Hauptversammlungssaison 2025: Was erwartet uns?

Vor wenigen Tagen ist im Verlag Dr. Otto Schmidt das Handbuch börsennotierte AG in brandaktueller 6. Auflage erschienen. Über die Datenbanken des Verlags und von juris ist das Handbuch elektronisch bereits verfügbar. In der kommenden Woche soll es dann auch als gedrucktes Werk ausgeliefert werden. Ich freue mich, dass ich dazu abermals das Kapitel zur Hauptversammlung beisteuern konnte – einschließlich zweier gänzlich neuer Abschnitte speziell zur virtuellen HV (§ 38 und § 39). Aber auch in unzähligen anderen Punkten hat das eingespielte Team aus Verlag, Herausgebern und Autoren das renommierte Werk auf den aktuellen Stand gebracht. Wichtige Stichworte sind etwa die Börsenmantel-AG, die Wiedereinführung der Mehrstimmrechte, die Reform des Kapitalerhöhungsrechts, der EU Listing Act, die CSRD und die CSDDD.

Dabei könnte das Timing kaum besser sein – denn die HV-Saison 2025 hat just in diesen Tagen begonnen. Mit Siemens, TUI und thyssenkrupp haben erste Schwergewichte (mit abweichendem Geschäftsjahr) ihre ordentlichen Hauptversammlungen 2025 bereits hinter sich gebracht. Der Höhepunkt der Saison liegt wie immer im Mai. Dann hält bekanntlich der Großteil der DAX-, MDAX- und SDAX-Gesellschaften (mit regulärem Geschäftsjahr) seine Aktionärstreffen ab. Die rechtlichen und organisatorischen Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren.

Was erwartet uns nun in der HV-Saison 2025?

Präsenz oder virtuell?

Die Frage des HV-Formats spielt in mehrfacher Hinsicht eine Rolle:

Erstens geht es darum, welches Format die Unternehmen in der soeben eingeläuteten HV-Saison 2025 nutzen. Das ist noch nicht in jedem Fall absehbar. Der Rückblick auf die Jahre 2023 und 2024 zeigt, dass im DAX mit einem Verhältnis von 3:1 das virtuelle Format dominierte. Im MDAX hingegen hielten sich physische und virtuelle Veranstaltungen in beiden Jahren die Waage. Und im SDAX sowie außerhalb der wesentlichen DAX-Indizes überwog sehr klar: das Präsenzformat. Daraus lässt sich ableiten, dass in erster Linie sehr große deutsche Börsenunternehmen das virtuelle Format schätzen und nutzen – namentlich aufgrund der Kostenvorteile, der besseren Planbarkeit und der potenziell größeren Reichweite. Mittelgroße und kleinere Aktiengesellschaften, mit oder auch ohne Listing, stellen hingegen oftmals andere Erwägungen in den Vordergrund. Diese Interessenlage und damit auch das empirische Gesamtbild dürften sich in der Saison 2025 nicht grundlegend verschieben. Einige Unternehmen werden zwar das Versammlungsformat wechseln: So möchten etwa SAP und BASF nach zwei Jahren der Präsenz erstmals das neue virtuelle Format testen. Umgekehrt plant beispielsweise die Deutsche Börse erstmals seit der Pandemie wieder ein physisches Aktionärstreffen. Solche Wechsel in beide Richtungen gab es aber auch schon im Vorjahr. Auf das Gesamtbild hatten sie keine spürbaren Auswirkungen.

Zweitens steht, ähnlich wie in den Vorjahren, auch das „Wie“ beider Formate in Rede. Im Präsenzformat geht es dabei um freiwillige digitale Zusatzangebote für die Aktionäre. Zu denken ist etwa an eine Übertragung der Veranstaltung im Internet oder in einem zugangsgeschützten HV-Portal. Ferner an eine elektronische Briefwahl bis in die HV hinein – ähnlich wie im virtuellen Format. SAP hat hier in den vergangenen beiden Jahren eine Vorreiterrolle eingenommen. Andere könnten sich in diesem Jahr daran orientieren. Für das virtuelle Format gibt es hingegen nur wenige echte Stellschrauben. Im Kern dreht sich hier alles um die Modalitäten des Fragerechts. Viele Aktionäre erwarten einen Live-Austausch mit dem Management. Das gilt auch für ihre Fragen und deren Beantwortung. Die allermeisten Unternehmen haben sich hierauf schon in den Vorjahren eingestellt. Das Gegenmodell, also das Einsammeln aller Fragen im Vorfeld der HV, nutzten hingegen nur wenige Gesellschaften. Dies im Übrigen mit stetig abschmelzender Tendenz. Die Deutsche Bank hat jüngst angekündigt, für ihre virtuelle HV 2025 nunmehr ebenfalls auf Live-Fragen umzustellen. Damit dürfte das „Fragenvorfeld“ sich für die aktienrechtliche Praxis erledigt haben. Es war stets aktionärsfreundlich gemeint. Bei Aktionärsschützern und in der Presse kam es aber leider niemals gut an.

Schließlich und drittens: Nahezu alle börsennotierten Gesellschaften müssen die Aktionäre in der Saison 2025 um eine neue Ermächtigung ersuchen, ihre HV bei Bedarf auch künftig rein digital abzuhalten. Hintergrund ist, dass die Notstandsgesetze der Coronazeit im Jahr 2022 ausgelaufen sind und der Gesetzgeber mit dem VHVG 2022 für das virtuelle Format einen neuen Rechtsrahmen geschaffen hat. Seither steht das virtuelle Format nicht mehr kraft Gesetzes zur Verfügung. Vielmehr muss die jeweilige Satzung eine HV im Internet, ohne physische Anwesenheit der Aktionäre, selbst vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen. Beides geht nur befristet auf maximal fünf Jahre – ähnlich wie beim genehmigten Kapital. Abweichend davon wurden die Ermächtigungen im Jahr 2023 aber zumeist nur für zwei Jahre vorgeschlagen und beschlossen – denn so forderten es mächtige Stimmrechtsberater, Investoren und Aktionärsschützer.

Deren Anforderungen haben sich seither eher noch verschärft. Es bleibt darum dabei, dass bei breitem Streubesitz eine Laufzeit der Ermächtigung von mehr als zwei Jahren kaum durchsetzbar sein wird – und entsprechend moderat fallen auch die diesjährigen Beschlussvorschläge aus. Schwer könnte sich auch tun, wer seit dem Ende der Coronapandemie ausnahmslos das virtuelle Format genutzt hat und daran in absehbarer Zukunft auch nichts ändern möchte. Dann kann sich im Aktionärskreis erheblicher Widerstand formieren. Erste Beispiele aus diesem Jahr belegen dies eindrucksvoll: So haben bei Siemens und TUI die Beschlussvorschläge für eine neue Ermächtigung die erforderliche (allerdings jeweils auch qualifizierte) Mehrheit verfehlt. Beide Unternehmen müssen demnach im kommenden Jahr in Präsenz tagen. Anders hingegen bei thyssenkrupp: Eine Präsenzversammlung im vergangenen Jahr sicherte hier die notwendige Unterstützung der Stimmrechtsberater und Investoren. Ähnlich dürfte es sich bei Infineon verhalten. Dort hat das Management für das kommende Jahr 2026 eine Präsenzversammlung in Aussicht gestellt. Auf diese Weise ließ sich ein positives Votum des einflussreichen Stimmrechtsberaters ISS erreichen. Die eigentliche HV steht bei Infineon allerdings noch bevor.

Say on Pay

Viele Unternehmen müssen im Jahr 2025 überdies den Say on Pay einholen. Gemeint sind damit die Beschlüsse der HV sowohl über das Vorstandsvergütungssystem als auch über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder. Denn hierfür sieht das Gesetz eine Vorlage wenigstens im vierjährigen Turnus vor. Zuvor ist es erforderlich, das bestehende System sorgsam auf Überarbeitungsbedarf zu überprüfen. Zwar hat sich der gesetzliche Rahmen in den vergangenen Jahren kaum verändert. Gleiches gilt für die flankierenden Empfehlungen im Corporate Governance Kodex. Die Erwartungen der Investoren und Stimmrechtsberater sind jedoch erheblich gestiegen. Von besonderer Bedeutung ist es, das Vergütungssystem für den Vorstand überzeugend auf die Strategie des Unternehmens abzustimmen – und mit der Strategie wiederum muss, je nach Aktionärskreis, der Spagat zwischen unterschiedlichen und teilweise sogar gegensätzlichen Investorenerwartungen gelingen. Das gilt vor allem in puncto ESG. Aus europäischer Sicht ist der Schutz von Klima, Umwelt und Menschenrechten weiterhin, wenn nicht sogar mehr denn je eine wichtige Richtschnur. Demgegenüber gerät er in den USA als strategisches Ziel zunehmend unter Druck. Der jüngst vermeldete Ausstieg zahlreicher US-Unternehmen, US-Banken und US-Investoren aus Klimaallianzen macht dieses Dilemma besonders sichtbar.

Say on Climate

Aus demselben Grund dürfte der sogenannte Say on Climate in der HV-Saison 2025 allenfalls eine Nebenrolle spielen. Es besteht keine gesetzliche Pflicht, die Aktionäre über die Klima- und Umweltpolitik des Unternehmens abstimmen zu lassen. Folgerichtig können die Aktionäre einen solchen Beschlusspunkt auch nicht rechtsverbindlich verlangen. Zwei deutsche Börsenunternehmen, die Alzchem Group und die GEA Group, haben in den Jahren 2023 bzw. 2024 auf freiwilliger Basis ein Aktionärsvotum hierzu eingeholt – und dies auch mit großem Erfolg. Andere Unternehmen zeigen sich in diesem Punkt allerdings zurückhaltend. Das galt schon vor den US-Wahlen im November 2024. Jedoch wird die Zurückhaltung durch deren Ergebnis sowie den dadurch massiv beschleunigten „ESG-Backlash“ noch verstärkt. Die gute Nachricht ist aber: Auch auf Investorenseite spürt man aktuell offenbar kein echtes Bedürfnis nach einem Say on Climate. Der Beschlusspunkt wird also kaum einmal offensiv eingefordert, schon wegen der hohen Komplexität des Themas sowie auch deshalb, weil das bloße Prozedere einer Aktionärskonsultation für sich genommen keinerlei klima- oder umweltschützende Wirkung versprechen dürfte.

Wahl eines Nachhaltigkeitsprüfers

Die Umsetzung der CSRD in deutsches Recht ist überfällig. Eigentlich hätte sie bis Mitte des Jahres 2024 stattfinden müssen. Gleichwohl haben mehrere Unternehmen schon im vergangenen Jahr – sei es auch nur vorsorglich – ihre HV einen Prüfer für den erwarteten Nachhaltigkeitsbericht 2024 wählen lassen. Zu nennen sind aus dem DAX40 namentlich Deutsche Bank, Deutsche Börse, Deutsche Post, E.ON, Fresenius, MTU Aero Engines, Münchener Rück, SAP und Symrise. Demgegenüber setzte die Mehrheit der Unternehmen im vergangenen Jahr ihre Hoffnung noch in eine gesetzgeberische Übergangslösung. Diese ist aber nunmehr – ebenso wie die Umsetzung der CSRD insgesamt – auf unabsehbare Zeit vertagt. Hinzu kommt, dass die EU-Kommission kürzlich unter dem Stichwort „Omnibus“ eine Konsolidierung und Komprimierung der CSRD, der CSDDD, der Taxonomie-VO sowie weiterer „grüner“ Regelwerke in Aussicht gestellt hat. Gleichwohl dürfte die Wahl eines Nachhaltigkeitsprüfers auch in der Saison 2025 auf zahlreichen Tagesordnungsordnungen stehen – vermutlich sogar noch öfter als im Jahr 2024. Infineon jedenfalls verfährt so, ebenso wie zuvor schon Siemens, TUI, thyssenkrupp und thyssenkrupp nucera. So lassen sich die Weichen für den Nachhaltigkeitsbericht 2025 zumindest in diesem Punkt frühzeitig stellen.

Nachhaltigkeitsbericht 2024

Davon unabhängig stellt sich die Frage, wie die Unternehmen für ihr jüngst abgelaufenes Geschäftsjahr 2024 über Nachhaltigkeit berichten werden, nachdem die Umsetzung der CSRD weiter auf sich warten lässt. Die CSRD als solche hat als europäische Richtlinie keine unmittelbare Wirkung für oder gegen die Unternehmen. Fakt ist aber, dass börsennotierte Unternehmen bereits seit vielen Monaten, wenn nicht sogar deutlich länger, ihren Nachhaltigkeitsbericht 2024 in mühevoller Detailarbeit vorbereitet haben. Die Texte sind auf dem Papier und wollen verwendet werden. Eine denkbare Lösung ist es, den vorbereiteten Nachhaltigkeitsbericht (auch) als nicht-finanziellen Bericht im Sinne der CSR-Richtlinie 2014 und des CSR-RL-UmsG 2017 zu etikettieren und zu veröffentlichen – mit den neuen ESRS als Referenzrahmenwerk. Zahlreiche Unternehmen entscheiden sich für diesen Weg, auch um hierauf im kommenden Jahr wieder aufsetzen zu können. Demgegenüber erwägen andere, es für 2024 bei einem „klassischen“ nicht-finanziellen Bericht schlankeren Zuschnitts bewenden zu lassen. Beide Wege sind rechtlich und unternehmenspolitisch vertretbar. Eine einheitliche Praxis wird erst das CSRD-UmsG herbeiführen – wenn und sobald es denn kommt.

Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Am 12.4.2023 haben das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz den Referenzenentwurf eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG) veröffentlicht, dessen Eckpunkte bereits am 29.6.2022 präsentiert wurden (dazu etwa Kuthe, AG 2022, R208). Das Gesetz verfolgt das Ziel, den Kapitalmarkt moderner und leistungsfähiger werden zu lassen, um mehr privates Kapital für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren und den privaten Vermögensaufbau zu unterstützen (s. RefE ZuFunG, S. 1, 53 ff.). Im Folgenden finden Sie einen ersten Überblick über die Inhalte des Gesetzes.

Aktienrecht

Zahlreiche Vorschläge im Entwurf haben das Aktienrecht zum Gegenstand (s. dazu ausführlich Harnos, AG0054414):

  • Wie im Koalitionsvertrag der „Ampel“ angekündigt, soll die elektronische Aktie eingeführt werden. Dabei soll nicht nur der Anwendungsbereich des eWpG erweitert werden (s. § 1 eWpG-E und RefE ZuFinG, S. 106 ff., auch zu weiteren Änderungen des eWpG). Vielmehr sollen die Neuregelungen im eWpG durch Änderungen des Aktiengesetzes und des Depotgesetzes flankiert werden (s. § 10 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, Abs. 6 AktG-E, § 13 Satz 4 AktG-E, § 67 Abs. 1 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 91 ff.; zum Depotrecht Art. 14 ZuFinG-E und RefE ZuFinG, S. 106).
  • Ebenfalls im Koalitionsvertrag wurzeln die Regelungen zur Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktie (hierzu aus neuerer Zeit etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 17 ff.; Nicolussi, AG 2022, 753 ff.): Einerseits soll § 12 Abs. 2 AktG gestrichen werden. Andererseits sollen im neuen § 134 Abs. 2 AktG-E die Rahmenbedingungen für die Emission von Mehrstimmrechtsaktien geschaffen werden. Ergänzt werden die Vorschläge, die im Kontext des Entwurfs einer Mehrstimmrechtsaktien-RL zu lesen sind (dazu etwa Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Harnos, Blog-Beitrag vom 1.3.2023; Kuthe, AG 2023, R28, R29), durch Anpassungen des § 129 Abs. 1 Satz 2 AktG (Angaben im HV-Teilnehmerverzeichnis), § 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AktG (Feststellung über die Beschlussfassung in börsennotierten Gesellschaften) und § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG (Transparenz in Bezug auf Mehrstimmrechtsaktien). Schließlich sollen Mehrstimmrechtsaktien auch ins eWpG Eingang finden (vgl. RefE ZuFinG, S. 107).
  • Im Kapitalerhöhungsrecht sollen zum einen die Regelungen über den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss und das genehmigte Kapital liberalisiert werden: Die in § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG vorgesehene Kapitalgrenze und die Höchstbeträge in § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG sollen angehoben werden (im Einzelnen RefE ZuFinG, S. 100 ff.). Zum anderen schlägt der Entwurf eine Neukonzeption des Wertverwässerungsschutzes in § 255 AktG vor. Die derzeit geltende Anfechtungslösung in § 255 Abs. 2 AktG soll durch eine Ausgleichslösung ersetzt und durch eine Erweiterung des SpruchG flankiert werden (s. § 255 Abs. 2–6 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 103 ff.). Dabei soll der Unternehmenswert bei börsennotierten Gesellschaften anhand des durchschnittlichen Börsenkurses bemessen werden (s. § 255 Abs. 4 AktG-E, der sich an die Delisting-Regelung in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG anlehnt; vgl. dazu RefE ZuFinG, S. 104 f.).
  • Im neuen Abschnitt 4a des Börsengesetzes sollen Regelungen über Börsenmantelgesellschaften (SPACs) geschaffen werden (s. §§ 44 ff. BörsG und RefE ZuFinG, S. 85 ff.), die das – nach § 44 Abs. 7 BörsG-E BörsG subsidiär geltende – Aktienrecht in vielerlei Hinsicht modifizieren.
  • Schließlich soll die Regelung zum Nachweisstichtag in § 123 AktG präzisiert werden (s. RefE ZuFinG, S. 96).

Kapitalmarktrecht

Auch das Kapitalmarktrecht soll an einigen Stellen angepasst werden:

  • Die Voraussetzungen für die Börsenzulassung sollen durch eine Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 BörsZulVO moderat erleichtert werden: Der voraussichtliche Kurswert der zuzulassenden Aktien soll von mindestens 1,25 Mio. € auf mindestens 1 Mio. € herabgesetzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 78).
  • Um die Senkung der Zulassungskosten für die Emittenten zu ermöglichen, soll der neue § 32 Abs. 2a BörsG den Börsen mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Zulassungsvoraussetzungen in Teilbereichen des regulierten Marktes gewähren (s. RefE ZuFinG, S. 85); flankiert wird diese Änderung durch eine Anpassung des § 8 Satz 3 WpPG (s. RefE ZuFinG, S. 84).
  • Die Haftungsvorschriften für Schwarmfinanzierungsdienstleister in §§ 32c, 32d, 32e WpHG sollen an die Parallelregelungen in §§ 11, 13 WpPG, § 22 VermAnlG angeglichen werden (s. RefE ZuFinG, S. 80).
  • Sicherlich zur Freude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sollen die Möglichkeiten der offenen Immobilienfonds, Infrastrukturfonds und Spezialfonds mit festen Anlagebedingungen, im Bereich des Grundstückserwerbs und des Betriebs von Energieanlagen zu investieren, erweitert werden, um die Energiewende mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zu flankieren (s. die Änderungen der §§ 231, 260b KAGB und RefE ZuFinG, S. 56, 137 ff.).
  • Im Blickfeld des Referentenentwurfs liegt auch WpÜG, das an einigen Stellen geändert werden soll (s. RefE ZuFinG, S. 80 ff.). Insbesondere soll die Kommunikation mit der BaFin künftig ausschließlich elektronisch erfolgen (s. §§ 36, 37, 45 WpÜG-E).

Recht der Finanzmarktaufsicht

  • Elektronische Behördenkommunikation ist ferner Gegenstand der § 16m FinDAG-E, § 5 KWG-E, § 310a VAG-E, §§ 7b, 53, 223 KAGB-E, §§ 4a, 10, 11, 19, 25, 26, 34, 38, 39, 60, 61 ZAG-E und § 42a SAG-E.
  • Die Kommunikation mit der BaFin soll künftig auch in englischer Sprache geführt werden dürfen (s. § 4j FinDAG-E, § 19 Abs. 5a KAGB-E, § 10 Markzugangsangaben-VO-E, § 41 Abs. 1a SAG-E, § 2 Abs. 3 Inhaberkontroll-VO-E).
  • Im KWG sollen Vorgaben zur Kryptoverwahrung (schon mit Blick auf die MiCAR, s. RefE ZuFinG, S. 55 und 119 f.) und Regelungen zur DLT-Pilotregelung nach der Verordnung (EU) 2022/858 eingeführt werden (s. RefE ZuFinG, S. 121 f.). Die DLT-Pilotenregelung ist auch Gegenstand der §§ 78a ff. WpIG (s. RefE ZuFinG, S. 135 f.).

Zahlungsdiensterecht

  • Um die Vorgaben des Art. 106 PSD II eindeutig umzusetzen, soll der neue § 62a ZAG die Regelungen über die kollektive Verbraucherinformation gesetzlich verankern (s. RefE ZuFinG, S. 135).
  • Die Vorschriften über den Betrieb von Vergleichswebsites für Zahlungskonten in §§ 16 ff. ZKG sollen ergänzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 128 ff.).

Steuerrecht

  • Die Änderungen des Einkommensteuerrechts und des Vermögensbildungsgesetzes sollen Anreize für die Investition in Aktien verbessert werden (s. RefE ZuFinG, S. 109 ff. und S. 142).
  • Um eine Wettbewerbsgleichheit mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sollen die deutsche Kreditwirtschaft und die Investmentfonds durch Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes entlastet werden (s. RefE ZuFinG, S. 113 f.).

AGB-Recht

Last but not least: Ein neuer § 310 Abs. 1a BGB soll die AGB-Inhaltskontrolle der Geschäfte im bank- und kapitalmarktrechtlichen Bereich einschränken (s. dazu RefE ZuFinG, S. 76 ff.; im Vorfeld des Entwurfs etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 8 ff.).

Ausblick

Für die diskussionsfreudige unternehmensrechtliche Community ist der Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes ein verspätetes Ostergeschenk. Die „Aktiengesellschaft“ wird die Debatte um das Zukunftsfinanzierungsgesetz aktiv begleiten.

Gesetz zur virtuellen HV – mehr Schein als Sein

Das Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen hat die letzten wichtigen Etappen des Gesetzgebungsverfahrens bewältigt: Expertenanhörung im Rechtsausschuss am 22.6.2022, Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1.7.2022, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 6.7.2022, zweite und dritte Lesung im Bundestag am 7.7.2022. Wer die Anhörung im Rechtsausschuss verfolgt hat, durfte den Eindruck gewinnen, dass der dort diskutierte Regierungsentwurf nicht nur an punktuellen, sondern an sehr grundsätzlichen, konzeptionellen Mängeln leidet. Deutlich zu spüren war deshalb auch die Sorge der Parlamentarier, mit dem neuen virtuellen Format eine Karteileiche zu schaffen – ähnlich wie früher schon mit den Vorschriften zur Online-Teilnahme, zum Aktionärsforum, zur Geschäftsordnung der HV und einigen anderen mehr. Dessen ungeachtet hat auch der Rechtsausschuss die Eckpfeiler des Gesetzes nicht mehr angetastet (sie dürfen als bekannt gelten, siehe hierzu meine Blog-Beiträge vom 15.2.2022 zum RefE und vom 28.4.2022 zum RegE). Nur kleinere Änderungen haben sich auf den letzten Metern noch ergeben:

Rechtsgrundlage

Es bleibt dabei, dass das virtuelle Format nur für einen Übergangszeitraum bis zum Herbst 2023 unmittelbar kraft Gesetzes genutzt werden darf (entscheidend ist die Einberufung der HV spätestens am 31.8.2023). Danach steht es nur noch zur Verfügung, wenn die Satzung es vorschreibt oder den Vorstand entsprechend ermächtigt – jeweils für eine Dauer von maximal fünf Jahren. Abweichend vom Regierungsentwurf ist aber nicht mehr vorgesehen, dass die Satzung bestimmte Beschlussgegenstände vom virtuellen Format ausnehmen, sprich: sie einer herkömmlichen Präsenzversammlung vorbehalten kann. Der Gesetzgeber kehrt damit zurück zum breiteren Ansatz des Referentenentwurfs. Dieser Schritt soll laut dem Ausschussbericht die Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung hervorheben. Überdies wurde offenbar erkannt, dass eine Beschränkung der Beschlussgegenstände für virtuelle Versammlungen auf europarechtlich vermintes Gelände geführt hätte – mit Blick auf das Recht der Aktionäre aus Art. 6 der EU-Aktionärsrechte-RL, eine Ergänzung der Tagesordnung zu verlangen.

Doppeltes Rederecht

Das Rederecht der Aktionäre wird weiterhin doppelt verwirklicht: im Vorfeld der virtuellen HV per Stellungnahme, die vorab übermittelt und veröffentlicht wird, sowie während der HV per Live-Redebeitrag. Neu ist, dass die Stellungnahme im Vorfeld nur noch ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären angeboten werden muss. Außerdem, dass die Gesellschaft sie nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zugänglich machen muss und dies auch über die Internetseite eines Dritten geschehen darf. Das eröffnet die Möglichkeit, hierfür das zugangsbeschränkte HV-Portal zu nutzen, das sich üblicherweise auf der Internetseite eines Dienstleisters befindet. Schließlich ist auch neu, dass die Gesellschaft sich in der Einberufung vorbehalten darf, einen Live-Redebeitrag während der HV von einem Funktionstest abhängig zu machen. Schlägt dieser Test fehl, darf die Gesellschaft den Redebeitrag zurückweisen. Dies begrenzt dann nicht nur die Rechtsfolgen etwaiger Funktionsstörungen (Stichwort: Anfechtungsausschluss). Die Gesellschaft wird vielmehr in die Lage versetzt, Funktionsstörungen während der virtuellen HV vorzubeugen – auch im Interesse der (anderen) Aktionäre an einem geordneten Versammlungsablauf.

Doppeltes Fragerecht

Auch das Fragerecht bleibt ein doppeltes. So jedenfalls, wenn der Vorstand den Aktionären aufgibt, ihre Fragen schon im Vorfeld der virtuellen HV einzureichen. Diese Option war aus Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorzug des virtuellen Formats unter Geltung des COVMG. Sie schaffte Raum dafür, Fragen zur weiteren Bearbeitung entweder nach Themenkomplexen oder nach Urhebern zu bündeln, im Zusammenhang zu antworten und sachgerechte Schwerpunkte zu setzen. Das neue virtuelle Format jedoch gewährt diesen Vorzug nur noch um den Preis, dass die Gesellschaft die vorab eingereichten Fragen nicht erst in der HV aufgreift, sondern samt schriftlicher Antworten schon vorher veröffentlicht. Dies mit der Folge, dass der Vorstand in der HV keine mündlichen Auskünfte mehr erteilen muss – einerseits. Andererseits kann diese Vorgabe die Anforderungen an Vollständigkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit der Antworten erhöhen, überlässt dem Fragesteller den Erstzugriff auf kritische Themen und degradiert die mündliche Vorstandsrede am Versammlungstag vom Auftakt zum Schlusspunkt des kommunikativen Prozesses.

Nach- bzw. Rückfragen zu den (vorab) erteilten Antworten bleiben in der HV allerdings statthaft. Jeder angemeldete Aktionär kann sie stellen, sowohl zu eigenen als auch zu fremden Ausgangsfragen. Auch bleibt es beim Ansatz des Regierungsentwurfs, dass die Aktionäre während der virtuellen HV erstmalige Fragen noch zu solchen Sachverhalten stellen dürfen, die sich erst kurzfristig ergeben haben und daher vorab nicht berücksichtigt werden konnten.

Wieder entfallen ist hingegen das noch weitergehende Aktionärsrecht, bei ausreichender Restzeit sogar noch längst bekannte Sachverhalte erstmalig in der HV zu thematisieren. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis wenig ändern. Denn es bleibt dabei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Nach- oder Rückfrage im Zweifel weit verstanden wissen möchte. Die Gesellschaft trägt daher das Risiko, die (ggf. nur lockere) Verbindung zu einer Ausgangsfrage zu übersehen. Das ist umso wahrscheinlicher, je breiter das Spektrum der Ausgangsfragen ausfällt und je allgemeiner diese gefasst sind. Außerdem können findige Aktionäre unschwer argumentieren, ein Altsachverhalt sei erst kürzlich (erneut) in der Presse, in einem Internetforum oder auch im just gehaltenen Redebeitrag eines Mitaktionärs aufgegriffen worden – was ihn in einem neuen Licht erscheinen lasse und daher den Aktionären ein uneingeschränktes Fragerecht in der virtuellen HV eröffne.

Immerhin: Den Vorstandsbericht muss die Gesellschaft nur dann vorab veröffentlichen, wenn sie die Aktionäre mit ihren Fragen im Ausgangspunkt tatsächlich in das Vorfeld der HV verweist.

Doppeltes Antragsrecht

Das doppelte Antragsrecht des Regierungsentwurfs – sowohl vor als auch während der virtuellen HV – bleibt nahezu unberührt. Neu ist nur, dass spontane Anträge und Wahlvorschläge während der HV in jedem Fall mündlich zu stellen sind, nämlich per Videokommunikation. Damit entfällt die Option einer elektronischen Antragstellung per Knopfdruck. Zugleich wird der Antragsteller zeitlich auf die „Aussprache“ verwiesen. Er kann also seine Anträge nicht schon während der Eröffnung oder der Verlesung der Regularien stellen. Ebenso wenig während der Vorstandsrede, des Berichts des Aufsichtsrats, einer Abstimmung oder einer Beschlussfeststellung. Im Ausschussbericht heißt es hierzu, das Antragsrecht werde auf diese Weise dem Mündlichkeitsprinzip der Präsenzversammlung nachgebildet. Dies auch mit der Folge, dass die Einbringung von Anträgen für alle Versammlungsteilnehmer transparent sei. Dem entspricht es, dass das Gesetz an anderer Stelle das Live-Rederecht nicht nur auf etwaige (Nach-)Fragen erstreckt, sondern ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge.

Zu kurz gesprungen

Gemessen am Regierungsentwurf sind all diese Punkte wichtige Fortschritte. Sie ändern aber nichts an dem Befund, dass das neue virtuelle Format kaum mehr ist als eine (schlechte) Kopie der Präsenzversammlung – mit einigen zusätzlichen Hindernissen und Fallstricken für die Unternehmen als Zugabe.

Insbesondere bleibt es dabei, dass die Aktionäre ein doppeltes Rederecht, ein doppeltes Fragerecht und ein doppeltes Antragsrecht erhalten. Der Aufsichtsrat muss sich, trotz seiner traditionell passiven Rolle in der HV, im Regelfall in voller Besetzung vor Ort einfinden. Das ist schon bei Präsenzversammlungen schwer verständlich, bei virtueller HV aber gänzlich sinnlos. Und es werden zahlreiche neue Detailfragen aufgeworfen, bis zu deren gerichtlicher Klärung viele Jahre vergehen dürften – anders als unter dem COVMG nunmehr mit vollem Anfechtungsrisiko. All das macht das neue virtuelle Format aus Sicht vieler Unternehmen wenig attraktiv. Das gilt umso mehr, als das erklärte weitere Reformziel, die virtuelle HV zu „entzerren“, erkennbar verfehlt worden sein dürfte.

Als Anreiz zur Nutzung des virtuellen Formats bleiben damit in erster Linie die niedrigeren Kosten. Nur dürfte der Gesetzgeber auch insoweit einem (Kalkulations-)Irrtum aufsitzen: Erstens müssen die Anbieter der digitalen Infrastruktur ihre Tools an den neuen, deutlich anspruchsvolleren Rechtsrahmen anpassen. Und zweitens werden nicht wenige (auch große) Gesellschaften künftig wohl wieder in Präsenz tagen; es schrumpft also der Kreis der Abnehmer für digitale Lösungen. Beides bleibt gewiss nicht ohne Auswirkungen auf die Preise, zu denen das Produkt „virtuelle HV“ künftig am Markt zu haben sein wird.

ESG-Aktivismus – gekommen, um zu bleiben?

Die USA und allen voran der Bundesstaat Delaware sind schon seit vielen Jahren Exportweltmeister gesellschaftsrechtlicher Rechtsfiguren. Etliche dieser legal transplants (Watson, Legal Transplants, 1974; Fleischer, NZG 2004, 1129) wurden bereits in die „Anatomie“ des deutschen Aktienrechts (angelehnt an Kraakman et al., The Anatomy of Corporate Law) eingepflanzt. Eine maßgebliche Triebfeder dieser Entwicklungen ist die US-amerikanische Finanzbranche: Trends der Wall Street finden früher oder später ihren Weg zum deutschen Kapitalmarkt; ein Paradebeispiel sind die seit kurzem wieder populären SPACs (dazu Fuhrmann, ZBB 2021, 390 und Fuhrmann, AG 2022, R91).

Der jüngste US-Exportschlager lautet: ESG-Aktivismus. Dabei handelt es sich um eine Spielart des shareholder activism. Bei diesem versucht ein Minderheitsaktionär, auf die Strategie eines börsennotierten Unternehmens Einfluss zu nehmen. Sein Ziel ist in der Regel die Steigerung des Börsenkurses und damit des Wertes seiner Beteiligung. Ansatzpunkt für die Hebung von Wertschöpfungspotentialen sind beim ESG-Aktivismus an den ESG-Kriterien (environmental, social, governance) ausgerichtete Maßnahmen.

Seinen großen Durchbruch erlebte der ESG-Aktivismus in den USA mit der erfolgreichen Kampagne von Engine No. 1 bei Exxon Mobil. Mit der Unterstützung zahlreicher institutioneller Investoren konnte der mit nur 0,02 % beteiligte Hedgefonds drei board-Sitze auf der Hauptversammlung 2021 erringen. In den letzten Monaten sind nun – wie bereits zuvor vom Schrifttum prognostiziert (Döding, AG 2021, R249, R250; Jaspers, AG 2022, 145, 149 ff.) – auch deutsche Aktiengesellschaften zum Ziel von ESG-Kampagnen geworden. Besondere Aufmerksamkeit haben zuletzt zwei ESG-Kampagnen „grüner“ Aktivisten erregt.

(Keine) Transparenz der klimabezogenen Lobbytätigkeiten bei VW

Eine der beiden ESG-Kampagnen nahm Volkswagen ins Visier. Die vom Church of England Pension Board (CEPB) angeführte Investorengruppe forderte, dass das Unternehmen zukünftig die Berichterstattung auf die Aktivitäten des Konzerns zur klimabezogenen politischen Interessenvertretung ausweitet. Nachdem entsprechende Gespräche mit dem Vorstand ergebnislos verlaufen waren, stellten die Investoren im Vorfeld der Jahreshauptversammlung 2022 ein Ergänzungsverlangen (§ 122 Abs. 2 Satz 1 AktG). Danach sollte eine entsprechende Berichtspflicht in der VW-Satzung verankert werden. Diese sollte u.a. die Darstellung sämtlicher Lobbyaktivitäten umfassen, die die Konzerngesellschaften direkt oder indirekt in Bezug auf den Klimawandel verfolgen oder unterstützen, sowie deren Auswirkungen auf die Risikoexposition des VW-Konzerns in Bezug auf den Klimawandel. Diese Transparenzforderungen der Investoren verwundern wenig: Mit ihrem Global Standard on Corporate Climate Lobbying haben AP7, BNP Paribas Asset Management und CEPB jüngst ein deutliches Zeichen gesetzt. Dem spürbar gewachsenen Bewusstsein von Aktionären für ESG-Anliegen zum Trotz machte Volkswagen das Ergänzungsverlangen allerdings nicht bekannt. Die vorgeschlagene Satzungsänderung sei gesetzlich nicht vorgesehen und greife in unzulässiger Weise in die Leitungsautonomie des Vorstands aus § 76 Abs. 1 AktG ein (dazu ausführlich Fuhrmann/Röseler, AG 2022, R153). In der Hauptversammlung am 12.5.2022 haben die Aktionäre somit nicht über die Transparenzpflicht hinsichtlich klimabezogener Lobbytätigkeiten des Unternehmens abgestimmt.

(Kein) Brownspinning bei RWE

Im letzten Jahr erhob Enkraft Capital gegenüber RWE die Forderung, die Braunkohlesparte abzuspalten und sich auf erneuerbare Energien zu konzentrieren. Eine solche Abtrennung von emissionsintensiven Geschäftsbereichen und Vermögensgegenständen wird als Brownspinning bezeichnet. Die Kampagnenthese des Aktivisten war, das Brownspinning senke den Bewertungsabschlag gegenüber den ausschließlich auf erneuerbare Energien fokussierten Energieversorgern und steigere so den Börsenkurs der RWE-Aktie. Da bilaterale Gespräche mit dem Vorstand aus Sicht von Enkraft ohne konkrete Fortschritte verliefen, stellte der mit lediglich 0,03 % beteiligte aktivistische Aktionär am 18.3.2022 ein Ergänzungsverlangen. Danach sollte der Vorstand nach § 83 Abs. 1 Satz 1 AktG angewiesen werden, einen konkreten Plan für die Abspaltung auszuarbeiten und die Vorbereitung der Umsetzungsmaßnahmen auf der Hauptversammlung 2023 zu präsentieren. Anders als im Fall von VW schaffte es der Antrag auf die Tagesordnung. Gleichwohl blieb dem ESG-Aktivismus erneut kein Erfolg vergönnt: Der Brownspinning-Vorschlag wurde auf der Hauptversammlung am 28.4.2022 mit einer überwältigenden Mehrheit von 97,56 % der Stimmen abgelehnt. Insbesondere die kommunalen Aktionäre von RWE hatten sich bereits im Vorfeld gegen die aktivistische Kampagne positioniert. Als Ursache des vorläufigen Scheiterns des Brownspinning-Vorschlags fallen drei Erklärungsansätze ins Auge: (1) Die mangelnde Unterstützung der institutionellen Investoren und Stimmrechtsberater, (2) die positive Bewertung der bisherigen Unternehmensstrategie durch den Kapitalmarkt sowie (3) der Zielkonflikt aus den zahlreichen widerstreitenden stakeholder-Interessen im Rahmen des Kohleausstiegs (zur ausführlichen Analyse dieser ESG-Kampagne demnächst Fuhrmann/Döding im AG-Report 12/2022).

Nur die Spitze des Eisbergs

Ist der ESG-Aktivismus damit in Deutschland gescheitert? Wohl kaum – die Bedeutung einer nachhaltigen Unternehmensführung für die Kapitalmarktbewertung wird mit Blick auf die anstehende europäische Transparenzregulierung in den kommenden Jahren immer stärker und schneller zunehmen. Vor allem aber sind die beiden ESG-Kampagnen nur die Spitze des Eisbergs: Aktivistische Aktionäre suchen typischerweise zunächst den vertraulichen Dialog mit dem Vorstand. Nur im Ausnahmefall erwächst daraus eine öffentliche Kampagne. Die praktische Bedeutung des ESG-Aktivismus dürfte damit weit über die beiden publik gewordenen Fälle hinausreichen.

In rechtspolitischer Hinsicht bleibt es mit Spannung zu erwarten, ob zukünftig ein höherer Mitwirkungsgrad der Aktionäre bei Nachhaltigkeitsfragen (Say on Climate) seinen Weg ins Aktienrecht finden wird (de lege lata ablehnend Harnos/Holle, AG 2021, 853, 856 ff.; de lege ferenda kritisch Jaspers, AG 2022, 145, 151; zumindest eine Anregung im Corporate Governance Kodex befürwortend VGR, AG 2022, 239, 243). Mit Blick auf den „Gestaltungseifer der europäischen Institutionen“ (Jaspers, AG 2022, 145, 151) wird die EU dieses Mal wohl kaum die Etablierung eines US-amerikanischen Vorbilds abwarten wollen, um dieses anschließend als legal transplant zu übernehmen.

Ausführlichere Report-Beiträge zu beiden ESG-Kampagnen erscheinen in der AG (vgl. Fuhrmann/Röseler, AG 2022, R153).