) in großer Schrift deutlich erkennbar als „Entwurf“ gekennzeichnet. Damit stellte sich sofort die Frage, ob diese Beschwerde zulässig war.

Zunächst einmal war die Schriftform eingehalten. Die Nichtzulassungsbeschwerde war elektronisch übermittelt und sogar qualifiziert elektronisch signiert worden. Grundsätzlich ist anerkannt, dass ein derartiges Schriftstück erkennbar für den Rechtsverkehr bestimmt ist. Allerdings ist für die Entscheidung zu berücksichtigen, dass auf jeder Seite das Wort „Entwurf“ im Hintergrund zu sehen und zu lesen war. Das Wort „Entwurf“ dient aber regelmäßig dazu, ein Dokument als vorläufig und noch nicht für den Rechtsverkehr freigegeben zu bezeichnen. Dies steht im Gegensatz zur Schriftform und führt damit dazu, dass die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig ist, da eben keine Beschwerde, sondern lediglich ein Entwurf derselben eingereicht wurde.

Eine Rettung dieser Sache wäre daher nur noch über einen Wiedereinsetzungsantrag möglich gewesen. Insoweit gilt jedoch, dass ein Rechtsanwalt dazu verpflichtet ist, die anzufertigenden Schriftsätze rechtzeitig und formgemäß einzureichen. Diesen Anforderungen ist der Rechtsanwalt offensichtlich nicht gerecht geworden. Der Fall konnte damit nicht mehr gerettet werden. Es bleibt bei dem klageabweisenden Urteil des OVG.

Es kann nicht oft genug betont werden: Vor dem Absenden muss jeder fristgebundene Schriftsatz nochmals wenigstens kurz auf die Formalien hin geprüft werden. Sonst können böse Überraschungen drohen.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es erneut um Fallstricke des elektronischen Rechtsverkehrs.

Beweiskraft eines elektronischen Empfangsbekenntnisses
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit den Wirkungen eines elektronischen Empfangsbekenntnisses in der Form eines strukturierten Datensatzes im Sinne von § 173 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

Der Kläger macht Gewährleistungsrechte wegen mangelhaften Einbaus einer Fußbodenheizung geltend. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat zwei Anträge auf Wiedereinsetzung nach Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung zurückgewiesen und die Berufung des Klägers mangels rechtzeitiger Begründung als unzulässig verworfen.

Der BGH verwirft die Rechtsbeschwerde des Klägers wegen nicht rechtzeitiger Einlegung als unzulässig.

Ausweislich des vom zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers übermittelten Empfangsbekenntnisses ist die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts am 12.6.2023 zugestellt worden. Die am 13.7.2023 eingelegte Rechtsbeschwerde ist deshalb verspätet.

Dass der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis erst am 13.6.2023 an das OLG übermittelt hat, ist unerheblich. Maßgeblich für das Datum der Zustellung ist nicht der Tag, an dem das Empfangsbekenntnis versandt wird, sondern der im Empfangsbekenntnis angegebene Tag der Entgegennahme des zuzustellenden Dokuments. Dies gilt auch bei einem Empfangsbekenntnis in Form eines strukturierten Datensatzes im Sinne von § 173 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

Wie ein Empfangsbekenntnis, das auf Papier oder als elektronisches (PDF‑)Dokument im Sinne von § 130a ZPO abgegeben wird, erbringt auch ein Empfangsbekenntnis in der Form eines strukturierten Datensatzes vollen Beweis für die Zustellung des Dokuments am darin angegebenen Tag. Der Kläger hat diesen Beweis nicht entkräftet, sondern lediglich eine abweichende Rechtsauffassung vertreten.

Praxistipp: Um die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung offenzuhalten, sollten die schriftlichen Organisationsanweisungen einer Anwaltskanzlei vorsehen, dass Rechtsmittelfristen auch bei einem elektronischen Empfangsbekenntnis stets anhand des im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums berechnet werden und nicht anhand des Tags der Rücksendung.

Anwaltsblog 10/2024: Das vom Empfänger im elektronischen Empfangsbekenntnis angegebene Zustellungsdatum ist maßgeblich, auch wenn das Empfangsbekenntnis erst einen Tag später zurückschickt wird!

Das von Gerichten übersandte Empfangsbekenntnis in Form eines strukturierten Datensatzes erfordert die Eingabe des – ausdrücklich so bezeichneten – „Datum(s) der Bestätigung“ durch den Empfänger. Ob für die Fristberechnung trotzdem das Datum der Rücksendung des Empfangsbekenntnisses maßgeblich ist, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23):

 

Der Kläger macht nach dem Einbau einer Fußbodenheizung Mängelrechte geltend. Gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts legte er Berufung ein, jedoch nicht fristgerecht. Das OLG verwarf die Berufung und zwei Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig. Dieser Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers als elektronisches Dokument zugestellt worden. Nach dem – das Datum des 12. Juni 2023 ausweisenden – elektronischen Empfangsbekenntnis hat der Prozessbevollmächtigte den Beschluss „heute als elektronische(s) Dokument(e) erhalten“. Dieses Empfangsbekenntnis hat der Prozessbevollmächtigte am 13. Juni 2023 unter Verwendung des vom Gericht mit der Übermittlung des Beschlusses zur Verfügung gestellten strukturierten Datensatzes aus seinem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) heraus an das OLG zurückübermittelt.

Die am 13. Juli 2023 beim BGH eingegangene Rechtsbeschwerde des Klägers wird als unzulässig verworfen. Sie ist nicht gemäß § 575 Abs. 1 Satz 1 ZPO innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses eingelegt worden. Diese Frist begann am 13. Juni 2023, da der Beschluss des OLG dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 12. Juni 2023 zugestellt worden ist, und endete gemäß § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 Fall 2 BGB mit Ablauf des 12. Juli 2023. Beim BGH eingegangen ist die Rechtsbeschwerde erst nach Fristablauf am 13. Juli 2023.

Die Zustellung der angefochtenen Entscheidung des OLG am 12. Juni 2023 steht aufgrund des elektronischen Empfangsbekenntnisses des Prozessbevollmächtigten des Klägers fest. Für den Nachweis des Zeitpunkts der Zustellung eines elektronischen Dokuments durch elektronisches Empfangsbekenntnis kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Rückübermittlung des elektronischen Empfangsbekenntnisses an das Gericht, sondern auf das im Empfangsbekenntnis vom Empfänger eingetragene Zustellungsdatum an. Dieses ist hier der 12. Juni 2023. Die Zustellung eines elektronischen Dokuments an einen Rechtsanwalt wird gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch ein elektronisches Empfangsbekenntnis nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Für die Übermittlung ist der vom Gericht mit der Zustellung zur Verfügung gestellte strukturierte Datensatz zu verwenden (§ 173 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird. Auf der Grundlage des geschilderten Willensakts wird das elektronische Empfangsbekenntnis automatisiert aus der verwendeten Software heraus erzeugt und dem Gericht übermittelt; mit dieser Übersendung wird die empfangsbereite Entgegennahme der Nachricht dokumentiert.

Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt – wie das herkömmliche papiergebundene (analoge) Empfangsbekenntnis – gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. Dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers seinen Empfangswillen hinsichtlich des Beschlusses des OLG durch die Rückübermittlung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes an das Berufungsgericht (erst) am 13. Juni 2023 nach außen dokumentiert hat, vermag nichts daran zu ändern, dass für den Zustellungszeitpunkt der im Empfangsbekenntnis selbst erklärte Zeitpunkt des Erhalts des Beschlusses, hier also der 12. Juni 2023, maßgeblich ist.

Der Kläger hat das im elektronischen Empfangsbekenntnis angegebene Zustellungsdatum auch nicht entkräftet. Eine Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdefrist scheidet aus. Ein anwaltlicher Rechtsirrtum über den maßgeblichen Fristbeginn ist verschuldet und dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.

 

Fazit: Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass der die Zustellung empfangende Rechtsanwalt die Nachricht öffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingibt und das so generierte Empfangsbekenntnis zurücksendet. Maßgeblich für die Zustellung des elektronischen Dokuments ist das im Empfangsbekenntnis in der Rubrik „Datum der Bestätigung“ eingefügte Datum und nicht das Datum der Rücksendung des Empfangsbekenntnisses.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Verhältnis zwischen der Verschwiegenheitspflicht eines Notars und dem Akteieinsichtsrecht von Beteiligten.

Einsicht in die Nebenakte eines Notars
BGH, Beschluss vom 11. Januar 2024 – V ZB 63/22

Der V. Zivilsenat beantwortet eine bislang offen gelassene Frage.

Die Beteiligten sind Geschwister und Erben ihrer im Jahr 2016 verstorbenen Mutter. Rund zwei Monate vor ihrem Tod hatte die Erblasserin der Beteiligten zu 2 in einem notariellen Vertrag eine Eigentumswohnung geschenkt. Der Beteiligte zu 1 macht in einem Rechtsstreit vor dem Landgericht geltend, der Vertrag sei wegen Geschäftsunfähigkeit der Erblasserin unwirksam. Das Landgericht hat beschlossen, das Gutachten eines medizinischen Sachverständigen einzuholen. Die beiden Beteiligten und die Präsidentin des Landgerichts (als zuständige Aufsichtsbehörde anstelle der verstorbenen Mutter, § 18 Abs. 2 BNotO) haben den beurkundenden Notar von seiner Verschwiegenheitspflicht befreit.

Der Notar hat einen Antrag des Beteiligten zu 1 auf Einsicht in die Nebenakte dennoch abgelehnt. Ergänzend hat er erklärt, in der Nebenakte finde sich zur Frage der Geschäftsfähigkeit der Erblasserin lediglich der handschriftliche Vermerk „voll geschäftsfähig“. Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 gegen die Versagung der Akteneinsicht ist erfolglos geblieben.

Die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 1 hat ebenfalls keinen Erfolg.

Nach § 51 Abs. 3 BeurkG können die an einer Beurkundung beteiligten Personen vom Notar die Einsicht in die Urschrift verlangen. Ein Einsichtsrecht in die nicht zur Urkundensammlung gehörenden Unterlagen, die gemäß § 40 NotAktVV in der Nebenakte abzulegen und aufzubewahren sind, besteht hingegen nicht.

Der Inhalt der Nebenakte unterliegt der in § 18 Abs. 1 BNotO Pflicht des Notars zur Amtsverschwiegenheit. Ist der Notar von dieser Pflicht befreit worden, so ist er berechtigt, aber nicht verpflichtet, Einsicht in die Nebenakte oder einzelne Bestandteile davon zu gewähren. Die Entscheidung darüber obliegt seinem pflichtgemäßen Ermessen.

Im Streitfall ist die Entscheidung des Notars, die Einsicht zu verweigern, weil die Nebenakten außer dem Vermerk „voll geschäftsfähig“ keine Unterlagen zur Geschäftsfähigkeit der Erblasserin enthalten, nicht zu beanstanden. Der Beteiligte zu 1 hat keinen Anspruch darauf, die Nebenakten nach Unterlagen zu durchsuchen, die möglicherweise doch relevant sind.

Praxistipp: Wenn der Notar von der Verschwiegenheitspflicht befreit wurde, ist er gemäß § 385 Abs. 2 ZPO nicht mehr zur Zeugnisverweigerung berechtigt.