Der Streitwert hat im Prozess mehrere Funktionen. Warum auf die Streitwertermittlung gleich am Anfang Wert gelegt werden sollte und warum die Neuauflage des Streitwert-Kommentars dabei helfen kann, klärt das Interview mit dem Herausgeber und Autor VorsRiOLG Ralf Kurpat.

Verlag: Vor Kurzem ist der neue Streitwertkommentar erschienen, bei dem Sie als Mitherausgeber und Autor maßgeblich mitgewirkt haben. Der Streitwert gilt nicht unbedingt als ‚das Steckenpferd‘ vieler Richter und Anwälte.

 Kurpat: Es stimmt, die Bedeutung des Streitwertes wird in der Praxis häufig unterschätzt. Dabei ist oft schon zu Beginn der Auseinandersetzung eine Festlegung notwendig, um die sachliche Zuständigkeit beurteilen zu können. Fehler in diesem Stadium des Verfahrens sind mit einem höheren Bearbeitungsaufwand und meist mit zusätzlichen Kosten verbunden, etwa infolge der Anrufung eines unzuständigen Gerichts. Denken Sie beispielsweise an die Stufenklage und die damit verbundene Frage, ob die Werte der einzelnen Stufenanträge zu addieren sind.

Zudem erlaubt erst die zutreffende Ermittlung des Gebührenstreitwertes eine annähernd sicherere Einschätzung des mit dem Verfahren verbundenen Kostenanfalls. Dieser wird regelmäßig das Ob und Wie der Prozessführung beeinflussen, beispielsweise durch eine taktische Beschränkung des Klagebegehrens oder den Abschluss eines möglicherweise kostensparenden Prozessvergleichs. Für Richter gilt ähnliches. Eine richtige Kostenverteilung, ob nun im Urteil oder in einem Vergleichsvorschlag, setzt eine zutreffende Bestimmung des Gebührenstreitwertes voraus. Niemand möchte, dass eine Einigung in der Sache an der Unsicherheit über den richtigen Streitwert scheitert.

In gleicher Weise bedeutsam ist die Frage, ob eine nachteilige gerichtliche Entscheidung der Anfechtung unterliegt. Kein Anwalt möchte erst durch den Hinweis des Rechtsmittelgerichts erfahren, dass seine Berufung mangels ausreichender Beschwer unzulässig ist. Die Beschwer, etwa bei der Verurteilung zur Auskunftserteilung oder Rechnungslegung, ist jedoch nur unter Auswertung der hierzu ergangenen Rechtsprechung sicher zu bestimmen. Diese Arbeit nimmt einem der Streitwertkommentar ab.

Der Stellenwert einer zutreffenden Wertfestsetzung kann Anwälten gegenüber nicht oft genug betont werden. Richtet sich doch die Vergütung ihrer Tätigkeit nach dem Gebührenstreitwert. Wird dieser fehlerhaft zu niedrig angesetzt, sind empfindliche Gebühreneinbußen die Folge, und das trotz hervorragender anwaltlicher Arbeit. Umgekehrt kann eine überhöhte Bewertung den eigenen Mandanten spätestens in der Kostenfestsetzung mit unberechtigten Gerichts- und Anwaltskosten der Gegenseite belasten.

Verlag: In den meisten Fällen gibt es für den Streitwert ähnlich gelagerte Fälle aus der Rechtsprechung, an denen man sich orientieren könnte. Reicht das nicht aus?

Kurpat: Erfahrene Juristen wissen, dass die Lektüre einzelner Gerichtsentscheidungen nur selten eine sichere Beantwortung juristischer Fragestellungen erlaubt. Es ist die Aufgabe gerade von Kommentaren, einen Überblick über Rechtsprechung und Literatur zu verschaffen, die Relevanz einzelner Entscheidungen zu bewerten und dem Leser die Herausarbeitung der maßgeblichen Aspekte zu erleichtern. Für den Streitwertkommentar gilt nichts anderes. Hier finden Sie nicht nur die einen ähnlichen Fall betreffende Entscheidung, sondern zugleich die übergeordneten Bewertungsansätze und mit ihnen das entscheidende Argument für den eigenen Fall.

Verlag: Hilft in vielen Fällen nicht schon ein ZPO-Kommentar weiter?

 Kurpat: ZPO-Kommentare vermitteln, vor allem zu § 3 ZPO, oft eine gute erste Orientierung, häufig aber nur zum Zuständigkeitsstreitwert. Die für den Gebührenstreitwert maßgeblichen Sonderregelungen des GKG, denken Sie nur an mietrechtliche Streitigkeiten, werden allenfalls kursorisch gestreift. Zudem ist eine umfassende Darstellung von Bewertungsproblemen in diesem Rahmen ohnehin nicht möglich, vielmehr aus platztechnischen Gründen eine Begrenzung auf einzelne Stichwörter unvermeidbar. Diesen Beschränkungen unterliegt der Streitwertkommentar nicht. Die nötige Tiefe der Auseinandersetzung kann nur ein auf dieses Thema spezialisiertes Werk schaffen. Zudem finden Sie hier bei dem jeweiligen Stichwort eine systematische Ordnung für die Zuständigkeitsbestimmung, Gebührenberechnung und Rechtsmittelbeschwer. Das erlaubt jederzeit eine schnelle Orientierung.

Verlag: Tut sich im Streitwertrecht wirklich so viel Neues, dass die Anschaffung einer Neuauflage des Streitwertkommentars gerechtfertigt ist?

Kurpat: Zunächst darf nicht übersehen werden, dass die letzte Auflage bereits vor sechs Jahren erschienen ist. Das ist für das Streitwertrecht ein langer Zeitraum. Es waren daher viele Neuerungen zu berücksichtigen. Allein das Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 führt zu neuen Bewertungen, die sich in vielen Berechnungsbeispielen wiederfinden. Hinzu kommen Gesetzesänderungen, die mittelbar Folgen für die Streitwertbestimmung haben, denken Sie etwa an das Wohneigentumsmodernisierungsgesetz (WEMoG). Zugleich gibt es Themen, die aufgrund neuester Entwicklungen aufzunehmen oder aber ganz neu zu bearbeiten waren. Beispielhaft möchte ich die Stichwörter Anlageberatung, Datenschutzrechtliche Ansprüche, Musterfeststellungsklage, Offenlegung nach § 335 HGB, Marken- und Patentrecht, Rechtsanwaltsgebühren bei Einigung und Rechtsmittel nennen. Schließlich war die Auswertung und Einarbeitung der Fülle neuer wichtiger Gerichtsentscheidungen zur Streitwertbestimmung bei dieser Auflage ein enormer Kraftakt.

Verlag: Viele Praktiker arbeiten digital. Wie steht es damit beim Streitwertkommentar?

Kurpat: Sehr gut. Sie finden den Streitwertkommentar einmal über juris. Für die Richterschaft ist der Zugriff über ein Zusatzmodul möglich; für die Bundesländer sicher eine gute Anschaffung. Aber auch in das verlagseigene Modul des Otto Schmidt Verlages „Zivil- und Zivilverfahrensrecht“ wurde das Werk ganz frisch aufgenommen. Ein Vorteil der digitalen Nutzung liegt bestimmt in der inzwischen gewohnten Verlinkung von Entscheidungen. Zudem können die Muster des verfahrensrechtlichen Teils der Kommentierung aus der Online-Ausgabe für die eigene Verfahrensführung schnell übernommen werden. Für die Zukunft beabsichtigen die Autoren, auf besonders bedeutsame Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderungen in der elektronischen Ausgabe zu reagieren. So wird auch zwischen den Auflagen auf wichtige Neuerungen aufmerksam gemacht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Reichweite der Kostenregelung in einem Prozessvergleich

Prozessvergleich im Hauptsacheverfahren nach Kostenentscheidung im selbständigen Beweisverfahren
Beschluss vom 27. Oktober 2021 – VII ZB 7/21

Mit dem Verhältnis zwischen § 494a Abs. 2 und § 98 Satz 2 ZPO befasst sich der VII. Zivilsenat.

Der Antragsteller hatte in einem selbständigen Beweisverfahren die Begutachtung eines Bauwerks im Hinblick auf geltend gemachte Planungsfehler des Antragsgegners beantragt. Nach Einholung des Gutachtens forderte das LG den Antragsteller auf, innerhalb von sechs Wochen Klage zu erheben. Nach fruchtlosem Ablauf der Frist legte es dem Antragsteller gemäß § 494a Abs. 2 ZPO die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens auf. Kurz darauf beantragte der Antragsgegner Kostenfestsetzung. Rund einen Monat später erhob der Antragsteller Klage auf Zahlung von Schadensersatz wegen der im Beweisverfahren geltend gemachten Mängel. Dieser Rechtsstreit endete durch einen gerichtlichen Vergleich, der unter anderem vorsieht, dass der Antragssteller die Kosten des Rechtsstreits zu 9/10 trägt. Nach Abschluss des Vergleichs setzte das LG die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens antragsgemäß gegen den Antragsteller fest. Dieser focht die Entscheidung nicht an. Etwas mehr als sechs Monate später hob das LG den Kostenfestsetzungsbeschluss von Amts wegen auf, weil der Beschluss die im Hauptsacheverfahren getroffene Kostenregelung nicht berücksichtige. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Aufhebungsbeschluss blieb erfolglos.

Der BGH stellt den aufgehobenen Kostenfestsetzungsbeschluss wieder her.

Der BGH lässt offen, ob ein Beschluss über die Kosten eines selbständigen Beweisverfahrens gegenstandslos wird oder von Amts wegen aufzuheben ist, wenn in einem nachfolgende Hauptsacheverfahren eine von der Kostengrundentscheidung im Beweisverfahren abweichende Kostenregelung ergeht. Dem im Streitfall geschlossenen Prozessvergleich ist eine solche Regelung abweichend von der Auffassung der Vorinstanzen jedenfalls nicht zu entnehmen.

Aus der Regelung in § 98 Satz 2 Halbsatz ZPO ergibt sich, dass eine rechtskräftige Kostenentscheidung durch einen Vergleich nur dann abgeändert wird, wenn die Parteien dies ausdrücklich vorsehen. Im Streitfall bezieht sich der Wortlaut des Vergleichs nur auf die Kosten des Rechtsstreits. Ob hierzu die Kosten eines vorangegangenen selbständigen Beweisverfahrens gehören, obwohl in diesem Verfahren bereits eine rechtskräftige Kostengrundentscheidung ergangen ist, war in Literatur und Rechtsprechung nicht geklärt. Deshalb kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die Parteien diese Kosten mit der verwendeten Formulierung in die getroffene Regelung einbeziehen wollten. Besondere Anhaltspunkte, die eine andere Auslegung stützen könnten, sind nicht ersichtlich.

Praxistipp: Um Unsicherheiten zu vermeiden, empfiehlt es sich, die Kosten des selbständigen Beweisverfahrens im Vergleich ausdrücklich anzusprechen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Wirkungen eines prozessualen Anerkenntnisses

Berufungserweiterung nach Anerkenntnis
Urteil vom 19. Oktober 2021 – VI ZR 1173/20

Mit den Voraussetzungen für die Erweiterung einer zunächst auf einen Teil des Streitgegenstands beschränkten Berufung befasst sich der VI. Zivilsenat.

Das klagende Eisenbahnverkehrsunternehmen begehrt von den Beklagten Schadensersatz in Höhe von rund 315.000 Euro wegen eines Verkehrsunfalls, bei dem ein Omnibus und ein Zug an einem Bahnübergang kollidiert waren. Das LG wies die Klage ab. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin zunächst nur die Zahlung von rund 20.800 Euro wegen Schäden an einem Doppelstockwagen geltend gemacht. Diesen Anspruch hat die Beklagte nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist anerkannt. Die Klägerin beantragte daraufhin, die Beklagte über den anerkannten Betrag hinaus im vollen Umfang der erstinstanzlichen Anträge zu verurteilen. Das OLG sprach der Klägerin lediglich den anerkannten Betrag zu und lehnte eine Entscheidung über den restlichen Betrag mangels Rechtshängigkeit ab.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg und führt hinsichtlich des nicht anerkannten Teils der Klageforderung zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Entgegen der Auffassung des OLG schloss das Anerkenntnis die Geltendmachung weiterer Ansprüche im Berufungsverfahren nicht aus. Ein prozessuales Anerkenntnis führt nicht zur Beendigung des Rechtsstreits. Diese tritt erst mit dem Erlass eines Anerkenntnisurteils ein. Die Klägerin durfte deshalb ungeachtet des Anerkenntnisses ihre Berufungsanträge nach Maßgabe der allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen erweitern.

Der Umstand, dass die Klägerin das erstinstanzliche Urteil zunächst nur hinsichtlich eines Teils des Streitgegenstands angefochten hatte, stünde einer Erweiterung der Anträge nur entgegen, wenn darin ein konkludenter Verzicht auf ein weitergehendes Rechtsmittel zu sehen wäre. Diesbezügliche Anhaltspunkte lagen im Streitfall schon deshalb nicht vor, weil sich die Klägerin eine Erweiterung des Berufungsantrags ausdrücklich vorbehalten hatte.

Eine Erweiterung des Berufungsantrags ist auch nach Ablauf der Frist für die Berufungsbegründung zulässig, soweit der erweiterte Antrag durch die fristgerecht eingereichte Begründung gedeckt ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt, weil die Angriffe in der Berufungsbegründung der Argumentation des LG hinsichtlich des gesamten Streitgegenstands den Boden entziehen.

Praxistipp: Um Unsicherheiten zu vermeiden, empfiehlt es sich, eine auf einen Teil des Streitgegenstands beschränkte Berufungsbegründung mit dem ausdrücklichen Vorbehalt einer späteren Erweiterung zu versehen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Regelungen über die gestörte Gesamtschuld in einem Altfall

Übergang des Direktanspruchs gegen den Kfz-Haftpflichversicherer auf den Sozialversicherungsträger
Urteil vom 7. Dezember 2021 – VI ZR 1189/20

Mit dem Verhältnis zwischen § 116 Abs. 6 SGB X aF und § 116 Abs. 1 VVG befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenversicherung. Ein bei ihr versichertes Kleinkind war bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden. Fahrerin und Alleinverursacherin des Unfalls war die Mutter des Kindes, Halterin des Fahrzeugs die Großmutter. Die Klägerin verlangt von der Beklagten, bei der das Fahrzeug gegen Haftpflicht versichert war, Ersatz der entstandenen Behandlungskosten in Höhe von rund 300.000 Euro und die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller weiteren Schäden. Das LG wies die Klage ab, das OLG gab ihr statt.

Die Revision der Beklagten führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Der BGH tritt den Vorinstanzen darin bei, dass ein aus der Haftung der Fahrerin resultierender Direktanspruch gegen die Beklagte aus § 115 Abs. 1 VVG nicht gemäß § 116 Abs. 1 SGB aF auf die Klägerin übergegangen ist. Der Anspruch gegen die Fahrerin ist gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X in der für den Streitfall maßgeblichen, bis 31.12.2020 geltenden Fassung nicht auf die Klägerin übergegangen, weil die Schädigerin in häuslicher Gemeinschaft mit dem geschädigten Kind lebt. Damit konnte auch der Direktanspruch gegen die Beklagte nicht übergehen. Der Kfz-Haftpflichtversicherer tritt zwar gemäß § 116 Abs. 1 VVG als Gesamtschuldner neben den Schädiger. Der Direktanspruch dient aber nur der Sicherung des Anspruchs gegen den Schädiger. Er kann deshalb nur zusammen mit diesem Anspruch übergehen.

Ein Übergang des aus der Haftung der Halterin resultierenden Ersatzanspruchs scheitert im Streitfall nicht an § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X aF, weil diese nicht in häuslicher Gemeinschaft mit dem Kind lebt. Er ist aber nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld ausgeschlossen. Im Innenverhältnis der Schädiger haftet im Streitfall allein die Fahrerin. Eine Inanspruchnahme der Halterin hätte deshalb zur Folge, dass die Fahrerin im Regresswege doch in Anspruch genommen werden könnte. Nach den etablierten Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld hat dies zur Folge, dass der Sozialversicherungsträger auch den Zweitschädiger nicht in Anspruch nehmen darf. Entgegen der Auffassung des OLG ergibt sich aus dem Umstand, dass der Kfz-Haftpflichtversicherer gemäß § 116 Abs. 1 VVG als weiterer Gesamtschuldner haftet und eine Belastung der privilegierten Schädigerin damit im Ergebnis nicht zu besorgen ist, nach der bis 31.12.2020 geltenden Rechtslage nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Auch insoweit ist ausschlaggebend, dass der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer lediglich der Sicherung des Anspruchs gegen den Schädiger dient.

Praxistipp: Bei Schadensfällen aus der Zeit ab 01.01.2021 kann der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 Abs. 6 Satz 3 SGB X nF den Ersatzanspruch auch gegen einen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Schädiger geltend machen, soweit Versicherungsschutz gemäß § 1 PflVersG besteht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Im ersten Blog des Jahres 2022 geht es um Anwendbarkeit und Inhalt der Regelungen über den Verbrauchsgüterkauf

Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf
Urteil vom 10. November 2021 – VIII ZR 187/20

Mit den Voraussetzungen des § 477 BGB befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Der Kläger ist als Immobilienmakler in der Rechtsform des Einzelkaufmanns tätig und sammelt privat ältere Fahrzeuge. Im Juni 2012 kaufte er von der Beklagten einen damals zwanzig Jahre alten Mercedes 600 SEL mit einer Laufleistung von 117.500 km für 9.350 Euro. Wegen des Zustands des Fahrzeugs verweist der Kaufvertrag auf einen zuvor eingeholten Dekra-Siegel-Bericht. Dieser führt deutliche Gebrauchsspuren an, etwa Korrosionsansätze an den Kotflügeln und eine gebrochene Fahrwerksfeder. Kurz nach Übergabe beanstandete der Kläger einzelne Mängel. Knapp sechs Monate nach Übergabe erhob er Klage auf Schadensersatz in Höhe von rund 9.500 Euro wegen insgesamt sechs Mängeln (Rost an den Kotflügeln, Durchrostung des hinteren Teils des Auspuffs, Defekte an Klimaanlage, Drosselklappe, Antenne und Abgaskatalysator). Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision des Klägers hat zum weitaus überwiegenden Teil Erfolg und führt insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Der BGH billigt die vom OLG vorgenommene Vertragsauslegung, wonach das Fahrzeug keine Durchrostungen und keine sonstigen größeren Mängel aufweisen darf, wohl aber alters- und nutzungsbedingte Verschleißschäden. Auf dieser Grundlage hat das OLG die vom Kläger geltend gemachten Rostschäden an den Kotflügeln zu Recht nicht als Sachmangel angesehen. Hinsichtlich der weiteren Schäden kann zugunsten des Klägers hingegen die Vermutungswirkung des § 477 BGB (für den Streitfall: § 476 BGB aF) greifen.

Die Vorschriften über den Verbrauchsgüterkauf sind im Streitfall anwendbar. Das OLG ist rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangt, dass sich nicht vollständig aufklären lässt, ob der Kläger das Fahrzeug im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit oder zu privaten Zwecken gekauft hat. Entgegen der Auffassung des OLG greift in dieser Konstellation nicht die in § 344 HGB normierte Regel, wonach die von einem Kaufmann vorgenommenen Rechtsgeschäfte im Zweifel als zum Betriebe seines Handelsgewerbes gehörend anzusehen sind. Maßgeblich ist vielmehr die Regel des § 13 BGB, wonach Rechtsgeschäfte einer natürlichen Person, die nicht überwiegend einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können, als Geschäfte eines Verbrauchers anzusehen sind.

Die danach maßgebliche Regelung in § 477 BGB, wonach vermutet wird, dass die Kaufsache schon bei Gefahrübergang mangelhaft war, wenn sich innerhalb von sechs Monaten ein Sachmangel zeigt, gilt für Verschleißschäden jedenfalls dann, wenn sich innerhalb der Sechsmonatsfrist ein Zustand einstellt, der nach dem Vertrag einen Mangel darstellt.

Das OLG wird deshalb klären müssen, ob das hintere Auspuffteil bereits innerhalb von sechs Monaten nach Übergabe durchrostet war, denn eine Durchrostung stellt nach der zwischen den Parteien getroffenen Beschaffenheitsvereinbarung einen Sachmangel dar.

Hinsichtlich der Rostschäden an den Kotflügeln scheiden Gewährleistungsansprüche hingegen aus, weil es sich insoweit nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts um Verschleißschäden handelt und eine Durchrostung nicht geltend gemacht ist.

Hinsichtlich der Defekte an Drosselklappe, Klimaanlage, Abgaskatalysator und Antenne muss das OLG klären, ob innerhalb der Sechsmonatsfrist ein Zustand aufgetreten ist, für den als Ursache nicht nur der übliche Verschleiß in Betracht kommt, sondern auch ein dem Verkäufer zuzurechnender Umstand. Falls die Vermutungswirkung des § 477 BGB danach zugunsten des Klägers greift, muss dieser zusätzlich beweisen, dass der während der Sechsmonatsfrist eingetretene Zustand bis zum Zeitpunkt der Ausübung der Gewährleistungsrechte und bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung bzw. einer berechtigten Selbstvornahme fortbestanden hat. Eine weitergehende Beweisführung ist jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Käufer innerhalb der Sechsmonatsfrist alle Voraussetzungen für die Entstehung des Gewährleistungsanspruchs geschaffen hat. Dieses Erfordernis ist im Streitfall erfüllt.

Praxistipp: Die Voraussetzungen für die geltend gemachten Gewährleistungsansprüche – insbesondere eine erforderliche Fristsetzung – sollten möglichst innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 477 BGB geschaffen werden.

OLG München zum Arrestgrund bei „Wirecard“

Offensichtlich wird die Justiz in München derzeit mit zahlreichen Arrestanträgen gegen den Vorstandsvorsitzenden der Firma Wirecard befasst. Es scheint teilweise widersprechende Entscheidungen zu geben. Nunmehr hat ein Fall das OLG München (Urt. v. 27.9.2021 – 3 U 3242/21) erreicht.

In diesem Fall wurde hauptsächlich um den Arrestgrund gestritten. Das OLG München ging davon aus, dass ein vorsätzliches und strafbares Verhalten des Vorstandsvorsitzenden glaubhaft gemacht war und weitergehend, dass ein solches Verhalten einen Arrestgrund indiziert (ebenso schon: Frank O. Fischer, Straftaten und Vertragsverletzungen als Arrestgrund nach § 917 ZPO, MDR 1995, 988). Diese Indizwirkung entfällt nicht schon deshalb, weil sich der Vorstandsvorsitzende derzeit in Untersuchungshaft befindet. Auch in diesem Rahmen besteht durchaus die Möglichkeit, über beauftragte Personen weitere Vermögensverschiebungen durchzuführen. Weiterhin hatte der Vorstandsvorsitzende noch vorgetragen, sein gesamtes Vermögen sei durch die Staatsanwaltschaft ohnehin bereits arrestiert worden. Dann könnte es an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Dem hält das OLG München entgegen: Von den zahlreichen Arrestverfahren hatte der Vorstandsvorsitzende durchaus einige gewonnen! Die Kostenerstattungsansprüche aus diesen Verfahren stellen Vermögen dar, das gepfändet werden könnte.

Man sollte daher hinfort folgende Grundsätze aufstellen: Begehen Schuldner vorsätzlich „konnexe“ Straftaten zum Nachteil des Gläubigers indiziert dies regelmäßig einen Arrestgrund. Konnex meint hier: Es muss ein Zusammenhang zwischen der Straftat und dem Arrestgrund bestehen, wie z. B. bei Vermögensdelikten. Wegen eines aufgrund einer Körperverletzung entstandenen Schmerzensgeldanspruchs wird regelmäßig kein Arrestgrund in das Vermögen des Schuldners bestehen.

Corona-Pandemie keine Na­tur­ka­ta­stro­phe

Dem Urteil des AG München (275 C 23753/20), das bereits am 20.5.2021 erging, ist zuzustimmen. Eine Rei­se­ab­bruch­ver­si­che­rung haf­tet bei co­ro­na­be­ding­ter An­nul­lie­rung eines Rückflu­ges nicht für die Kos­ten des Er­satz­flu­ges, da zwar nach den Versicherungsbedingungen eine Naturkatastrophe ein versichertes Ereignis ist, die Corona-Pandemie jedoch nicht als Naturkatastrophe angesehen werden kann. Der Reiseabbruch des Klägers am 27.3.2020 erfolgte während der ersten Welle der Corona-Pandemie für eine Reise, die er bereits vor der Pandemie am 27.1.2020 für die Mehrkosten einer eventuellen vorzeitigen Rückreise versicherte. Nach den abschließend im Versicherungsvertrag genannten Ereignissen bestand Versicherungsschutz zwar bei einer Na­tur­ka­ta­stro­phe, nicht aber bei einer Pandemie. 

Zutreffend ist das Gericht davon ausgegangen, dass die weltweite Corona-Pandemie seit ihrer Ausrufung am 11.3.2020 durch die WTO bis zum heutigen Tage keine Naturkatastrophe ist. Dass die Corona-Pandemie als Risiko für die menschliche Gesundheit ein unvermeidbarer außergewöhnliche Umstand im Sinne  des einheitlichen Begriffskonzeptes der EU-Passagierrechte-VO insbesondere des Art. 5 III der Fluggastrechte-VO 261/2004 darstellt, haben die Gerichte und das Schrifttum einzelfallbezogen in den Jahren 2020 und 2021 für Reisen, die vor dem Ausbruch gebucht wurden, für die Fälle des entschädigungslosen Rücktritts vom Pauschalreisevertrag weitgehend bejaht. Die Corona-Pandemie als Gesundheitsgefahr kann in den beiden Jahren nach ihrem Ausbruch sicherlich als außergewöhnlicher Umstand bzw. als höhere Gewalt angesehen werden, da sie bis heute nicht der Kontrolle der Vertragsparteien unterliegt. Eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts für das Reiseziel stellt ein starkes Indiz für das Vorliegen dieses außergewöhnlichen Umstandes dar. 

Davon zu unterscheiden sind die Beeinträchtigungen z. B. des Luftverkehrs durch die Pandemie aufgrund der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsgefahr. Diese politischen Maßnahmen sind eine Folge der Pandemie! Die dadurch verursachten Einschränkungen und behördlichen Maßnahmen wie Flugverbote sind keine unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, sondern zählen als Folge der Pandemie zur den mehr oder weniger starken Beeinträchtigen einer Reise iSd. § 651h III BGB. 

Dem Gericht ist zu folgen, dass es sich bei der Co­ro­na-Pan­de­mie wegen des Fehlens un­mit­tel­ba­rer phy­si­scher Aus­wir­kun­gen, lo­ka­lem Auf­tre­ten und zeit­li­cher Ein­gren­zung um keine ty­pi­sche Na­tur­ka­ta­stro­phe handelt. Von einer Naturkatastrophe kann doch nur ausgegangen werden bei geophysikalischen (Erdbeben, Vulkanausbrüche), meteorologischen (z. B. Stürme), hydrologischen (z. B. Überschwemmungen) und klimatologischen (z. B. Waldbrände, Dürre, Temperaturextreme) gewaltigen plötzlichen Naturereignissen. Staatliche Eingriffe auf die Um­welt, ins­be­son­de­re auf das öf­fent­li­che Leben, treten erst als Folge der staat­li­chen Schutz­maß­nah­men ein­. So ist auch die kürzlich durch das Auswärtige Amt erfolgte Hochstufung Südafrikas als Virusvariantengebiet auf Grund der Variante Omicron ein po­li­ti­scher Er­mes­sens­ak­t zur Eindämmung der Infektionsgefahr, aber für sich genommen noch kein außergewöhnlicher Umstand bzw. höhere Gewalt. 

Das Gericht weist zutreffend auch darauf hin, dass auch in zeit­li­cher Hin­sicht sich die Co­ro­na-Pan­de­mie von einer Na­tur­ka­ta­stro­phe unterscheidet. Bei eine Naturkatastrophe be­steht die Ge­fah­ren­quel­le ty­pi­scher­wei­se für einen nur be­grenz­ten Zeit­raum. Die Ge­fahr durch das Co­ro­na­vi­rus be­steht aber be­reits seit fast zwei Jahren mit verschiedenen Wellen und wird auch noch im nächsten Jahr die Welt und die Gerichte in Atem halten. 

OLG Frankfurt/M. zum rechtzeitigen Erheben der Hauptsacheklage

In einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt/M. (Beschl. v. 17.9.2021 – 6 W 79/21) hatte das Landgericht eine einstweilige Verfügung erlassen. Alsdann wurde dem Antragsteller aufgegeben, innerhalb einer Frist von drei Wochen die Hauptsacheklage zu erheben (§ 926 Abs. 1 ZPO). Diese Klage ging fristgemäß am 21. August beim LG ein, am 30. August wurde der erforderliche Vorschuss angefordert. Dieser wurde nicht gezahlt. Am 8. Oktober bestimmte das Landgericht gleichwohl Termin zur mündlichen Verhandlung. Dieser Termin wurde jedoch wegen eines Zustellungsversehens (es wurde an die Partei anstatt an den bestellten Rechtsanwalt zugestellt) wieder aufgehoben. Alsdann beantragte die Antragsgegnerin die Aufhebung der einstweiligen Verfügung nach § 926 Abs. 2 ZPO.

Daraufhin erklärte die Antragstellerin das einstweilige Verfügungsverfahren für erledigt. Die Antragsgegnerin widersprach dieser Erledigungserklärung, gleichwohl erließ das Landgericht einen Beschluss nach § 91a ZPO und legte die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens der Antragsgegnerin auf. Gegen diesen Beschluss richtete sich die sofortige Beschwerde, worüber das OLG Frankfurt/M. entscheiden musste.

Das OLG hat – völlig zu Recht – den Beschluss des Landgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landgerichts zurückverwiesen. Nachdem hier keine übereinstimmende, sondern eine einseitige Erledigungserklärung vorlag, hätte nicht durch Beschluss, sondern durch Urteil entschieden werden müssen. Insoweit liegt ein Verfahrensfehler vor. Dem OLG ist es auch verwehrt, in einer solchen Konstellation selbst zu entscheiden.

Am interessantesten sind jedoch die Erwägungen, die das OLG dem Landgericht obiter dicta mitgibt: Im Urteilsverfahren wird das Landgericht zu beachten haben, dass die Antragstellerin die Hauptsacheklage nicht rechtzeitig erhoben hat. Auch in dieser Fallgestaltung dürfen zwischen Vorschussanforderung und Zahlung desselben nur höchstens zwei Wochen vergehen. Die Antragstellerin hat damit nicht alles Erforderliche getan, um die rechtzeitige Klageerhebung sicherzustellen (§ 167 ZPO). Da die Zweiwochenfrist zu diesem Zeitpunkt abgelaufen war, vermag auch die Terminsbestimmung des Landgericht an diesem Umstand nichts mehr zu ändern.

Das Verfahren wird daher letztlich zum Nachteil der Antragstellerin ausgehen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zwangsvollstreckung zur Erwirkung von nicht vertretbaren Handlungen gegen einen prozessunfähigen Schuldner

Zwangsvollstreckung wegen vertretbarer Handlungen gegen Prozessunfähige
Beschluss vom 23. September 2021 – I ZB 20/21

Mit den Voraussetzungen des § 888 ZPO befasst sich der I. Zivilsenat.

Die Gläubigerinnen betreiben aus einem erstinstanzlichen Urteil die Zwangsvollstreckung wegen der Erteilung von Auskunft über den Bestand eines Nachlasses. Die Schuldnerin ist an Demenz erkrankt und deshalb nicht in der Lage, die Auskunft selbst zu erteilen. Sie hat ihrer Tochter und einem Dritten eine Generalvollmacht erteilt. Während des Vollstreckungsverfahrens hat das OLG änderte die Verurteilung in einzelnen Details zugunsten der Schuldnerin abgeändert. Das LG wies den Antrag auf Festsetzung eines Zwangsmittels ab. Das OLG setzte gegen die Schuldnerin ein Zwangsgeld in Höhe von 15.000 Euro fest.

Die Rechtbeschwerde der Schuldnerin hat aus formalen Gründen Erfolg und führt zur Zurückverweisung an das OLG.

Der Zwangsvollstreckungsantrag ist allerdings zulässig. Die Schuldnerin ist zwar prozessunfähig. Sie wird aber aufgrund der erteilten Generalvollmacht gemäß § 51 Abs. 3 ZPO wirksam von den beiden Bevollmächtigten vertreten.

Die Rechtsbeschwerde ist jedoch schon deshalb begründet, weil die Zwangsvollstreckung nicht mehr auf der Grundlage des erstinstanzlichen Urteils erfolgen darf, sondern nur noch auf der Grundlage des (in einzelnen Details weniger weit reichenden) zweitinstanzlichen Titels.

Auf der Grundlage des zweitinstanzlichen Urteils kommt (nur) die Festsetzung eines Zwangsgelds gegen die Schuldnerin in Betracht. Hierüber wird das OLG nach der Zurückverweisung entscheiden müssen.

Ein Zwangsgeld nach § 888 ZPO ist auch bei Prozessunfähigkeit des Schuldners stets gegen diesen festzusetzen, nicht gegen seinen Bevollmächtigten oder gesetzlichen Vertreter. Dass der Schuldner persönlich nicht in der Lage ist, die Verpflichtung zu erfüllen, macht die Erfüllung nicht unmöglich, wenn die zu erwirkende Handlung durch Hilfspersonen vorgenommen werden kann. Eine Auskunft, die ein Geschäftsunfähiger zu erteilen hat, kann von dessen Bevollmächtigten erteilt werden. Nur wenn dies nicht in Betracht kommt, muss ein Betreuer bestellt werden. Sowohl bei Vertretung als auch bei Betreuung kann ein Zwangsgeld gegen den Schuldner festgesetzt werden. Dieser kann die Hilfsperson gegebenenfalls in Regress nehmen. Die Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen einen Bevollmächtigten oder Betreuer ist nicht zulässig.

Ersatzzwangshaft und Zwangshaft können demgegenüber jedenfalls dann nicht gegen den Schuldner festgesetzt werden, wenn dieser nicht hinreichend einsichtig und steuerungsfähig ist, um die geschuldete Handlung vorzunehmen. Unter diesen Voraussetzungen kann Ersatzzwangshaft und Zwangshaft zwar gegen einen gesetzlichen Vertreter festgesetzt werden, nicht aber gegen einen Bevollmächtigten. Anders als die Bestellung zum Betreuer begründet eine Vollmacht grundsätzlich keine Pflicht, zugunsten des Vertretenen tätig zu werden.

Praxistipp: Sollte die Festsetzung von Zwangsgeld in der in Rede stehenden Konstellation nicht zum Erfolg führen, dürfte ein Betreuer zu bestellen sein, um die Möglichkeit zur Festsetzung weiterer Zwangsmittel zu schaffen und um eventuelle Regressansprüche gegen die Bevollmächtigten geltend zu machen.

Viel Dynamik im Zivilprozessrecht: Welche Gesetzesänderungen sollten Berater und Richter unbedingt kennen und warum ist die Neuauflage des Zöller besonders hilfreich? – Ein Interview von Dr. Birgitta Peters mit dem Zöller-Autor und VorsRiLG Dr. Hendrik Schultzky

Peters: Die 19. Legislaturperiode ist zu Ende gegangen. Was sind die wichtigsten Neuregelungen im Bereich des Zivilprozessrechts?

Schultzky: Der Gesetzgeber war zum Ende der Wahlperiode hin sehr aktiv und hat eine Vielzahl von Gesetzen erlassen, die das zivil- und familiengerichtliche Verfahren betreffen. Das sind nicht nur Gesetze, die Normen der ZPO oder des FamFG ändern, sondern auch solche, die mittelbar Auswirkungen auf den Zivilprozess haben. Hervorzuheben ist zunächst die „kleine ZPO-Reform“ aus dem Dezember 2019, die anlässlich des Auslaufens der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH auf den Weg gebracht wurde, aber inhaltlich ganz verschiedene Einzelfragen neu regelt.

In der Rechtspraxis besonders bedeutsam sind die Änderungen durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.10.2021. Zum 1.1.2022 wird der elektronische Rechtsverkehr durch dieses erheblich erweitert. Der Regelfall ist dann die Zustellung eines elektronischen Dokuments – und zwar nicht nur an Rechtsanwälte, sondern auch an beliebige Dritte, die über das sog. eBO – das besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach – ebenfalls am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmen können. Der Kreis der zur Teilnahme verpflichteten Teilnehmer wird dabei bis zum 1.1.2024 schrittweise erweitert.

Neben diesen eher allgemeinen Neuregelungen sind auch einzelne Verfahren erheblich geändert worden. So ist das Zwangsvollstreckungsrecht von der Reform des Pfändungsschutzkontos durch Gesetz vom 22.11.2020 und durch das Gesetz vom 7.5.2021, das die Gerichtsvollziehertätigkeit betrifft, betroffen. Das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16.6.2021 ändert nicht nur das Verfahren in Kindschaftssachen, sondern auch das Gerichtsverfassungsgesetz. Die Liste ließe sich noch eine ganze Zeit fortsetzen.

Peters: Sie haben darauf hingewiesen, dass es auch viele Rechtsänderungen mit mittelbaren Auswirkungen auf den Zivilprozess gibt. Können Sie uns relevante Beispiele nennen?

Schultzky: Die Neuregelungen im Berufsrecht der Rechtsanwälte zum 1.8.2022 werden sich auch auf den Zivilprozess massiv auswirken. Das Gesetz vom 7.7.2021 regelt die Berufsausübungsgesellschaften völlig neu und ermöglicht, dass diese über ein Kanzleipostfach kommunizieren. Hier sind etwa im Bereich der Parteifähigkeit, der Bevollmächtigung, des elektronischen Rechtsverkehrs und des Zustellungsrechts neue Antworten zu geben.

Eine künftig große Umwälzung wird auch das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts bringen, das die Gesellschaftsformen der GbR, oHG und KG völlig umgestaltet. Ab dem 1.1.2024 wird es eine eingetragene Gesellschaft bürgerlichen Rechts geben. Zwar werden dadurch einige Probleme bei der Parteibezeichnung der GbR im Zivilprozess gelöst, es stellen sich aber auch Folgefragen, z.B. hinsichtlich des Gerichtsstandes und im Vollstreckungsrecht.

Schon jetzt wirft die am 1.12.2020 in Kraft getretene Reform des Wohnungseigentumsrechts mit der Schaffung einer vollrechtsfähigen Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zahlreiche neue prozessuale Probleme auf.

Peters: Was bedeutet die Hyperaktivität des Gesetzgebers für die Neuauflage des Zöller?

Schultzky: Es ist Tradition, dass der Zöller alle zwei Jahre kurz vor dem Ende des jeweiligen Jahres erscheint. Dieser feste Rhythmus hat dazu geführt, dass die 34. Auflage Ende 2021 und damit nur wenige Monate nach dem Ende der 19. Wahlperiode des Bundestags in den Buchhandel kommt. Online gestellt wurde sie bereits Ende Oktober 2021. Der diesjährige Erscheinungstermin ist eine besondere Herausforderung gewesen, denn Verlag und Autoren waren sich darin einig, dass alle in der Legislaturperiode verabschiedeten Gesetze in der Kommentierung vollständig verarbeitet werden müssen. Und das gilt auch für die Gesetze, die erst nach Erscheinen des Zöller in Kraft treten. Da sich der Bundesrat mit einzelnen Gesetzesbeschlüssen des Bundestags erst nach der Sommerpause beschäftigt hat, hat das zu einem sehr engen Zeitplan geführt. Beispielsweise hat das bereits erwähnte Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs erst am 17.9.2021 den Bundesrat passiert und wurde im Bundesgesetzblatt vom 11.10.2021 verkündet.

Die umfassende Berücksichtigung im Zöller war nur dadurch möglich, dass Autoren und Lektorat die verschiedenen Gesetzgebungsverfahren ganz eng mit begleitet haben, oftmals bereits seit den ersten Diskussionsentwürfen. Wir konnten so für unsere endgültigen Kommentierungen bereits auf umfassende Vorarbeiten zurückgreifen. Am Ende musste dann in Tag- und Nachtsitzungen der letzte Feinschliff erfolgen.

 Peters: Wie gehen Sie als Autoren mit den Neuregelungen im Zöller ganz konkret um?

Schultzky: Zunächst sollte der Gesetzesstand zum Ende der Legislaturperiode vollständig dokumentiert werden. Das hat dazu geführt, dass sich zu einigen Vorschriften, z.B. § 53 ZPO oder § 173 ZPO, mehrere Gesetzestexte – natürlich übersichtlich angeordnet – im Werk finden. Das Datum des Inkrafttretens ist immer besonders hervorgehoben, so dass sich der Leser leicht orientieren kann. In den Kommentierungen selbst beschränken wir uns nicht darauf, auf die Neuregelungen hinzuweisen, sondern wir bieten die für den Zöller übliche vollständige und tiefgreifende Erläuterung auch aller neuen Normen an. Das gilt sowohl für die unmittelbaren als auch für die mittelbar wirkenden Gesetzesänderungen. Dem Praktiker soll so eine fundierte Hilfestellung beim Umgang mit den Neuregelungen gegeben werden. Für die von den Gerichten noch nicht entschiedenen neuen Rechtsfragen wollen wir zudem stets gut begründete Lösungen anbieten.

Peters: Neben den vielen Gesetzesänderungen – wo liegen weitere Schwerpunkte der Neuauflage des Zöller?

Schultzky: Der Zöller hat den Anspruch, die Rechtsprechung nachzuvollziehen und alle wichtigen Gerichtsentscheidungen zu nennen und einzuordnen. Das ist neben der Auswertung der Fachliteratur ein Schwerpunkt in jeder Auflage. Um eine Größenordnung zu nennen: Allein für den Bereich der Prozesskostenhilfe habe ich etwa 700 Urteile und Beschlüsse gesichtet, die in den letzten zwei Jahren veröffentlicht wurden.

Die Digitalisierung der Gesellschaft wirkt natürlich auch in den Zivilprozess hinein. Die Corona-Pandemie hat dies noch einmal ganz erheblich beschleunigt. Das beste Beispiel sind die Videoverhandlungen. Sie sind bereits seit 2002 im § 128a ZPO geregelt, wurden aber bis zum Beginn der Pandemie nur selten durchgeführt. Die Nachfrage ist dann 2020 sprunghaft gestiegen. Damit sind auch neue Rechtsfragen virulent geworden. Welche Anforderungen sind an die Übertragung zu stellen? Was ist zur Wahrung der Öffentlichkeit erforderlich? Wie ist mit einem fehlenden Einverständnis der Parteien umzugehen? Aber auch im Zwangsvollstreckungsrecht sind neue Ausführungen durch die zunehmende Bedeutung von elektronischen Wertpapieren, Kryptowährungen und Daten nötig geworden.

Die Pandemie hat auch viele andere Aktualisierungen an unterschiedlichsten Stellen nötig gemacht. Sie hat Folgen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, betrifft das Ausbleiben von Zeugen und kann die Gewährung von Räumungsfristen erforderlich machen. Bei der Gewährung von PKH ist mit gewährten Corona-Prämien umzugehen. Neue Anforderungen ergeben sich auch an die Gerichtsorganisation, z.B. wie die Öffentlichkeit der Verhandlungen mit den AHA-Regeln in Einklang gebracht werden kann.

Peters: Betrifft die Digitalisierung auch den Zöller selbst?

Schultzky: Der Zöller ist schon seit mehreren Auflagen über Otto Schmidt online und juris abrufbar. Der elektronische Text entspricht dem der Printausgabe, bietet darüber hinaus aber natürlich die inzwischen gewohnten Verlinkungen. Gemeinsames Ziel von Verlag und Autoren ist es, beide Ausgaben gleichermaßen sinnvoll benutzbar zu gestalten. Bereits in der letzten Auflage sind daher bei den ABC-Aufzählungen von Stichworten Randnummern eingefügt worden, die die Auffindbarkeit erleichtern. Durch noch einmal verbesserte Gliederungen in den Überschriften haben wir in der 34. Auflage versucht, die Lesbarkeit am Bildschirm weiter zu optimieren. Zudem enthält die elektronische Ausgabe flächendeckend bei allen Kommentierungen Inhaltsübersichten – in der Printauflage müssen wir aus Platzgründen darauf leider verzichten. Wir haben bereits nach Erscheinen der letzten Auflage auf wichtige Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderungen in der elektronischen Ausgabe hingewiesen – diesen Aktualitätendienst wollen wir beibehalten.

Peters: Ich danke Ihnen sehr für diese informativen Ausführungen. Online ist der neue Zöller bereits verfügbar, im Print erscheint er am 1.12.2021. Weitere Informationen und eine Leseprobe mit Beispielen für die herausragende Aktualität finden Sie unter otto-schmidt.de/zpo34.