Blog-Update Haftungsrecht: Wirkung und Reichweite des Vertrauensgrundsatzes

Im Verkehrsrecht wird häufig mit dem Vertrauensgrundsatz argumentiert. Was er besagt, ist klar: Wer sich im Straßenverkehr ordnungsgemäß verhält, darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer dies ebenfalls tun. Auf ein verkehrswidriges Verhalten braucht er sich erst dann einzustellen, wenn er Anhaltspunkte für ein solches erkennen kann.

Die Richtigkeit dieses in ständiger Rechtsprechung verfestigten Grundsatzes ist unbezweifelbar. Der Straßenverkehr käme zum Erliegen, wenn man sich jederzeit auf jedes denkbare Fehlverhalten Anderer einstellen müsste. Nicht so klar ist die dogmatische Einordnung dieses Rechtssatzes, und trefflich streiten lässt sich natürlich über seine Anwendung im Einzelfall. Die Kasuistik dazu ist unüberschaubar und soeben durch eine neue Entscheidung des BGH (Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21 ) bereichert worden.

Zunächst zur rechtlichen Einordnung (die vor allem wegen der Beweislast relevant ist):

Der Grundsatz bestimmt die Sorgfaltsanforderungen an einen Verkehrsteilnehmer und damit bei der deliktischen Haftung den Maßstab der Fahrlässigkeit i.S.v. § 823 Abs. 1, § 276 Abs. 2 BGB. Für die Beweisführung bedeutet dies, dass der für das Verschulden des Schädigers beweispflichtige Geschädigte beweisen muss, jener hätte mit seinem verkehrswidrigen Verhalten rechnen müssen. Bei Kfz-Unfällen muss der Fahrzeugführer beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft (§ 18 StVG), d.h. dass er nicht mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten zu rechnen brauchte. Bei der verschuldensunabhängigen Haftung des Kfz-Halters kommt der Vertrauensgrundsatz aber ebenfalls ins Spiel: Dem Halter eines anderen Kfz gegenüber kann der Halter des unfallverursachenden Fahrzeugs ihn zum Beweis dafür heranziehen, dass der Fahrzeugführer dem gesteigerten Sorgfaltserfordernis des Unabwendbarkeitsbeweises nach § 17 Abs. 3 StVG genügt hat. Und im Verhältnis zu einem nichtmotorisierten Geschädigten schließlich kann der Vertrauensgrundsatz nur als Element der Mitverschuldensabwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB zum Tragen kommen.

In dem vom BGH jüngst entschiedenen Fall war ein Fußgänger beim Überqueren einer innerstädtischen Straße mit zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen auf dem für ihn jenseits der Mittellinie liegenden Fahrstreifen von einem Pkw angefahren worden. Er verklagte dessen Fahrer und den Haftpflichtversicherer auf hälftigen Schadensersatz, aber diese lehnten unter Berufung auf den Vertrauensgrundsatz jede Haftung ab: Der Pkw-Fahrer habe nicht damit zu rechnen brauchen, dass der Geschädigte über die Fahrbahn läuft, ohne auf den herannahenden Verkehr zu achten, und als er dessen verkehrswidriges Verhalten erkennen konnte, sei es für eine Verhinderung der Kollision zu spät gewesen.

LG und KG gaben den Beklagten Recht. Der Pkw-Fahrer habe darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger an der Mittellinie stehen bleibt. Den Fahrer treffe daher kein Verschulden; deshalb trete auch die Haftung aus Betriebsgefahr hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück.

Nach Ansicht des BGH haben die Vorinstanzen damit jedoch den falschen Bezugspunkt für den Vertrauensgrundsatz gewählt: Es komme nicht auf das Verhalten des Fußgängers an der Mittellinie, sondern auf die Gesamtsituation an. Da der Fußgänger nach den tatrichterlichen Feststellungen die Fahrbahn rennend überquert hat, hätte der Pkw-Fahrer nicht mit einem Stehenbleiben an der Mittellinie rechnen dürfen. Es müsse also festgestellt werden, ob und ggf. ab wann der Fahrer das gefährdende Verhalten des  Fußgänger hätte erkennen und ob er dann noch unfallvermeidend hätte reagieren können.

Nun könnte man zwar darüber diskutieren, ob den im innerstädtischen Verkehr über die Fahrbahn rennenden Fußgänger nicht ein so hohes Eigenverschulden trifft, dass es gerechter Abwägung entspricht, ihm die alleinige Haftung zuzuweisen. Der Fall lehrt aber, dass der Vertrauensgrundsatz nicht von einer möglichst umfassenden Feststellung des Unfallhergangs entbindet und, falls diese nicht möglich ist, die oben angeführten Beweisregeln anzuwenden sind.

Umfassende Rechtsprechungsnachweise zum Vertrauensgrundsatz: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 14.229 ff zu Fußgängerunfällen, Rz. 14.171 ff zu Vorfahrtunfällen.

 

Mehr zum Autor: Prof. Dr. Reinhard Greger ist Mitverfasser des Werks Haftung im Straßenverkehr

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Bemessung des Hinterbliebenengeldes.

Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach einem Verkehrsunfall
BGH, Urteil vom 23. Mai 2023 – VI ZR 161/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit grundlegenden Fragen zur Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach § 10 Abs. 3 StVG.

Bei einem Verkehrsunfall im September 2020 wurde der Vater der im Juni 2001 geborenen Klägerin getötet. Die volle Haftung der Beklagten zu 1, die mit ihrem Auto in einer Kurve auf die Gegenfahrbahn geraten war und den auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vater der Klägerin frontal erfasst hatte, steht dem Grunde nach außer Streit. Die Beklagte zu 2, bei der das Auto haftpflichtversichert war, hat der Klägerin außergerichtlich ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500 Euro gezahlt. Die auf Zahlung weiterer 22.500 Euro gerichtete Klage ist in den beiden ersten Instanzen nur in Höhe von 4.500 Euro erfolgreich gewesen.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Die Bemessung der nach § 18 Abs. 1 Satz 1 und § 10 Abs. 3 StVG geschuldeten Hinterbliebenenentschädigung unterliegt gemäß § 287 ZPO dem Ermessen des Tatrichters. Nicht alle vom OLG angestellten Erwägungen sind jedoch frei von Rechtsfehlern.

Bei der Bemessung ist die konkrete seelische Beeinträchtigung des Betroffenen zu bewerten. Hierbei sind alle Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Dennoch ist es nicht zu beanstanden, den in den Gesetzesmaterialien (BT-Dr. 18/11397 S. 11) genannten Betrag von 10.000 Euro als Orientierungshilfe heranzuziehen.

Wie der BGH schon zuvor entschieden hat (Urteil vom 6. Dezember 2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 Rn. 14 f. [insoweit nicht in MDR 2023, 295]), dient das Hinterbliebenengeld dem Ausgleich für immaterielle Nachteile. Maßgeblich sind insbesondere die Intensität und die Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Relevante Indizien bilden in der Regel die Art des Näheverhältnisses, die Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und die Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung.

Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht danach die wirtschaftliche Abhängigkeit der Beklagten von ihrem Vater aufgrund eines kurz nach dem Unfall aufgenommenen Studiums nicht als erhöhenden Faktor herangezogen. Der Verlust von Unterhaltsansprüchen stellt einen materiellen Schaden dar, der nach Maßgabe von § 10 Abs. 2 StVG zu ersetzen ist.

Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das OLG sich nicht mit dem Grad des Verschuldens befasst hat. Dem insoweit maßgeblichen Parteivortrag lässt sich nicht entnehmen, dass das Maß des Verschuldens im Streitfall prägende Wirkung hat. Dass die Beklagte ihre strafrechtliche Verantwortung abgestritten hat, rechtfertigt eine Erhöhung des Hinterbliebenengeldes für sich gesehen nicht.

Zu Unrecht hat das OLG jedoch den Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen des Unfalltods auf deren autistischen Bruder als unerheblich angesehen.

Nach dem Vorbringen der Klägerin war der verstorbene Vater die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für den Bruder. Der Tod des Vaters habe zur Folge, dass die Klägerin nunmehr in erheblichem Umfang in die Betreuung ihres Bruders eingespannt sei, der aufgrund des Todesfalls massive Verhaltensauffälligkeiten zeige. Auch durch diesen Umstand werde die Klägerin täglich mit dem plötzlichen Unfalltod des Vaters und der damit verbundenen Veränderung ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich.

Damit sind entgegen der Auffassung des OLG Umstände vorgetragen, die nicht nur die Intensität und Dauer des seelischen Leids des Bruders betreffen, sondern auch desjenigen der Klägerin. Das OLG wird deshalb zu prüfen haben, ob und ggf. in welcher Höhe diese Umstände die Zubilligung eines höheren Hinterbliebenengeldes gebieten.

Praxistipp: Die Vorschriften über das Hinterbliebenengeld (u.a. § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG und § 5 Abs. 3 HaftPflG) sind gemäß Art. 229 § 43 EGBGB anwendbar, wenn die zum Tode führende Verletzung nach dem 22. Juli 2017 eingetreten ist.

Blog powered by Zöller: Einheitliche Zuständigkeit beim VDUG/UKlaG – Gerichtskonzentrationen mit Nebenwirkungen

Beim neuen VDUG und beim UKlaG wird die Konzentration der Zuständigkeit beim OLG allgemein als gelungen angesehen, ist dadurch doch die Zuständigkeit bei Abhilfe- und Unterlassungsklagen der klagebefugten Verbände einheitlich geregelt. Nun kommt es auf die Länder an, ob sie für einen Gleichlauf sorgen.

1. Das vom Bundestag am 7.7.2023 beschlossene Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG) setzt die Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG um. Dazu wird als Art. 1 das Gesetz zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherrechten (VDuG) erlassen, das eine Abhilfeklage der klagebefugten Verbände zugunsten der betroffenen Verbraucher einführt. Das Gesetz muss noch den zweiten Durchgang im Bundesrat nehmen, um dann in Kraft zu treten (wohl Anfang Oktober).

Mit der Abhilfeklage können die klagebefugten Verbände Ansprüche auf Schadensersatz oder auf sonstige Schadloshaltung für Verbraucher (und für „kleine“ Unternehmer) geltend machen. Gleichzeitig wird das UKlaG, mit dem verbraucherrechtswidrige Praktiken untersagt werden können, überarbeitet (Art. 9). Beide Gesetze sehen (künftig) eine erstinstanzliche Zuständigkeit des OLG vor. Für das VDuG ergibt sich dies aus § 3 Abs. 1, beim UKlaG wird § 6 Abs. 1 neu gefasst.

Im VDuG und im UKlaG werden damit die örtliche und die sachliche Zuständigkeit für die Unterlassungs- und Abhilfeklagen der Verbraucherschutzverbände (anders als bei der noch geltenden ZPO-Musterfeststellungsklage, MFK) einheitlich bestimmt. Damit ist (künftig) auch eine objektive Klagehäufung beider Klagen in einem Prozess und vor einem Gericht (§ 260 ZPO) möglich. Dies erscheint mitunter als sinnvoll, wenn es zB um unwirksame AGB geht. Die Unterlassungsklage (samt vorgeschalteter einstweiliger Verfügung) stellt den Rechtsverstoß für die Zukunft ab, mit der Abhilfeklage werden die Rechtsfolgen aus dem rechtswidrigen Vollzug in der Vergangenheit „kollektiv“ ausgeglichen. Die Unwirksamkeit der betroffenen AGB nach §§ 307 ff. BGB wäre die gemeinsame Vorfrage in beiden Verfahren. Auch die zugrundeliegende Richtlinie behandelt beide Aspekte wie zwei Seiten einer Medaille. Die Unterlassungsklage nach dem UKlaG hemmt zudem künftig auch die Verjährung der Ansprüche der von der Rechtsverletzung betroffenen Verbraucher (§ 204a BGB n.F.). Die Klagebefugnis der Unterlassungs- und Abhilfeklage ist (im Vergleich zu § 606 ZPO bei der MFK) weitgehend angenähert (§ 2 Abs. 1 und 2 VDuG einerseits, § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG n.F. anderseits).

2. Der neu hergestellte Gleichlauf beider Verbandsklagen wird nicht länger gewährleistet, wenn die Länder von den Zuständigkeitskonzentrationsermächtigungen unterschiedlich Gebrauch machen:

Nach dem VDuG kann eine Konzentration der Abhilfeklage bei einem OLG oder beim BayObLG nach § 3 Abs. 3 VDuG erfolgen. Beim UKlaG (§ 6 Abs. 1 n.F.) wird eine Konzentration zwar nicht ausdrücklich geregelt; dort kann aber auf § 13a GVG zurückgegriffen und im Ergebnis Gleiches angeordnet werden (BT-Drucks. 20/6878, S. 11 – Gegenäußerung Bundesregierung).

3. Es können beim Vollzug damit diese Entwicklungen eintreten:

a) In Ländern mit nur einem OLG ist der Gleichlauf beider Klagen gewährleistet, ebenso in Ländern mit mehr als einem OLG, die aber von der Konzentration keinen Gebrauch machen, da die örtliche Zuständigkeit bei beiden Klagen (§§ 12, 13, 17 ZPO i.V.m. § 3 Abs. 1 VDuG bzw. § 6 Abs. 1 UKlaG) – jedenfalls praktisch – identisch ist.

b) Werden nur die Abhilfeklagen bei einem von mehreren OLG konzentriert, ist eine Klagehäufung mit einer „gleichgerichteten“ Unterlassungsklage nur noch dann möglich, wenn dieses OLG zufällig auch nach § 6 Abs. 1 UKlaG für den (Abhilfe-)Beklagten örtlich zuständig ist; bei mehreren Beklagten könnte an § 36 ZPO gedacht werden. Der Verordnungsgeber kann aber dieses OLG nach § 13a GVG ebenfalls für die Unterlassungsklage als (zentral) zuständig bestimmen; der Gleichlauf wäre dann wieder hergestellt.

c) Der Verordnungsgeber kann den Gleichlauf beider Klagen aber auch (bewusst) verhindern, indem er für die Abhilfeklage das OLG 1, für die Unterlassungsklage das OLG 2 als zuständig bestimmt (oder in Bayern das BayObLG für das VDuG – wie bei der MFK – auswählt und die Verfahren des UKlaG dagegen einem der drei OLG zuweist oder auf jede Konzentration verzichtet).

4. Bei gleichzeitiger Abhilfe- und Unterlassungsklage und fehlender gemeinsamer Zuständigkeit kommt es dann auf den Streitgegenstand und die Rechtskraft an: Der Streitgegenstand der Klage gemäß § 1 UKlaG ist die Wirksamkeit der Klausel. Wegen der Parteiidentität von Unterlassungs- und Abhilfeklage greift die Rechtskraftbindung (unabhängig von § 11 UKlaG) nach § 322 Abs. 1 ZPO. Eine Koordination von Unterlassungs- und Abhilfeklage könnte dann nach § 148 Abs. 1 ZPO erfolgen, indem die Abhilfeklage bis zur rechtkräftigen Entscheidung im Unterlassungsklageverfahren als rechtskraftfähiger Vorfrage ausgesetzt wird.

5. Werden Konzentrationsermächtigungen des VDuG und GVG von den Ländern unterschiedlich ausgefüllt, wird der kollektive Rechtsschutz in Deutschland durch diese Organisationsentscheidungen mittelbar höchst unterschiedlich ausgestaltet.

Dies wirft die Frage auf, ob eine der sachdienlichen Förderung oder der schnelleren Erledigung (vgl. § 13a GVG) dienende Ermächtigungsgrundlage solche „Nebenwirkungen“ auf Parteirechte haben darf. Andererseits: Muss eine „Vollkonzentration“ aller Abhilfe- und Unterlassungsklagen bei einem Gericht nur deshalb erfolgen, um keinesfalls diese Parteidisposition auszuschließen? Kann diese Gestaltungsmöglichkeit umgekehrt dazu führen, am Ende auf jede Konzentration zu verzichten? Dies ist nicht leicht aufzulösen. Ein sinnvolles Ergebnis wäre es, wenn das Gericht der Abhilfeklage (jedenfalls) auch für eine „gleichgerichtete“ Unterlassungsklage zuständig wäre – die Sommerpause bis zum Inkrafttreten der Änderungen bietet Gelegenheit, hierüber nachzudenken.

Mehr dazu im neuen Zöller, 35. Auflage.

BGH: Unwirksame Zustellung durch Niederlegung

Durch die sich in den letzten Jahren immer mehr in allen Lebensbereichen ausbreitende „enge Taktung“ und beständige Hektik gibt es in der Gesellschaft eine zunehmende Tendenz zur nachlässigen bzw. oberflächlichen Arbeit, die wiederum fast alle Lebensbereiche umfasst. Davon sind insbesondere Massengeschäfte betroffen. Ein solches Massengeschäft sind für die Deutsche Post AG die Zustellungen.

Sehr häufig wird bei Zustellungen der Empfänger nicht angetroffen. Dies ist nicht weiter tragisch, denn dann wird durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt (§ 180 ZPO). Der Zusteller muss allerdings in einem solchen Fall gemäß § 180 S. 3 ZPO auf den Umschlag, der das zuzustellenden Schriftstück enthält, den Tag der Zustellung angeben. Dies ist wichtig, denn nicht jeder leert seinen Briefkasten jeden Tag. In letzter Zeit musste in der Praxis leider beobachtet werden, dass die Zusteller diesen Vermerk schlichtweg nicht anbringen. Abhängig von der Anzahl der Zustellungen kann man durch eine derartige Verfahrensweise täglich sicherlich einige Minuten – vielleicht noch mehr – einsparen.

Mit genau so einem Fall hatte sich der BGH (Versäumnisurt. v. 15.3.2023 – VIII ZR 99/22, MDR 2023, 797) zu befassen. Der Zustellungsempfänger hatte ein Versäumnisurteil ohne den erforderlichen Vermerk am 8.10. in seinem Briefkasten gefunden und ging demgemäß davon aus, dass die Zustellung auch am 8.10. erfolgt war. Sie war allerdings bereits – wie es sich aus der Zustellungsurkunde bei der Gerichtsakte ergab – am 7.10. erfolgt. Der Einspruch kam deswegen einen Tag zu spät und wurde in den Tatsacheninstanzen verworfen.

Diese Entscheidung fand, wiewohl die maßgebliche Frage in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist, nicht die Zustimmung des BGH. Der BGH geht vielmehr davon aus, dass das Anbringen des Vermerkes mit dem Datum der Zustellung auf dem Umschlag für das zuzustellende Schriftstück eine zwingende Zustellungsvorschrift nach § 189 ZPO ist. Die Folge dieser Sichtweise ist klar: Das Schriftstück gilt erst als zugestellt, wenn es dem Empfänger tatsächlich zugegangen ist (§ 189 ZPO).

Der BGH folgt mit dieser Sichtweise einer Entscheidung des BFH und macht damit die Anrufung des gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte entbehrlich.

Man sollte sich daher merken: Bei der Verpflichtung des Zustellers gemäß § 180 Satz 3 ZPO, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, handelt es sich um eine zwingende Zustellungsvorschrift im Sinne des § 189 ZPO mit der Folge, dass das Schriftstück bei einer Verletzung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt.

Hinweis: Die Frage ist damit für die gerichtliche Praxis verbindlich geklärt. Wer als Zustellungsempfänger oder Rechtsanwalt eines solchen in eine derartige Situation gerät, tut gut daran, sofort ein Foto des Umschlages anzufertigen und den Umschlag selbst aufzuheben. Damit kann man das Versäumnis auch nachweisen, wenn das Original des Umschlages verloren geht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um grundlegende prozessuale Kategorien.

Identifizierbarkeit des Streitgegenstands und Schlüssigkeit des Klagevorbringens
BGH, Urteil vom 28. April 2023 – V ZR 270/21

Der V. Zivilsenat befasst sich mit der Zulässigkeit eines bereits erstinstanzlich gestellten, aber erstmals in der Berufungsinstanz schlüssig vorgetragenen Hilfsantrags.

Die Kläger erwarben von dem Beklagten ein bebautes Grundstück zum beurkundeten Preis von 150.000 Euro. Vor der Übergabe zahlten sie dem Beklagten weitere 85.000 Euro in bar. Mit ihrer Klage verlangen sie die Rückzahlung dieses Betrags. Sie machen sie in erster Linie geltend, der Beklagte habe sich verpflichtet, für den genannten Betrag das sanierungsbedürftige Vordergebäude auf dem erworbenen Grundstück zu renovieren; der Beklagte sei zur Rückzahlung verpflichtet, weil er die geschuldete Leistung nicht erbracht habe und die Kläger deshalb wirksam von dem geschlossenen Werkvertrag zurückgetreten seien. Hilfsweise tragen die Kläger vor, der Beklagte habe arglistig verschwiegen, dass das von ihm bislang zu Wohnzwecken genutzte Rückgebäude baurechtlich nur als Garage und Abstellraum benutzt werden dürfe; aufgrund dieses Mangels sei der Wert des Grundstücks um 85.000 Euro geringer.

Das LG verurteilte den Beklagten aufgrund des Hauptantrags. Das OLG wies den Hauptantrag als unbegründet ab. Das auf den Hilfsantrag der Kläger gestützte Begehren sah es als unzulässig und hilfsweise auch als unbegründet an.

Die allein auf den Hilfsantrag gestützte Revision der Kläger führt zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Entgegen der Auffassung des OLG durften die Kläger den Hilfsantrag in zweiter Instanz weiterverfolgen, ohne Anschlussberufung einzulegen. Dies gilt auch dann, wenn der Vortrag zu diesem Antrag – wie das OLG gemeint hat – unschlüssig war.

Einer Anschlussberufung des in erster Instanz obsiegenden Klägers bedarf es nur dann, wenn dieser hilfsweise einen neuen Streitgegenstand geltend macht. Einen bereits in erster Instanz gestellten Hilfsantrag darf der Kläger hingegen auch dann weiterverfolgen, wenn nur der Beklagte ein Rechtsmittel eingelegt hat. Maßgeblich ist insoweit, ob der mit dem Hilfsantrag geltend gemachte Gegenstand bereits in erster Instanz identifizierbar war, also in einer den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO genügenden Weise spezifiziert worden ist. Ob die Voraussetzungen des Anspruchs schlüssig vorgetragen worden sind, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.

Im Streitfall war der Hilfsantrag bereits in erster Instanz hinreichend identifizierbar. Deshalb darf er in zweiter Instanz nicht als unzulässig abgewiesen werden. Schon deshalb ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das OLG zurückzuverweisen.

Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das Vorbringen zum Hilfsantrag bereits in erster Instanz schlüssig war und das ergänzende Vorbringen hierzu deshalb auch nicht der Präklusion nach § 531 ZPO unterliegt.

Der Beklagte hat arglistig gehandelt, wenn er, wie von den Klägern bereits erstinstanzlich behauptet, wider besseres Wissen verschwiegen hat, dass das Rückgebäude nicht zu Wohnzwecken genutzt werden darf.

Zur substantiierten Darlegung der Schadenshöhe genügte entgegen der Auffassung des OLG der Vortrag, das Grundstück sei wegen der fehlenden Nutzbarkeit des Rückgebäudes zu Wohnzwecken um 85.000 Euro im Wert gemindert. Unbeachtlich wäre eine solche Behauptung nur dann, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte ins Blaue hinein aufgestellt wäre. Dafür gibt es im Streitfall keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit das Berufungsgericht eine Wertminderung in dieser Höhe als fernliegend angesehen hat, liegt darin eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung.

Praxistipp: Nach Zustellung der Berufungsbegründung sollte stets geprüft werden, ob eventuelles Gegenvorbringen einer Anschlussberufung bedarf und deshalb zwingend innerhalb der Erwiderungsfrist erfolgen muss.

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Diese Woche geht es um Fragen des allgemeinen Schuldrechts.

Ersatz von Kosten zur Abwendung eines Verzögerungsschadens
BGH, Urteil vom 20. April 2023 – I ZR 140/22

Der I. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen und dem Inhalt eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen Schuldnerverzugs.

Eine Versicherungsnehmerin des klagenden Transportversicherers hatte die Beklagte mit dem Transport von Fahrzeugteilen von Bremen zu einer Automobilfabrik in Mexiko betraut. Ende Juni 2017 teilte die Beklagte der Versicherungsnehmerin mit, der für die Kalenderwoche 25 vorgesehene Transport von zwei Containern werde sich verzögern. Zuletzt gab sie als voraussichtlichen Ankunftstag den 25. Juli 2017 an. Die Versicherungsnehmerin verlangte am 6. Juli 2017, frühere Verschiffungsoptionen zu prüfen oder die am dringendsten benötigten Teile per Luftfracht zu versenden. Die Beklagte teilte am 10. Juli 2017 mit, eine frühere Verschiffung sei nicht möglich. Eine Versendung per Luftfracht lehnte sie ab. Die Versicherungsnehmerin ließ ab dem 20. Juli 2017 einige Teile von Dritten per Luftfracht befördern. Hierfür bezahlte sie rund 12.900 US-Dollar. Die Klägerin erstattete ihr diesen Betrag abzüglich ersparter Kosten für die Seebeförderung in Höhe von rund 300 Dollar und abzüglich eines Selbstbehalts von 5.000 Dollar.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten teils aus übergegangenem Recht (§ 86 Abs. 1 VVG) und teils aufgrund einer Ermächtigung der Versicherungsnehmerin den Ersatz der Mehrkosten in Höhe von 12.600 US-Dollar. Die Klage war in den beiden ersten Instanzen mit Ausnahme eines Teils des Zinsanspruchs erfolgreich.

Der BGH weist die Revision der Beklagten zurück, stützt den Ersatzanspruch abweichend vom OLG aber nicht auf den Aspekt der Nichterfüllung, sondern auf Verzug.

Die Leistungsaufforderung der Versicherungsnehmerin vom 6. Juli 2017 konnte keinen Verzug begründen, weil die beiden Container aufgrund der getroffenen Vereinbarungen frühestens am 13. Juli 2017 in Mexiko abzuliefern waren. Eine (erneute) Mahnung nach Fälligkeitseintritt war im Streitfall aber jedenfalls nach § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB entbehrlich, weil die Beklagte schon zuvor unmissverständlich zu erkennen gegeben hatte, dass die Ablieferung der Container nicht rechtzeitig erfolgen wird.

Die Aufwendungen für den Lufttransport sind als erforderliche Kosten der Schadensabwendung im Sinne von § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB ersatzfähig, weil durch eine verzögerte Anlieferung der betreffenden Teile ein noch höherer Verzögerungsschaden entstanden wäre.

Nach der Rechtsprechung des BGH können die Kosten eines Deckungskaufs grundsätzlich nur auf der Grundlage von § 280 und § 281 BGB ersetzt werden. Im Streitfall diente die anderweitige Beförderung der Teile aber der Abwendung eines im Falle der Verzögerung drohenden höheren Schadens. Solche Kosten sind nach derselben Anspruchsgrundlage zu ersetzen, nach der die vermiedenen Schäden auszugleichen gewesen wären – hier also nach § 286 BGB.

Praxistipp: Ein Anspruch auf Ersatz von Kosten für einen Deckungskauf darf nicht zusätzlich zum Anspruch auf Erfüllung geltend gemacht werden, sondern nur anstelle desselben (BGH, Urteil vom 3. Juli 2013 – VIII ZR 169/12, MDR 2013, 1021 Rn. 29).

KG: Befangenheit wegen Nichtbescheidung eines Antrages auf Schriftsatznachlass?

Im Rahmen einer Entscheidung über einen Befangenheitsantrag hat das KG (Beschl. v. 17.4.2023 – 10 W 52/23) an einen wichtigen Verfahrensgrundsatz im Rahmen von Anträgen auf Gewährung eines Schriftsatznachlasses erinnert.

Vor dem LG hatte die Beklagte einen Schriftsatznachlass beantragt. Der Einzelrichter hatte diesen Antrag nicht beschieden, sondern einen Verkündungstermin anberaumt. Nach Erhalt des Terminprotokolls stellte die Beklagte einen Befangenheitsantrag, weil der Richter den Antrag begründungslos abgelehnt habe. Im Laufe des Befangenheitsverfahrens erklärte der Richter auf Anfrage des KG noch, er habe den Verkündungstermin zur Bescheidung des Antrages auf Gewährung eines Schriftsatznachlasses bestimmt, habe aber bisher wegen des zwischendurch gestellten Befangenheitsantrags diesen Antrag nicht bescheiden können.

Das KG weist zunächst darauf hin, dass sich bereits aus dem Wortlaut des § 283 S. 1 ZPO ergibt, dass der Antrag auf Schriftsatznachlass bereits im Termin und nicht erst im Verkündungstermin beschieden werden muss. Dies dürfte auch der h. M. entsprechen. Allerdings ist die Sichtweise der Literatur nicht ganz einheitlich, Entscheidungen zu dieser Frage sind – soweit ersichtlich – noch nicht ergangen.

Das KG weist den Befangenheitsantrag deswegen zurück, weil nicht jede Verletzung von Verfahrensrechten gleich eine Befangenheit begründet. Da der Richter den Antrag noch grundsätzlich bescheiden wollte, bestand keine Absicht, die Rechte der Beklagten unfair zu verkürzen. Der abgelehnte Richter unterlag hier schlichtweg einem Rechtsirrtum, der in der konkreten Prozesssituation noch vertretbar war.

In dem Umstand, dass sich der Richter in der dienstlichen Äußerung zunächst nur auf die Akte bezogen hat, liegt auch kein Befangenheitsgrund. Zwar kann eine dienstliche Äußerung auch erstmals einen durchgreifenden Befangenheitsgrund schaffen, wenn daraus auf eine unsachliche Einstellung geschlossen werden kann. Dies ist jedoch hier nicht der Fall, da sich der Verlauf der Sache tatsächlich direkt aus der Akte ergab.

Fazit: Der Rechtsanwalt sollte daher darauf hinweisen und darauf achten, dass ein Antrag auf Schriftsatznachlass im Termin beschieden wird, zur Not nach einer kurzen Beratungs- bzw. – beim Einzelrichter – Überlegungspause.

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Diese Woche geht es um das Verhältnis zweier Vorkaufsrechte an einer vermieteten Wohnung.

Vorrang des dinglichen Vorkaufsrechts eines Familienangehörigen
BGH, Beschluss vom 27. April 2023 – V ZB 68/22

Der V. Zivilsenat befasst sich mit dem Verhältnis zwischen § 577 Abs. 1 und § 1094 BGB – und gibt zugleich einen Auffrischungskurs im Grundbuchrecht.

Zugunsten der Beschwerdeführerin (nachfolgend: Berechtigte) wurde im Jahr 2016 ein dingliches Vorkaufsrecht an einer Eigentumswohnung eingetragen. Eigentümer der Wohnung war ihr damaliger Ehemann (nachfolgend: Voreigentümer). Die Wohnung war bei Begründung des Wohnungseigentums vermietet.

Im Jahr 2019 verkaufte der Voreigentümer die Wohnung an Dritte. Daraufhin erklärten die Berechtigte und der Mieter jeweils die Ausübung des ihnen zustehenden Vorkaufsrechts. Der Voreigentümer ließ die Wohnung mit Zustimmung des Drittkäufers an den Mieter auf. Die Berechtigte klagte daraufhin gegen den Voreigentümer auf Auflassung der Wohnung. Das LG wies die Klage ab. Dieses Urteil ist nicht rechtskräftig.

Nach dem Urteil des LG löschte das Grundbuchamt auf Antrag des Mieters das zugunsten der Berechtigten eingetragene Vorkaufsrecht. Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb beim Grundbuchamt und beim OLG erfolglos.

Der BGH weist das Grundbuchamt an, gegen die Löschung der Vormerkung einen Widerspruch einzutragen.

Zu Recht ist das (gemäß § 72 GBO für die Entscheidung über die Beschwerde zuständige) OLG davon ausgegangen, dass eine Beschwerde mit dem Ziel der Wiedereintragung des Vorkaufsrechts unzulässig ist. Nach § 71 Abs. 2 GBO darf mit einer Beschwerde nur die Eintragung eines Amtswiderspruchs oder die Löschung einer ihrem Inhalt nach unzulässigen Eintragung verlangt werden. Die von der Berechtigten angefochtene Löschung des Vorkaufsrechts ist ihrem Inhalt nach zulässig. Die Berechtigte darf ihre Beschwerde mithin nur auf die Eintragung eines Widerspruchs nach § 53 Abs. 1 Satz 1 GBO richten.

Entgegen der Auffassung des OLG ist die auf Eintragung eines Widerspruchs gerichtete Beschwerde begründet.

Das Vorkaufsrecht ist schon deshalb unter Verletzung gesetzlicher Vorschriften gelöscht worden, weil das Grundbuchamt die Berechtigte nicht angehört hat.

Darüber hinaus lagen die Voraussetzungen für eine Löschung – Bewilligung (§ 19 GBO) oder Nachweis der Unrichtigkeit (§ 22 GBO) durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden (§ 29 Abs. 1 Satz 1 GBO) – nicht vor. Der beurkundete Veräußerungsvertrag zwischen dem Voreigentümer und dem Mieter vermag das Erlöschen des Vorkaufsrechts nicht zu beweisen, weil die Berechtigte daran nicht beteiligt war. Das Urteil des LG ist zum Nachweis schon deshalb nicht geeignet, weil es nicht rechtskräftig ist. Darüber hinaus wäre ein rechtskräftiges Urteil nur hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Übereignung bindend, nicht aber hinsichtlich der Vorfrage, ob das Vorkaufsrecht noch besteht.

Entgegen der Auffassung des OLG hat die Berechtigte glaubhaft gemacht, dass das Grundbuch durch die Löschung unrichtig geworden ist, weil die Berechtigte ihr dingliches Vorkaufsrecht wirksam ausgeübt hat und diesem im Streitfall der Vorrang gegenüber dem gesetzlichen Vorkaufsrecht des Mieters zukommt.

Dem Mieter der Wohnung stand nach § 577 Abs. 1 Satz 1 BGB ebenfalls ein Vorkaufsrecht an der Wohnung zu. In welchem Verhältnis dieses gesetzliche Vorkaufsrecht zu einem dinglichen Vorkaufsrecht im Sinne von § 1094 BGB steht, ist umstritten. Der BGH entscheidet nunmehr, dass ein dingliches Vorkaufsrecht jedenfalls dann Vorrang hat, wenn es zugunsten eines Familien- oder Haushaltsangehörigen im Sinne von § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB besteht. Wenn der Vermieter die Wohnung an einen Erwerber aus diesem Personenkreis verkauft, ist ein Vorkaufsrecht des Mieters gemäß § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB ausgeschlossen. Diese Vorschrift schützt das Interesse des Vermieters, die Wohnung an eine bestimmte ihm nahestehende Person verkaufen zu können. Dieser Gesetzeszweck greift auch dann, wenn der Vermieter die Wohnung an einen Dritten verkauft und ein Angehöriger ein dingliches Vorkaufsrecht wirksam ausübt.

Ob die Bestellung des dinglichen Vorkaufsrechts rechtsmissbräuchlich war, weil sie der Vereitelung des Vorkaufsrechts aus § 577 Abs. 1 Satz 1 BGB diente, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, weil ein eventueller Missbrauch nicht in der Form des § 29 GBO nachgewiesen ist.

Praxistipp: Der Begriff des Familienangehörigen im Sinne von § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB entspricht demjenigen der Regelung über die Eigenbedarfskündigung in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB.

Von der Indizwirkung der Rechnung zur Indizwirkung der Honorarvereinbarung: Die neue Linie des BGH zur Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten

Bislang hat der BGH für die Ersatzfähigkeit der Sachverständigenkosten im Rahmen von Straßenverkehrsunfällen der tatsächlichen Begleichung der Rechnung entscheidende Bedeutung beigemessen (BGH v. 17.12.2019 – VI ZR 315/18, MDR 2020, 345 = NJW 2020, 1001; BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, MDR 2016, 1137 = NJW 2016, 3092, 3094).

Das Begleichen der Rechnung bildete ein wesentliches Indiz für die Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO mit den beiden folgenden Konsequenzen:

  • Darlegung und Beweis des Geschädigten für die Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten werden erleichtert.
  • Auf Seite des Schädigers reicht in diesem Fall einfaches Bestreiten der Höhe der Forderung durch den Beklagten nicht mehr aus. Vielmehr muss er qualifiziert zur Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten vortragen (BGH v. 19.7.2016 – VI ZR 491/15, MDR 2016, 1378 = NJW 2016, 3363).

In mehreren Entscheidungen aus den Jahren 2022 und 2023 stellt der BGH für die Indizwirkung statt der Begleichung der Rechnung nun maßgeblich auf das Vorliegen einer Honorarvereinbarung ab soweit die Schadenersatzansprüche nicht an Erfüllungs statt abgetreten wurden. Darüber hinaus signalisiert der BGH in den folgenden Entscheidungen, dass das aus dem Werkvertrag mit dem Sachverständigen Geschuldete zu ersetzen ist soweit die fehlende objektive Erforderlichkeit dem Geschädigten im Rahmen der Plausibilitätskontrolle nicht erkennbar war:

  • BGH v. 7.2.2023 – VI ZR 137/22, MDR 2023, 626 = NJW 2023, 1718: Die Preis- oder Honorarvereinbarung mit dem Sachverständigen bildet, wenn nicht zugleich eine Abtretung des Schadenersatzsanspruchs an Erfüllungs statt erfolgt ist, ein Indiz für die Schadensschätzung nach § 287 ZPO.
  • BGH v. 7.2.2023 – VI ZR 138/22, BeckRS 2023, 2753: Es obliegt der unternehmerischen Entscheidung des Sachverständigen, ob er die Kosten für die Inanspruchnahme einer Restwertbörse in sein Grundhonorar einpreist oder extra ausweist.
  • BGH v. 12.12.2022 – VI ZR 324/21, MDR 2023, 361 = NJW 2023, 1057: Die schadensrechtliche Erstattungsfähigkeit einer Corona-Desinfektionskostenpauschale des Sachverständigen richtet sich nach der werkvertraglichen Beziehung zwischen Geschädigtem und Sachverständigem. Ob die Desinfektionskostenpauschale gesondert berechnet wurde oder in das Grundhonorar des Sachverständigen eingepreist wurde, spielt keine Rolle.

Indiz für die Schätzung der Sachverständigenkosten ist damit neuerdings die Honorarvereinbarung soweit nicht Schadenersatzansprüche an Erfüllungs statt an den Sachverständigen abgetreten wurden.

Für die Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten ergab sich, auf Basis der ständigen Rechtsprechung ein Schema (Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 29.7), das nun wie folgt zu ergänzen ist (rot):

  1. Grundsatz: Geschädigter ist nicht zur Marktforschung verpflichtet.
  2. Ausnahme: Erkennbarkeit des deutlichen Überschreitens der branchenüblichen Sätze aus ex-ante-Sicht bzw. Fehlen jeglicher Erkennbarkeit des Honorars
  3. Vorliegen einer Honorarvereinbarung (ohne Abtretung der Forderung an Erfüllungs statt) oder beglichene Rechnung als Indiz für die Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten
  4. Ausnahme von der Indizwirkung bei Abtretung der Forderung erfüllungshalber an den Sachverständigen oder eine Verrechnungsstelle

Der BGH betont neuerdings, nach Zeiten einer eher restriktiven, sehr fein ausdifferenzierten Dogmatik zur Erstattung von Sachverständigenkosten, auffällig deutlich die indizielle Bedeutung der Honorarvereinbarung für die Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO. Diese neue Rechtsprechungslinie findet unschwer Anschluss an die aktuelle Rechtsprechung zum Werkstattrisiko bei konkreter Abrechnung von Reparaturkosten, wo ebenfalls die werkvertragliche Vereinbarung zwischen Geschädigtem und Leistungserbringer (Werkstatt) maßgebliche Grundlage der Schadensschätzung ist (BGH v. 26.4.2022 – VI ZR 147/21, MDR 2022, 1089 = NJW 2022, 2840).

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die bindende Feststellung der Erbwürdigkeit.

Bindungswirkung eines die Erbunwürdigkeit aussprechenden Versäumnisurteils
BGH, Beschluss vom 26. April 2023 – IV ZB 11/22

Der IV. Zivilsenat befasst sich mit der Bindungswirkung gemäß § 2342 und § 2344 BGB.

Die beiden Beteiligten sind das einzige Kind und die Ehefrau des im November 2018 verstorbenen Erblassers.

Ein von der Ehefrau handschriftlich verfasstes gemeinschaftliches Testament enthält eine wechselseitige Einsetzung der beiden Ehegatten als Alleinerben. Im Juli 2020 erhob die Tochter gegen die Ehefrau Klage auf Feststellung der Erbunwürdigkeit. Zur Begründung trug sie vor, sie vermute, dass die Ehefrau das Testament nach dem Erbfall auf einem vom Erblasser unterzeichneten Blankobogen erstellt habe. Das LG erklärte die Ehefrau im Januar 2021 mit Versäumnisurteil für erbunwürdig. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden. Die Ehefrau hat hierzu vorgetragen, wegen des plötzlichen Unfalltodes sei sie stark traumatisiert gewesen und habe sich mit geschäftlichen und gerichtlichen Dingen bis Mitte 2021 nicht auseinandersetzen können. Deshalb habe sie die Gerichtspost erst im Juni 2021 geöffnet.

Das AG hat der Tochter auf deren Antrag einen Erbschein als Alleinerbin ausgestellt. Die Beschwerde dagegen ist erfolglos geblieben.

Die Rechtsbeschwerde der Ehefrau hat ebenfalls keinen Erfolg.

Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, dass ein Urteil, mit dem eine Partei auf eine Anfechtungsklage gemäß § 2342 Abs. 1 BGB für erbunwürdig erklärt wird, Rechtskraftwirkung für und gegen jedermann entfaltet. Dies ergibt sich aus § 2342 Abs. 2 BGB, wonach die Wirkung der Anfechtung erst mit der Rechtskraft des Urteils eintritt, und aus § 2344 Abs. 1 BGB, wonach der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt gilt, wenn der betreffende Erbe für erbunwürdig erklärt worden ist.

Ebenfalls zu Recht sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass diese Bindungswirkung auch einem Versäumnisurteil zukommt. Wie schon in früheren Entscheidungen lässt der BGH weiterhin offen, ob im Prozess über eine Anfechtungsklage nach § 2342 Abs. 1 BGB der Verhandlungs- oder der Untersuchungsgrundsatz gilt. Er lässt auch dahingestellt, ob in einem solchen Verfahren ein Versäumnisurteil ergehen darf. Ein ergangenes und rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil ist jedenfalls wirksam und grundsätzlich in gleicher Weise bindend wie ein streitiges Urteil.

Für eine Durchbrechung der Rechtskraft nach § 826 BGB reicht es nicht aus, dass das Versäumnisurteil inhaltlich unzutreffend ist und der Kläger dies wusste. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die sich aus der Art und Weise der Titelerlangung oder der beabsichtigten Vollstreckung ergeben und das Vorgehen des Gläubigers als sittenwidrig erscheinen lassen. Solche Umstände sind im Streitfall auch dann nicht ersichtlich, wenn unterstellt wird, dass die Tochter bei Klageerhebung wusste, dass das Testament echt ist.

Praxistipp: Eine Erbunwürdigkeitsklage darf gemäß § 2341 BGB von jedem erhoben werden, dem der Wegfall des Erbunwürdigen zustatten kommt. Dies sind nicht nur die Personen, die anstelle des Erbunwürdigen als Erben berufen sind, sondern auch alle diejenigen, die beim Wegfall einer solchen Person Erbe wären.