Commercial Courts im Rechtsausschuss

Unter dem Titel „Commercial Courts – Deutsche Elite-Gerichtsbarkeit goes international“ hatte ich in der GmbHR 2023, R52 und hier im Blog über das Eckpunktepapier des BMJ vom 16.1.2023 berichtet. Mein damaliges Fazit: „Nichts spricht dagegen, sie möglichst rasch in ein Gesetz zu gießen und umzusetzen. … Woher sollten ernsthafte, überzeugende Argumente gegen Dialog, gegen moderne Technik oder gegen Richterqualität kommen? Nicht zähe Diskussionen sind jetzt gefragt, sondern zeitnahe Umsetzung. Möge das Eckpunktepapier zügig zum Gesetzentwurf erstarken!“

Inzwischen ist einiges vorangegangen. Am 1.3.2023 fand die Anhörung der Sachverständigen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages statt (hier abzurufen: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_recht/anhoerungen/931000-931000). Wie zu erwarten war, stieß der Entwurf auch dort auf einhellige Zustimmung, wobei an mehreren Stellen Verbesserungen angeregt wurden.

Der Bedarf nach mehr sprachlicher Flexibilität wurde allgemein anerkannt. In der Tat ist wenig verständlich, warum es in einem Prozess, der einen Streit mit internationalen Beteiligten betrifft, generell nicht zulässig sein soll, in einer anderen Sprache als Deutsch zu verhandeln. Natürlich darf das nicht dazu führen, dass einzelne Prozessparteien sprachlich „abgehängt“ werden, dafür ist prozessleitend Sorge zu tragen. Aber wenn alle Beteiligten des Englischen hinreichend mächtig sind, sollte man ihnen nicht von Gesetzes wegen verbieten, sich dieser Sprache zu bedienen. Das gilt umso mehr, wo fremdsprachige Dokumente eingereicht werden, über die zu reden ist. Aktuell betrifft die Debatte lediglich die englische Sprache, aus meiner Sicht könnte das aber gesetzlich offen ausgestaltet werden, so dass dann, wenn es der Sache dient und jedermann rechtliches Gehör erhält, auch in anderen Sprachen verhandelt werden könnte. Entsprechende Versuche mit Französisch gibt es in Deutschland bereits.

Die Commercial Courts sollen nach dem derzeitigen Planungsstand zum Teil erst ab bestimmten Streitwertgrenzen zuständig werden. Dagegen richtete sich die Kritik mehrerer Sachverständiger. In der Tat ist nicht einzusehen, warum das Angebot, in fremder Sprache zu verhandeln, nur für betuchte Beteiligte gelten sollte, die dann auch gleich noch – so die Vorschläge des Eckpunktepapiers – von moderner Technik und einer Aufzeichnung des Geschehens im Gerichtssaal profitieren sollen. Das Ziel sollte es hier sein, flächendeckend den Zugang zum Recht zu erleichtern.

Ein Sachverständiger forderte vehement eine parallele Anpassung materieller Rechtsvorschriften. Das deutsche AGB-Recht wirke auf ausländische Beteiligte abschreckend und wenn es nicht im B2B-Geschäft zurückgebaut werde, würden internationale Unternehmen ohnehin von der Wahl eines deutschen Rechtssystems Abstand nehmen.

Mehrere Sachverständige unterstrichen, dass die Commercial Courts nicht als Bastion des Staates im Abwehrkampf gegen ein um sich greifendes Schiedsgerichtswesen verstanden werden sollten. Vielmehr gehe es um eine Stärkung des Justizstandortes Deutschland insgesamt und das komme auch den hiesigen Schiedsgerichten durchaus zugute. Ein Sachverständiger teilte in diesem Zusammenhang seine Erfahrung, dass ausländische Gerichte entgegen einem landläufigen Vorurteil häufig zu deutlich niedrigeren Gebühren ihre Dienste anböten als in Deutschland.

Einige Länder sind schon aufgebrochen, Commercial Courts einzurichten, die mehr oder weniger dem entsprechen, was nun in Deutschland diskutiert wird, Frankreich insbesondere, die Niederlande und – natürlich – Singapur. Die ersten dortigen Erfahrungen zeigen, dass es nicht leicht ist, internationale Streitparteien von der Wahl staatlicher Gerichte zu überzeugen. Die Akzeptanz hält sich bislang in Grenzen. Das sollte dazu führen, auch in Deutschland mit realistischen Erwartungen an die Umsetzung zu gehen. Dass der Weg aber ein richtiger ist, hat sich nach Abschluss der Sachverständigen-Anhörung eindrucksvoll bestätigt.

 

Commercial Courts – Deutsche Elite-Gerichtsbarkeit goes international – Zum Eckpunktepapier des BMJ vom 16.1.2023

Am 16.1.2023 veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz „Eckpunkte zur Stärkung der Gerichte in Wirtschaftsstreitigkeiten und zur Einführung von Commercial Courts“. Das klingt vielversprechend.

I. Ausgangslage

Jetzt soll umgesetzt werden, was die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag 2021-2025 verabredet hatten: „Wir ermöglichen englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten.“ Nur auf diesen einen Satz nimmt das Eckpunktepapier Bezug, um sodann konzeptionelle Veränderungsideen aufzufächern, die der unbefangene Leser daraus kaum hätte erahnen können: Ausstattung des Gerichts mit moderner Technik, Online-Verhandlung, Wortprotokoll – alles Elemente, die mit der Gerichtssprache gar nichts zu tun haben, hier aber im selben Atemzug Erwähnung finden.

II. Zielsetzung

Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen solle der Justiz- und Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig gestärkt werden, wird im Anschluss an die Ist-Analyse die Zielsetzung des Vorstoßes beschrieben. Dabei könne „auf wertvollen Vorarbeiten der Länder“ aufgebaut werden.

Gemeint ist ein Experiment, das seit einigen Jahren in Stuttgart und Mannheim zu beobachten ist. Dort gibt es nämlich schon Commercial Courts und wer sich auf der dafür eingerichteten Webseite (https://commercial-court.de/) umschaut, wird verblüfft sein. Ein Justiz-Erlebnis kündigt sich den Prozessparteien an. „Die Top-Anlaufstelle bei wirtschaftsrechtlichen Streitverfahren“ wird dort selbstbewusst verkündet, darf man bei einem Gericht sagen: geprahlt? „Die“, nicht „eine“ Top-Anlaufstelle. Eine Alleinstellung offenbar. Man arbeite „hocheffizient“ – ein staatliches Gericht! – und sei „mit exzellenten Richterinnen und Richtern besetzt“, so weiter die Werbe-/Webseite der funktionierenden Commercial Courts.

Ein Schock für den, der richterliche Zurückhaltung, Anonymität, Sachlichkeit, Nüchternheit schätzt. Ein Labsal für den, der Transparenz, Offenheit, Nähe, die Menschen dahinter, Nachweise der zu erwartenden Qualität sucht. Was aber bedeutet die ambitionierte Ankündigung, heruntergebrochen auf die Details?

III. Die Eckpunkte im Einzelnen

  1. Verfahren in englischer Sprache vor den Landgerichten

Die Länder sollten vorsehen können, dass bestimmte Handelsstreitigkeiten an ausgewählten Landgerichten umfassend in der englischen Sprache geführt werden können. Die Parteien müssten sich dazu über die Verfahrenssprache Englisch einig sein und es müsse für die Wahl dieser Sprache einen sachlichen Grund geben. Das Verfahren, einschließlich der Entscheidung, solle dann vollständig in der englischen Sprache geführt werden.

Sachlicher Grund ist womöglich der Sitz mindestens eines Beteiligten im Ausland. Möglicherweise auch ein auf Englisch formulierter, dann in Streit befangener Vertrag. Ob es auch ausreicht, wenn die gesetzlichen Vertreter mindestens einer Partei des Deutschen nicht mächtig sind?

Gleiches wie in erster Instanz soll auch für Berufungen und Beschwerden gegen diese landgerichtlichen Entscheidungen gelten, die sodann auch vor dem jeweils zuständigen Senat des Oberlandesgerichts in der englischen Sprache verhandelt werden können.

  1. „Commercial Courts“ bei den Oberlandesgerichten

Für „große Handelssachen“ sollen die Länder erstinstanzliche Spezialsenate bei ihren Oberlandesgerichten einrichten dürfen. Das gilt generell, also unabhängig von der Ausrichtung auf eine englische Verfahrenssprache. Soweit der Streitwert eines Rechtsstreits eine bestimmte Schwelle, etwa von einer Million Euro, erreicht oder überschreitet, soll die direkte Anrufung des Commercial Courts beim OLG möglich sein, wenn alle Parteien einverstanden seien. Damit könne die Ebene des Landgerichts übersprungen werden, heißt es im Eckpunktepapier.

Schade, dass das Eckpunktepapier nicht an der Nomenklatur der in Stuttgart und Mannheim erprobten Praxis festhält: Commercial Court für die Kammern bei den Landgerichten, Commercial Court of Appeal für den Senat beim OLG. Stattdessen soll die Bezeichnung Commercial Court nach der Vorgabe des Eckpunktepapiers den erstinstanzlich zuständigen OLG-Senaten vorbehalten sein, während den Kammern beim LG keine besondere Bezeichnung zugedacht ist.

Auch bei den besonderen OLG-Senaten soll ein Verfahren auf Englisch möglich sein, wenn ein sachlicher Grund für die Verfahrenssprache Englisch besteht. Für die Verfahren vor den Commercial Courts beim OLG soll zudem die Möglichkeit der Erstellung eines Wortprotokolls eröffnet werden.

Diese Planung steht in gedanklicher Nähe zu den Referentenentwürfen für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) vom 22. November 2022 und zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 23. November 2022.

Die Kosten für Verfahren vor den Commercial Courts sollen auf OLG-Ebene den Kosten für Verfahren vor den Oberlandesgerichten entsprechen, mit anderen Worten: deutlich gesteigerte Qualitätsstandards zum gleichen Preis. Das kann sich insbesondere im Vergleich zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit positiv auswirken, liegen die Honorare dort doch regelmäßig über den Gebühren ihrer staatlichen Pendants.

  1. Revision zum Bundesgerichtshof

Gegen eine Entscheidung der Commercial Courts auf OLG-Ebene soll die Revision zum BGH eröffnet sein. Eine umfassende Verfahrensführung in der englischen Sprache soll – im Einvernehmen mit dem zuständigen Senat des BGH – auch in der Revision möglich sein.

Es bleibt abzuwarten, ob die jeweiligen Senate in die ungewohnte Verfahrenssprache Englisch einwilligen werden. Auch wenn das von Senat zu Senat unterschiedlich gesehen werden könnte, kann der Verfasser dieser Zeilen eine gewisse Grundskepsis, ob sich überhaupt ein Senat dazu bereitfinden wird, nicht unterdrücken.

  1. Übersetzung, Geschäftsgeheimnisse, Öffentlichkeit

Zur Ermöglichung der Vollstreckung und zur Unterstützung der Rechtsfortbildung sollen, so das Eckpunktepapier, die englischsprachigen Entscheidungen in die deutsche Sprache übersetzt und veröffentlicht werden. Im Vollstreckungsbereich ist die Einrichtung englischsprachiger Stellen bei Gericht und Gerichtsvollziehern nicht vorgesehen.

Offenbar ist eine ausnahmslose Veröffentlichung der Entscheidungen vorgesehen ist. Der Ist-Stand zum Thema Veröffentlichungen von Gerichtsurteilen in Deutschland ist ernüchternd: Unter drei Prozent der im Namen des Volkes verkündeten Entscheidungen werden der Allgemeinheit bekanntgegeben. Auf einmal hat man im Angesichte des Wettbewerbs mit ausländischen Gerichten – wo deutlich höhere Veröffentlichungsquoten von bis zu 100 Prozent anzutreffen sind – und Schiedsgerichten offenbar eine Möglichkeit entdeckt, bisher angeführte Schwierigkeiten zu überwinden.

Geschäftsgeheimnisse sollen künftig umfassender als bislang im Zivilprozess geschützt werden. Dazu sollen die Verfahrensregelungen nach dem Geschäftsgeheimnisschutzgesetz auf den gesamten Zivilprozess ausgeweitet werden. Das Thema „Geheimnisschutz“ hat im Grunde weder mit der englischen Verfahrenssprache noch mit der Modernisierung der Prozesse etwas zu tun, sondern behandelt einen Bereich, in dem nun offenbar eine Regelungslücke bemerkt wurde, die schon immer vorhanden war.

IV. Fazit

Dem Wettbewerb mit ausländischen Handelsgerichten und Schiedsgerichten wie in London, Singapur, Paris und Amsterdam wolle man sich stellen, sagt das Eckpunktepapier. Das ist ein ambitioniertes Ziel, zumal wenn man deren Tradition oder zukunftsorientierte Dynamik betrachtet. Ist es auf absehbare Zeit erreichbar?

Die deutsche Gerichtsbarkeit hat einen hohen, auch international anerkannten Qualitätsanspruch. Man hat im BMJ erkannt, dass das allein nicht reicht. Internationale Rechtsdienstleistungen – und als solche wird man auch dieses Angebot einer qualifizierten Gerichtsbarkeit einordnen dürfen – kommen nicht umhin, sich ohne Anstrengung und Zusatzkosten der lingua franca unserer Zeit zu bedienen. Sie werden aber auch dann nur ein müdes Lächeln international aktiver Unternehmen ernten, wenn sie technisch nicht auf der Höhe sind und ihre Transparenz zu wünschen übrig lässt.

Man hat im BMJ gravierende Defizite der deutschen Gerichtsausstattung erkannt und setzt sie auf die gesetzgeberische Agenda. Dazu gehört – nun gleich in mehreren Gesetzesvorhaben – eine deutlich verbesserte Dokumentation durch Ton-, Bild- und Textaufzeichnung. Dazu gehört die bislang fehlende Transparenz richterlicher Qualifikation und der Entscheidungen selbst. Auch die Länge der Verfahren, nicht zuletzt aufgrund der drei Instanzen, wirkt auf potenzielle Beteiligte abschreckend.

Einige dieser Problemfelder werden flächendeckend angegangen, etwa die Dokumentation der Verhandlungen. Das allerdings bedingt größere Investitionen und Zeit, um überall die erforderliche Technik einzuführen. Der spezielle Bereich von Wirtschaftsstreitigkeiten kann und soll vorgezogen werden.

Andere Problembereiche werden offenbar nur begrenzt ins Visier genommen, was eine spätere Ausweitung natürlich nicht ausschließt. So liegt es nahe, die Gerichtssprache auch außerhalb wirtschaftsrechtlicher Auseinandersetzungen flexibler in Varianten zuzulassen als bisher. Bedarf dafür gäbe es sicher auch in anderen Rechtsmaterien. Und auch für Dialog von Gericht und Beteiligten und für Spezialisierung und Qualifikation der Richter gibt es sicherlich nicht nur im Wirtschaftsrecht Nachfrage.

So erweist sich das Eckpunktepapier als bunte, heterogene Mischung von anstehenden, zum Teil schon seit Jahren fälligen Veränderungen. Nichts spricht dagegen, sie möglichst rasch in ein Gesetz zu gießen und umzusetzen. Um sogleich das Ausrollen auf andere Rechtsmaterien und Verfahrenszweige vorzusehen. Woher sollten ernsthafte, überzeugende Argumente gegen Dialog, gegen moderne Technik oder gegen Richterqualität kommen? Nicht zähe Diskussionen sind jetzt gefragt, sondern zeitnahe Umsetzung. Möge das Eckpunktepapier zügig zum Gesetzentwurf erstarken!

Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag der Ampel

Am Mittwoch, den 24.11.2021, haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP den Koalitionsvertrag präsentiert, der auf den Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ lautet. Bei der Lektüre des 178 Seiten langen Textes fällt auf, dass die Ampel-Koalition zwei unternehmensrechtliche Themen, die früher Gegenstand von Wahlkämpfen waren, nicht aufgreift: die Geschlechterquote in den Gesellschaftsorganen und die Managervergütung. Augenscheinlich ist das Unternehmensrecht in diesem Zusammenhang fortschrittlich genug und muss nicht angetastet werden. Im Hinblick auf die Reformen der vergangenen Jahre bleibt zu hoffen, dass sich die Koalitionäre an ihr Schweigen halten. Der Schwerpunkt der unternehmensrechtlichen Reformvorhaben liegt in anderen Bereichen, die im Folgenden dargestellt werden.

Sorgfaltspflichten in den Lieferketten

Am Ende der vergangenen Legislaturperiode hat der deutsche Gesetzgeber das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG; BGBl. I 2021, S. 2959) verabschiedet (zum Entwurf vom März 2021 Reich, AG 2021, R116; Scheffler, AG 2021, R120; zur Endfassung Scheffler, AG 2021, R199). Außerdem hat das Europäische Parlament im März 2021 einen Legislativvorschlag zur Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen präsentiert. Der für Herbst 2021 erwartete Richtlinienentwurf der EU-Kommission liegt bislang nicht vor. An diese Entwicklung anknüpfend halten die Ampel-Koalitionäre auf S. 34 fest, dass sie ein wirksames EU-Lieferkettengesetz unterstützen, das kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Das deutsche LkSG werde unverändert umgesetzt und ggf. verbessert. Insgesamt wäre die Bundesregierung wohl gut beraten, zunächst die Entwicklungen auf europäischer Ebene abzuwarten und ggf. zu versuchen, sie zu beeinflussen. Erst wenn das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene ins Stocken geraten oder gar scheitern sollte, wäre es zweckmäßig, das LkSG nachzubessern.

Whistleblowing

Anders als das LkSG hat es ein Hinweisgeberschutzgesetz in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr über die Ziellinie geschafft. In dieser Legislaturperiode ist hiermit sicher zu rechnen, da die Whistleblowing-Richtlinie (EU) 2019/1937 vom 23.10.2019 den Mitgliedsstaaten Regelungen zum Whistleblowing zwingend zur Umsetzung vorgibt. Da die Umsetzungsfrist bereits am 17.12.2021 endet, wäre es nicht überraschend, wenn das Whistleblowing zu denjenigen unternehmensrechtlichen Themen zählt, die die Ampel-Koalitionäre prioritär angehen.

Die Essenz der Umsetzung deutet der Koalitionsvertrag auf S. 111 nur vage an. Zu begrüßen ist die ausdrückliche Festlegung, insofern über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinauszugehen, als das angestrebte Regime nicht auf die Meldung von Verstößen gegen EU-Recht beschränkt bleiben soll, sondern auch bestimmte Verstöße gegen nationale Vorschriften umfasst sein sollen. Abgesehen hiervon wäre es der Rechtssicherheit und Praktikabilität dienlich, wenn der Gesetzgeber Klarheit hinsichtlich der Frage schafft, ob und inwieweit Hinweisgebersysteme im Konzern einheitlich betrieben werden können (hierzu Holle, ZIP 2021, 1950). Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger stellen die Ampel-Koalitionäre unter einen Prüfvorbehalt, so dass abzuwarten bleibt, inwieweit sie sich dazu durchringen werden, Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote vorzusehen.

Verbandssanktionen

Kein unionsrechtlicher Umsetzungsdruck besteht beim Thema Verbandssanktionierung. Die gegenwärtige Rechtslage wird von vielen aus guten Gründen aber als unbefriedigend empfunden; die in der letzten Legislaturperiode anvisierte Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung ist auf der Zielgeraden gescheitert. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Koalitionsvertrag sich ihrer auf S. 111 neuerlich annimmt. Ob sich dahinter eine ähnlich weitreichende Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung verbirgt, wie sie der in der vergangenen Legislaturperiode vorliegende Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes (VerSanG; BT-Drucks. 19/23568) bedeutet hätte, ist fraglich. Tendenziell klingt es nach einer kleinen Lösung, die sich mit einer Anhebung der Bußgeldobergrenzen, der Normierung einer Compliance-Defense sowie gewisser Regelungen zu internen Untersuchungen im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts begnügt.

GmbH mit gebundenem Vermögen

Ein klares Bekenntnis geben die Ampel-Koalitionäre auf S. 30 des Vertrags zu einer neuen Rechtsform ab, die im Schrifttum sehr umstritten ist: die Gesellschaft mit gebundenem Vermögen (für die Einführung einer solchen Gesellschaftsform Sanders/Dauner-Lieb/Kempny/Möslein/Veil, GmbHR 2021, 285; dagegen etwa Habersack, GmbHR 2020, 992). Den Einsatz dieser Rechtsform als Vehikel für Steuersparkonstruktionen will die künftige Regierung vermeiden (auf diese Gefahr hinweisend Hüttemann/Schön, DB 2021, 1356; relativierend Kempny, DB 2021, 2248). Ungeachtet der steuerrechtlichen Probleme sollte der Gesetzgeber überprüfen, ob es einer solchen Gesellschaftsform tatsächlich bedarf, um die angestrebten Ziele zu erreichen (eingehend Hüttemann/Rawert/Weitemeyer, npoR 2020, 296).

GmbH-Gründungsrecht

Darüber hinaus verpflichten sich die Koalitionäre auf S. 111 f. des Vertrags, die Gründung von Gesellschaften zu erleichtern, indem sie Beurkundungen per Videokommunikation auch bei Gründungen mit Sacheinlage und weiteren Beschlüssen erlauben. Die Ampel dürfte damit in erster Linie die GmbH im Blick gehabt haben. Auch wenn keine sachlichen Gesichtspunkte gegen eine elektronische AG-Gründung sprechen, dürfte dies trotz aller Fortschrittsbekundungen auch künftig keine Option sein.

Der Koalitionsvertrag setzt an § 2 Abs. 3 GmbHG i.d.F. des DiRUG (BGBl. I 2021, S. 3338) an, wonach nur eine elektronische GmbH-Bargründung möglich ist. Diese Einschränkung, die im Schrifttum kritisiert wurde (s. nur Drygala/Grobe, GmbHR 2020, 985 Rz. 32 ff.), soll in der Zukunft entfallen, was nachdrücklich zu begrüßen ist. Die Unternehmensgründung soll zudem durch eine umfassende Start-Up-Strategie gefördert werden, zu der u.a. die Einführung von flächendeckenden „One Stop Shops“ (Anlaufstellen für Gründungsberatung, -förderung und -anmeldung) gehört. In solchen „One Stop Shops“ sollen Unternehmensgründungen innerhalb von 24 Stunden möglich sein (S. 30 des Koalitionsvertrags).

Hauptversammlungsrecht

Auf einhellige Zustimmung dürfte die auf S. 112 des Koalitionsvertrags angekündigte dauerhafte Einführung von Online-Hauptversammlungen fallen. Die auf Corona-Sondergesetzgebung gestützte Online-Hauptversammlung (s. § 1 COVMG) hat sich im Groben und Ganzen bewährt (zur Empirie s. nur Danwerth, AG 2021, 613) und kann als Blaupause für die anstehende Aktienrechtsreform dienen.

Spannend bleibt die Frage, wie die Aktionärsrechte im künftigen Hauptversammlungsrecht ausgestaltet werden. Die Ampel-Koalition verspricht, jene uneingeschränkt zu wahren. Dies deutet darauf hin, dass die Regelungen in § 1 Abs. 1, 2 und 7 COVMG, die das Rede-, Auskunfts- und Anfechtungsrecht der Aktionäre beschränken, nicht ins Aktiengesetz überführt werden (speziell zur Aktionärskommunikation Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 und VGR, AG 2021, 380 Rz. 8 ff.). Ungeachtet der rechtspolitischen Diskussionen um die Reichweite der Aktionärsrechte sollte das BMJ zügig einen Referentenentwurf präsentieren, damit die Unternehmen nach den Erfahrungen mit § 1 COVMG in der Hauptversammlungssaison 2023 nicht wieder im vordigitalen Zeitalter landen (zu COVMG-Verlängerungen und der Zeitschiene für die Aktienrechtsreform Danwerth, AG 2021, R283 f.).

Die Ampel-Koalition sollte die Digitalisierung der Hauptversammlung dafür nutzen, auch das Beschlussmängelrecht zu reformieren. Die Große Koalition, die eine solche Reform auf S. 131 des Koalitionsvertrags für die 19. Legislaturperiode angekündigt hatte, hat ihr Versprechen trotz umfassender rechtspolitischer Vorschläge nicht umgesetzt (s. nur die Beschlüsse des 72. Deutschen Juristentags, S. 27 ff. und die Vorschläge des AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617).

Überdies sollte die künftige Regierung erwägen, die Möglichkeit einer digitalen Versammlung auch für die Gesellschaftsorgane und andere Gesellschaftsformen auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen. Wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, besteht nicht nur für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ein Bedarf an virtuellen Sitzungen.

Elektronische Aktie

In der 19. Legislaturperiode hat der Gesetzgeber mit dem eWpG (BGBl. I 2021, S. 1423) die Möglichkeit geschaffen, elektronische Wertpapiere zu begeben (hierzu nur Sickinger/Thelen, AG 2020, 862; Sickinger/Thelen, AG 2021, R198). Gleichwohl beschränkt sich das Gesetz gem. § 1 eWpG auf Inhaberschuldverschreibungen; die Begebung elektronischer Aktien ist nicht möglich (s. Begr. RegE, BT-Drucks. 19/26925, 38). Dies könnte sich in der 20. Legislaturperiode ändern: Beiläufig erwähnt der Koalitionsvertrag auf S. 172 unter der Überschrift „Digitale Finanzdienstleistungen und Währungen“, die Emission elektronischer Aktien zu ermöglichen (zu den gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen Guntermann, AG 2021, 449).

Kapitalmarktrecht

Positiv ist zu würdigen, dass sich die Ampel auf den S. 169 ff. des Koalitionsvertrags zur Vertiefung der Kapitalmarktunion bekennt und die Barrieren für grenzüberschreitende Kapitalmarktgeschäfte in der EU abbauen, den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt erleichtern und die Markttransparenz stärken möchte. Auch die Schaffung eines angemessenen regulatorischen Rahmens für FinTechs und vergleichbare Unternehmen ist zu begrüßen. Gleichwohl sollte die künftige Regierung bei all der Regulierungsfreude bedenken, dass sich die enorme Regelungsdichte im Kapitalmarktrecht als ein Grund dafür erweist, den Kapitalmärkten fernzubleiben. Vor diesem Hintergrund sollte die Ampel erwägen, ob weniger (und klarer!) nicht doch mehr ist.

Mitbestimmungsrecht

Auf S. 72 kündigen die Koalitionäre an, sich für die Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung einzusetzen, so dass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Das klingt für zahlreiche Gesellschaften, die (noch) nicht der Unternehmensmitbestimmung unterliegen, wie eine Einladung zur zügigen Umwandlung in eine SE, um rechtzeitig die derzeit bestehende Möglichkeit auszunutzen, das Mitbestimmungsstatut einzufrieren.

Prozessrecht

Aus der Perspektive des Unternehmensrechts interessant sind die Aussagen auf S. 108 des Koalitionsvertrags, wonach das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) – das in der 19. Legislaturperiode ohne inhaltliche Änderungen verlängert wurde (BGBl. I 2020, S. 2186) – modernisiert werden soll und englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten ermöglicht werden sollen.

Steuer- und Geldwäscherecht

Fernwirkungen auf das Unternehmensrecht dürften manche steuer- und geldrechtlichen Pläne haben. So sprechen die Koalitionäre auf S. 167 des Vertrags davon, aufbauend auf den Maßnahmen der letzten Legislaturperiode missbräuchliche Dividendenarbitragegeschäfte zu unterbinden. Ein weiteres Reformversprechen betrifft das Transparenzregister. Auf S. 171 f. des Koalitionsvertrags kündigt die künftige Regierung an, die Qualität der Daten im Transparenzregister zu verbessern, so dass die wirtschaftlich Berechtigten in allen vorgeschriebenen Fällen tatsächlich ausgewiesen werden.

Mehr zum Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag im AG-Report 24/2021.