Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Pflichten von Angehörigen anderer Berufsgruppen als Mitglied einer Rechtsanwaltskammer.

Mitgliedschaft und Beitragspflicht eines Steuerberaters in der Rechtsanwaltskammer
BGH, Beschluss vom 11. November 2024 – AnwZ (Brfg) 35/23

Der Senat für Anwaltssachen befasst sich mit § 60 Abs. 2 Nr. 3 BRAO in der bis 31.12.2024 geltenden Fassung.

Der Kläger ist Steuerberater und war bis Ende März 2024 alleinvertretungsberechtigter Partner einer bundesweit tätigen Sozietät von Rechtsanwälten und Steuerberatern. Die beklagte Rechtsanwaltskammer hat die Sozietät im Dezember 2022 als Berufsausübungsgesellschaft zugelassen. Mit Bescheid vom 5. Januar 2023 nahm sie den Kläger auf Zahlung eines anteiligen Kammerbeitrags für das Jahr 2022 in Höhe von 25 Euro in Anspruch. Die auf Aufhebung dieses Bescheides und auf Feststellung der Nichtigkeit der Mitgliedschaft gerichtete Klage ist vor dem Anwaltsgerichtshof erfolglos geblieben.

Der BGH hebt den Beitragsbescheid auf und weist die weitergehende Berufung des Klägers zurück.

Der Gebührenbescheid ist rechtswidrig, weil die Beitragsordnung der Beklagten gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.

Mitgliedsbeiträge müssen entsprechend den mit der Mitgliedschaft verbundenen besonderen Vorteilen bemessen werden. Dabei sind das Äquivalenzprinzip und der Gleichheitsgrundsatz zu beachten. Mit letzterem ist es zwar grundsätzlich vereinbar, von allen Kammermitgliedern denselben Beitrag zu fordern. Mitglieder, die nicht Rechtsanwalt sind, dürfen aber nicht in demselben Maße herangezogen werden wie Rechtsanwälte. Ihre beruflichen Belange werden durch die Kammer nicht in demselben Maße wahrgenommen und gefördert wie diejenigen von Rechtsanwälten. Für sie wird auch kein elektronisches Anwaltspostfach (beA) eingerichtet.

Die Feststellungsklage ist hingegen unbegründet.

Bis zu seinem Ausscheiden aus dieser Position war der Kläger gemäß § 60 Abs. 2 Nr. 3 BRAO als Geschäftsführer einer zugelassenen Berufsausübungsgesellschaft kraft Gesetzes Mitglied der Beklagten. Die genannte Regelung verstößt nicht gegen Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG.

Praxistipp: Ab dem 1.1.2025 begründet die Stellung als Geschäftsführer einer zugelassenen Berufsausübungsgesellschaft gemäß § 60 Abs. 2 Nr. 3 BRAO n.F. nicht mehr die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer, wenn die betreffende Person Mitglied der Patentanwaltskammer oder einer Steuerberaterkammer ist.

Anwaltsblog 50/2024: Kann widersprüchlicher Sachvortrag zur Verweigerung einer Beweisaufnahme führen?

Ob Widersprüche im Parteivortrag das Gericht berechtigen, Beweisangebote einer Partei unberücksichtigt zu lassen, hatte der BGH (erneut) zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 20. November 2024 – VII ZR 191/23):

Die Klägerin fordert Restwerklohn aus einem gekündigten Einheitspreisvertrag über Bauleistungen. Mit einem Teil der Leistungen hatte sie eine Nachunternehmerin (V. GmbH) beauftragt. Nach Kündigung des Vertrags durch den Beklagten legte die Klägerin eine erste Schlussrechnung, in der sie vom Gesamtbetrag – neben Teilzahlungen – einen Bruttobetrag von 32.757,58 € mit dem Vermerk „abzgl. Restleistungen in Teilbereichen der Fa. V. GmbH“ abzog. Die Klägerin hat zunächst nur den verbleibenden Betrag eingeklagt und in der Klageschrift vorgetragen, die bei der Bautenstandsfeststellung erkennbaren Minderleistungen wegen vorzeitiger Beendigung des Vertragsverhältnisses seien berücksichtigt worden. Auf den Hinweis des Landgerichts in der mündlichen Verhandlung, die Prüffähigkeit der Schlussrechnung begegne Bedenken, weil sich die abgezogenen „Restleistungen in Teilbereichen“ von 32.757,58 € aus der Abrechnung und dem Aufmaß nicht erschlössen, hat die Klägerin eine zweite Schlussrechnung vorgelegt, die den Abzug von 32.757,58 € nicht enthält, einen um diesen Betrag erhöhten Endbetrag ausweist und im Übrigen vollständig mit der ersten Schlussrechnung übereinstimmt. Die Klägerin hat die Klage um diesen Betrag erweitert und behauptet, die zweite Schlussrechnung entspreche nunmehr genau den vorgelegten Aufmaßprotokollen und den erbrachten Leistungen. Hierfür hat sie Beweis durch Sachverständigengutachten angeboten. Der Abzugsbetrag sei ein Nachlass der Nachunternehmerin an die Klägerin wegen der bestrittenen vollständigen Fertigstellung gewesen für den Fall, dass der Beklagte sofort auf die Schlussrechnung der Klägerin zahle. Diesen Nachlass habe die Klägerin unter der mündlichen Abrede der sofortigen Zahlung an den Beklagten weitergereicht. Nachdem dieser nicht gezahlt habe, habe sie den Nachlass aus der Schlussrechnung genommen.

Landgericht wie Oberlandesgericht haben die Klage mangels prüffähiger Schlussrechnung als derzeit unbegründet abgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht verletzt den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs, indem es wegen Widerspruchs zu früherem Vortrag den bestrittenen Vortrag zur zweiten Schlussrechnung, es seien nur erbrachte Leistungen enthalten, für unbeachtlich hält, einen Beweis für den behaupteten Grund des Vortragswechsels fordert und das Beweisangebot der Klägerin zum neuen Vortrag übergeht. Eine Partei ist grundsätzlich nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern und insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Hieran gemessen hat das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es für den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen bestrittenen Vortrag der Klägerin, die zweite Schlussrechnung umfasse nur erbrachte Leistungen, den angebotenen Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens übergangen hat. Das Gericht muss aber, auch wenn es in einem solchen Vortrag einen Widerspruch zu früherem Vortrag sieht, dem angebotenen Beweis nachgehen und kann den Widerspruch sowie den Vortragswechsel erst im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigen. Es darf demgegenüber nicht zunächst eine Beweisführung für die behaupteten Gründe des Vortragswechsels verlangen und den angebotenen Beweis für den neuen Vortrag – mangels Beweisangebots für die behaupteten Gründe des Vortragswechsels – übergehen. Soweit das Berufungsgericht den Beweisantritt für unzureichend gehalten hat, weil die streitige Frage der Ausführung der Arbeiten allein durch ein Aufmaß nicht geklärt werden könne, übersieht es, dass der Beweisantritt der Klägerin neben dem Aufmaß ein Sachverständigengutachten umfasst.

 

Fazit: Eine Partei ist grundsätzlich nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern und insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BGH, Urteil vom 15. Februar 2018 – I ZR 243/16 –, MDR 2018, 953).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Rechtsweg für eine Klage aus abgetretenem Recht.

Rechtsweg für Klage aus abgetretenem Recht
BGH, Beschluss vom 12. November 2024 – VIII ZB 36/23

Der VIII. Zivilsenat befasst sich den maßgeblichen Anknüpfungspunkten für die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gemäß § 13 GVG.

Die klagende Stadt nimmt den Beklagten aus abgetretenem Recht auf Zahlung des Entgelts für die Unterkunft in privat betriebenen Beherbergungsstätten in Höhe von insgesamt 363,68 Euro in Anspruch. Die Klägerin macht geltend, sie habe den Beklagten zur Abwendung einer ihm drohenden Obdachlosigkeit an die jeweiligen Beherbergungsstätten vermittelt. Diese hätten mit dem Beklagten einen entgeltlichen Beherbergungsvertrag abgeschlossen und ihre daraus hervorgegangenen Ansprüche im Voraus an die Klägerin abgetreten.

Das LG hat den Rechtsstreit an das VG verwiesen. Das OLG hat diese Entscheidung aufgehoben und den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für eröffnet erklärt.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten, der weiterhin eine Verweisung an das VG anstrebt, bleibt ohne Erfolg.

Für die Frage, ob eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne von § 13 GVG oder eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne von § 40 VwGO vorliegt, ist bei einer Klage aus abgetretenem Recht das Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und dem Zedenten maßgeblich. Die rechtliche Beurteilung hat auf der Grundlage des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts zu erfolgen.

Im Streitfall handelt es sich danach um eine bürgerliche Streitigkeit, weil die Verträge, die die Beherbergungsbetriebe nach dem Vortrag der Klägerin mit dem Beklagten abgeschlossen haben, zivilrechtlicher Natur sind. Welcher Natur die Rechtsbeziehung zwischen der Klägerin und den Beherbergungsbetrieben ist, spielt demgegenüber keine Rolle. Ebenfalls unerheblich ist, dass sich der vom Beklagten einredeweise geltend gemachte Gegenanspruch auf Kostenübernahme nach öffentlichem Recht bestimmt.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Vorgehensweise der Klägerin auch nicht als missbräuchliche Erschleichung des Rechtswegs anzusehen.

Praxistipp: Wenn Zweifel an der Zulässigkeit des Rechtswegs bestehen, sollte der Kläger eine Vorabentscheidung gemäß § 17a S. 1 GVG anregen.

OLG Celle: Präklusion im Eilrechtsschutzverfahren

Das OLG Celle (Urt. v. 4.10.2024 – 5 U 228/24) hat sich zu einer interessanten Streitfrage geäußert, die sich bei Berufungsverfahren im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes stellt. Insoweit ist schon lange umstritten, ob § 531 Abs. 2 ZPO (Zulassung neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel) auch im Eilrechtsschutz gilt.

Teilweise wird die Frage verneint. Mit der wohl h. M. geht das OLG Celle allerdings davon aus, dass § 531 Abs. 2 ZPO auch im Eilrechtsschutzverfahren anzuwenden ist. Dafür spricht der Wortlaut des Gesetzes, der insoweit keine Einschränkungen enthält. Es muss allerdings stets geprüft werden, ob ein fehlender Vortrag unter Umständen auf die Besonderheiten des einstweiligen Rechtsschutzes zurückzuführen ist. Wenn dies der Fall ist, kommt eine Zulassung entgegen § 531 Abs. 2 ausnahmsweise in Betracht.

In der Sache selbst ging es um die Deaktivierung eines „F.-Nutzerkontos“ (wohl Facebook). Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang noch die Ausführungen des OLG Celle zum Streitwert. Hiervon hängt die Zuständigkeit des Gerichts ab (§§ 23, 71 GVG: AG oder LG). Maßgeblich für die Zuständigkeit ist dabei der Streitwert der Hauptsache (nicht derjenige des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens!). Das OLG geht davon aus, dass der Streitwert der Hauptsache 5.000 € beträgt. Der Antragsteller hatte mitgeteilt, dass er das Konto nur noch ergänzend und sporadisch nutzen werde. In einem solchen Fall ist der „Hilfsauffangswert“ in Höhe von 5.000 € ausreichend.

Anwaltsblog 49/2024: Wie schnell muss ein unzuständiges Gericht einen Schriftsatz an das zuständige Gericht weiterleiten?

Unter welchen zeitlichen Voraussetzungen ein Rechtsanwalt darauf vertrauen darf, dass ein bei einem unzuständigen Gericht elektronisch eingereichter Schriftsatz an das zuständige Gericht weitergeleitet wird, hat der BGH präzisiert (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 576/23):

 

Mit am 1. September 2023 zugestellten Beschluss des Familiengerichts ist der Antragsgegner verpflichtet worden, an die Antragstellerin einen Zugewinnausgleich in Höhe von 709.900,21 € nebst Zinsen zu zahlen. Am 29. September 2023 (Freitag) ist um 8:58 Uhr beim OLG eine mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners versehene Beschwerdeschrift eingegangen. Mit taggleich ausgeführter Verfügung vom 2. Oktober 2023 (Montag) hat die Vorsitzende des zuständigen Senats die Übersendung der Beschwerdeschrift auf dem Postweg an das Amtsgericht angeordnet, die dort am 4. Oktober 2023 eingegangen ist.

Nach gerichtlichem Hinweis hat der Antragsgegner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Sein Verfahrensbevollmächtigter, der sich vom 27. September bis zum 9. Oktober 2023 im Urlaub befunden habe, habe vor Urlaubsantritt gegenüber seiner langjährigen und stets zuverlässigen Mitarbeiterin verfügt, gegen den Beschluss des Amtsgerichts fristgerecht Beschwerde einzulegen. Dies beinhalte auch, dass die Beschwerde beim zuständigen Gericht eingelegt werde. Gleichwohl sei die Beschwerde fehlerhaft an das OLG geschickt worden. Allerdings hätten zwischen der am 29. September 2023 um 9:52 Uhr versandten Eingangsbestätigung des OLG und dem Ablauf der Beschwerdefrist anderthalb Werktage gelegen. Es sei somit mehr als genug Zeit gewesen, um die Zuständigkeit zu prüfen und die Beschwerdeschrift noch innerhalb der Beschwerdefrist im Wege des ordentlichen Geschäftsgangs elektronisch an das Amtsgericht weiterzuleiten. Keinesfalls habe das OLG den Schriftsatz auf dem Postweg weiterleiten dürfen, weil ihm hätte bewusst sein müssen, dass er auf diesem Weg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fristgerecht beim Amtsgericht eingehen würde.

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zurückgewiesen und die Beschwerde als unzulässig verworfen. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdegericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt sind, weil die Beschwerdefrist nicht unverschuldet versäumt ist. Vielmehr beruht dieses Versäumnis auf einem dem Antragsgegner zuzurechnenden Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten. Dieses Verschulden ist auch ursächlich für die Fristversäumung geworden. Nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein Beteiligter ohne sein Verschulden verhindert war, die Beschwerdefrist nach § 63 Abs. 1 FamFG einzuhalten. Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten wird dem Beteiligten zugerechnet, das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Deshalb hindern Fehler des Büropersonals eine Wiedereinsetzung nicht, solange den Verfahrensbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Der Beteiligte hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen, der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt. Verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt der Fall hier. Ein Verfahrensbevollmächtigter hat dafür zu sorgen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht. Dabei gehört die Erstellung einer fristwahrenden Rechtsmittelschrift zu den Aufgaben, die ein Rechtsanwalt seinem angestellten Büropersonal nicht übertragen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit selbst sorgfältig zu überprüfen. Insbesondere hat er die Rechtsmittelschrift vor der Unterzeichnung bzw. vor der Versendung über das beA auch auf die richtige Bezeichnung des für die Entgegennahme zuständigen Gerichts zu kontrollieren und eine fehlerhafte Angabe zu berichtigen. Der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsgegners hat diesen Sorgfaltsanforderungen nicht genügt. Bei sorgfältiger Überprüfung der Beschwerdeschrift hätte er die fehlerhafte Adressierung der Beschwerdeschrift bemerken und die Angabe des Amtsgerichts als Empfänger veranlassen müssen.

Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde gegen die weitere Annahme des Beschwerdegerichts, das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten sei auch ursächlich für die Versäumung der Beschwerdefrist geworden. Wird in einer Familienstreitsache die Beschwerde anstatt bei dem gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständigen Amtsgericht beim Beschwerdegericht eingelegt, hat das angerufene Gericht die Beschwerdeschrift im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ohne Weiteres erkennbar und die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich ist. Geht der Schriftsatz so zeitig beim angerufenen Gericht ein, dass eine rechtzeitige Weiterleitung an das Amtsgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, darf ein Verfahrensbeteiligter darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch fristgerecht dort eingehen wird. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten im Hinblick auf die unrichtige Bezeichnung des Gerichts bei der Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht mehr aus, so dass dem Beteiligten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Nach diesen Grundsätzen hat das Beschwerdegericht zu Recht angenommen, der Antragsgegner habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Beschwerdeschrift im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang fristgerecht an das Amtsgericht hätte weitergeleitet werden können. Dabei kann dahinstehen, ob das Beschwerdegericht die Beschwerdeschrift elektronisch an das Amtsgericht hätte weiterleiten müssen, weil – wie die Rechtsbeschwerde meint – nur eine solche Weiterleitung zu einer formgerechten Einreichung des qualifiziert signierten Schriftsatzes geführt hätte. Denn selbst wenn dem Beschwerdegericht eine elektronische Weiterleitung an das Amtsgericht technisch möglich gewesen sein sollte und man insoweit eine aktive Nutzungspflicht des Elektronischen Gerichts- und Behördenpostfachs annehmen würde, war nach den vorliegenden Umständen eine fristgerechte Weiterleitung im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang nicht zu erwarten. Das unzuständige Gericht ist nicht verpflichtet, dem zuständigen Gericht den fristgebundenen Schriftsatz unter höchster Beschleunigung zukommen zu lassen. Im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs ist üblicherweise damit zu rechnen, dass eine bei der zuständigen Geschäftsstelle eingegangene Rechtsmittelschrift dem zuständigen Richter am nächsten Werktag vorgelegt wird. Es kann nicht erwartet werden, dass die richterliche Verfügung der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag umsetzt. Geht ein fristgebundener Schriftsatz erst einen (Werk-)Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten daher regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Gericht geführt hat. Der Antragsgegner konnte nach diesen Maßstäben nicht darauf vertrauen, dass die einen Werktag nach Eingang der Beschwerdeschrift richterlich verfügte elektronische Weiterleitung der Beschwerdeschrift noch am selben Tag von der Geschäftsstelle elektronisch ausgeführt werden würde. Vielmehr war eine Umsetzung der Verfügung vom 2. Oktober 2023 erst am darauffolgenden Werktag, dem 4. Oktober 2023, zu erwarten, was nicht mehr zu einem fristwahrenden Eingang der Beschwerdeschrift beim Amtsgericht hätte führen können. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerfrei ausgeführt, im normalen ordnungsgemäßen Geschäftsgang sei nicht damit zu rechnen gewesen, dass am selben Tag die Zulässigkeit der Beschwerde geprüft, die Versendung der Beschwerdeschrift an das Amtsgericht verfügt und diese Verfügung auch umgesetzt werden würde.

 

Fazit: Reicht ein Beteiligter eine Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht ein, so entspricht es regelmäßig dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterliche Verfügung der Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht am darauffolgenden Werktag umsetzt. Geht ein fristgebundener Schriftsatz erst einen (Werk-)Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten daher regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Gericht geführt hat (BGH, Beschluss vom 20. April 2023 – I ZB 83/22 –, MDR 2023, 932).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Verjährung von verhaltenen Ansprüchen.

Beginn der Verjährung des Anspruchs auf Bauhandwerkersicherung
BGH, Urteil vom 21. November 2024 – VII ZR 245/23

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit dem Beginn der Verjährung eines Anspruchs auf Bauhandwerkersicherung aus § 648a Abs. 1 BGB.

Die Beklagten beauftragten die Klägerin im Oktober 2015 mit Planungsleistungen für den Umbau eines gewerblich genutzten Gebäudes. Im Oktober 2018 verlangte die Kläger eine Bauhandwerkersicherung in Höhe von rund 1,4 Millionen Euro. Die Beklagten kamen diesem Begehren nicht nach. Sie kündigten den Vertrag fristlos und machten Ansprüche auf Herausgabe von Planungsunterlagen geltend. Im Juni 2021 legte die Klägerin ihre Schlussrechnung und forderte die Beklagten zur Stellung einer Bauhandwerkersicherung in Höhe von rund 3,6 Millionen Euro auf. Auch dem kamen die Beklagten nicht nach.

Mit ihrer im November 2021 erhobenen Klage verlangt die Klägerin eine Bauhandwerkersicherung in Höhe von rund 4,3 Millionen Euro. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Beklagten antragsgemäß verurteilt.

Der BGH weist die Revision der Beklagten zurück, soweit diese zur Stellung einer Sicherung in Höhe von rund 2,9 Millionen Euro verurteilt worden sind. Wegen des darüber hinausgehenden Betrags stellt er das klageabweisende Urteil des LG wieder her.

Zu Recht ist das OLG davon ausgegangen, dass es sich bei dem Anspruch aus § 648a Abs. 1 BGB um einen verhaltenen Anspruch handelt. Dies bedeutet, dass der Schuldner die Leistung nicht bewirken darf, bevor der Gläubiger sie verlangt. Wie der BGH schon früher entschieden hat, folgt daraus, dass die Verjährung frühestens beginnt, wenn der Gläubiger die Leistung verlangt (BGH, U. v. 25.3.2021 – VII ZR 94/20 Tz. 16 ff. – MDR 2021, 740).

Der BGH entscheidet nunmehr, dass die Verjährung nicht gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Anspruch geltend gemacht worden ist, sondern bereits am Tag der Geltendmachung.

Der BGH stützt diese Auffassung auf eine Analogie zur Regelung des Verjährungsbeginns für die Ansprüche auf Rückgabe einer entliehenen Sache (§ 604 Abs. 5 BGB) und auf Rückgabe (§ 695 Satz 2 BGB) bzw. Rücknahme (§ 697 Satz 3 BGB) einer in Verwahrung gegebenen Sache. Alle diese Ansprüche sind verhaltene Ansprüche. Den genannten Regelungen ist zu entnehmen, dass sich der Verjährungsbeginn für solche Ansprüche nicht nach § 199 Abs. 1 BGB richtet. Für den Anspruch aus § 648a BGB kann nichts anderes gelten, weil sich die Interessenlage nicht unterscheidet.

Die Verjährung beginnt jeweils nur in der Höhe zu laufen, in der der Anspruch geltend gemacht ist. Im Streitfall ist der Anspruch danach (nur) hinsichtlich desjenigen Teils der Sicherheit verjährt, den die Klägerin schon im Oktober 2018 verlangt hat, also in Höhe von rund 1,4 Millionen Euro. Die weitergehenden Forderungen wurden weniger als drei Jahre vor Klageerhebung erstmals geltend gemacht.

Praxistipp: Bei aufschiebend bedingten Ansprüchen beginnt die Verjährung gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem die Bedingung eingetreten ist (BGH, U. v. 4.5.2017 – I ZR 113/16, Tz. 24 ff. –MDR 2017, 1314).

BGH: Aufhebung und Zurückverweisung (einmal wieder!)

Bekanntlich darf ein Berufungsgericht ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts nicht nur abändern, sondern das Urteil auch aufheben und den Rechtsstreit dann an das erstinstanzliche Gericht zurückverweisen (§ 538 Abs. 2 ZPO). Diese Vorschrift wird von zahlreichen Berufungsgerichten in einer Weise angewendet, die der höchstrichterlichen Rechtsprechung und auch der Absicht des Gesetzgebers diametral widerspricht.

Gerade die Landgerichte als Berufungsgerichte, deren Urteile in aller Regel einer Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde nicht unterliegen, machen sehr häufig von dieser Möglichkeit Gebrauch. Wenn – anders als in der ersten Instanz geschehen – z.B. ein Sachverständigengutachten für notwendig erachtet wird, wird sogleich eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme unterstellt und der Rechtsstreit zurückverwiesen. Dies ist allerdings grob gesetzeswidrig, da die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach ständiger Rechtsprechung des BGH natürlich noch keine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme darstellt, genauso wenig die Vernehmung von wenigen Zeugen.

In seiner neuen Entscheidung zum „LKW-Kartell“, auf deren Einzelheiten hier nicht eingegangen werden kann, hat der BGH (Urt. v. 1.10.2024 – KZR 60/23, WM 2024, 2258) auch Ausführungen zu diesem Problemkomplex vorgelegt. Folgendes ist – einmal wieder – in aller Deutlichkeit festzuhalten (Rn. 47 ff.):

Die Möglichkeit einer Aufhebung und Zurückverweisung wurde durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2001 gegenüber der damaligen Gesetzeslage deutlich eingeschränkt. Zurückverweisungen sollten eine unverzichtbare Ausnahme sein und eine eigene Entscheidung des Berufungsgerichts die Regel werden. Die in § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO angesprochene umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme muss daher sicher zu erwarten sein. Es ist gerade nicht ausreichend, wenn sie im weiteren Verlaufe des Verfahrens unter bestimmten Voraussetzungen erforderlich werden könnte. Im konkreten Fall war eine Gesamtschau aller Umstände durchzuführen und gegebenenfalls eine Schätzung nach § 287 ZPO vorzunehmen. Auch hatten die Parteien bereits Gutachten vorgelegt. In einer solchen Konstellation ist die Durchführung einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens gerade nicht zu erwarten. An diesem Ergebnis ändert sich auch dadurch nichts, dass alle Parteien die Aufhebung und Zurückverweisung beantragt hatten. § 295 ZPO gilt hier gerade nicht, da es sich um einen Fehler bei der Urteilsfällung handelt.

Fazit: Die wenigsten Aufhebungen und Zurückverweisungen durch Berufungsgerichte halten einer Kontrolle durch die Revisionsgerichte stand! Von einer Aufhebung und Zurückverweisung sollte nur in klaren Fällen und nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht werden.

Anwaltsblog 48/2024: Rechtsanwalt muss bei plötzlicher Erkrankung Gericht telefonisch informieren!

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur statthaft, wenn diese darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Der BGH hatte zu entscheiden, ob die Nichtwahrnehmung eines Verhandlungstermins infolge plötzlicher Erkrankung des Prozessbevollmächtigten einen Fall schuldhafter Säumnis darstellt (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – V ZB 50/23):

 

In einem Nachbarschaftsrechtsstreit hat das Landgericht die Beklagten durch Versäumnisurteil antragsgemäß verurteilt. Dagegen haben die Beklagten Einspruch eingelegt. Im Termin zur Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache ist für die Beklagten wiederum niemand erschienen. Das Landgericht hat auf Antrag der Kläger den Einspruch durch das im Termin verkündete zweite Versäumnisurteil verworfen. Gegen dieses Versäumnisurteil haben die Beklagten Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter sei am Termintag zunächst sehr früh wegen heftiger Zahnschmerzen im Bereich der rechten Gesichtshälfte aufgewacht und habe eine Schmerztablette genommen. Kurz vor 8.00 Uhr sei er erneut durch heftige Zahn- und Kopfschmerzen geweckt worden und habe dann noch ein oder zwei Schmerztabletten genommen. Es sei für ihn klar gewesen, dass er zum Zahnarzt müsse. Nach 8.00 Uhr habe er an den Gerichtstermin gedacht und seinen Kollegen, mit dem er eine Bürogemeinschaft ohne weiteres Personal bilde, angerufen, aber nicht erreicht. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr benommen gefühlt. Einen klaren Gedanken habe er nicht mehr fassen können. Er habe dann ein Taxi gerufen und sei zu seinem Zahnarzt gefahren. Dort habe er sofort eine Spritze gegen die Schmerzen erhalten; der rechte Weisheitszahn sei behandelt worden. Im Zuge der Behandlung habe er noch eine Schmerztablette erhalten und eine weitere, die er gegen Mittag habe einnehmen sollen. Er habe dann noch einige Zeit im Behandlungszimmer verbracht und sei dann mit dem Taxi wieder nach Hause gefahren. Aufgrund der Wirkung der Schmerztabletten habe er den Termin am Landgericht verdrängt. Dieser sei ihm erst wieder am frühen Nachmittag eingefallen. Weil das Landgericht auf 11.30 Uhr terminiert hatte und die Fahrzeit von seiner Kanzlei aus ca. eine Stunde betrage, habe er geplant gehabt, gegen 10.00 Uhr loszufahren.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil die Beklagten nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist schlüssig dargelegt hätten, dass sie den Termin ohne eigenes Verschulden versäumt hätten. Auch die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Annahme des Berufungsgerichts, dass keine unverschuldete Säumnis vorliegt, steht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von der Schlüssigkeit der Darlegung dazu hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Säumnis der Beklagten auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruht, welches sie sich als eigenes Verschulden zurechnen lassen müssen (§ 85 Abs. 2 ZPO).

Für die Entscheidung kann unterstellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am Terminstag krankheitsbedingt nicht zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht anreisen konnte. Dieser Umstand genügt aber nicht für die Annahme, er habe den Termin unverschuldet versäumt. Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig auch dann vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen. Diesen Anforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht entsprochen. Ihm ist es nicht unmöglich oder unzumutbar gewesen, das Landgericht rechtzeitig telefonisch über seine krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit in Kenntnis zu setzen. Am Termintag um 8.00 Uhr war dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten klar, dass er aufgrund der Schmerzen einen Zahnarzt aufsuchen musste. Trotz starker Schmerzen hat er zu diesem Zeitpunkt noch an den Gerichtstermin gedacht. Angesichts der erforderlichen zahnärztlichen Behandlung, der Einnahme starker Schmerzmittel und der kalkulierten Fahrzeit von einer Stunde zwischen dem Kanzlei- und dem Gerichtsort durfte er auch nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass er bis zu der Terminstunde das Landgericht erreichen wird. Es hätte daher der gebotenen anwaltlichen Sorgfalt entsprochen, bereits in diesem Moment die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die im konkret vorhersehbaren Fall einer Säumnis im Einspruchstermin drohenden schwerwiegenden Nachteile von den Beklagten abzuwenden. Hierzu wäre eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem Landgericht erforderlich gewesen, um seine Verhandlungsunfähigkeit mitzuteilen. Ein solches Telefonat zu führen, war dem Prozessbevollmächtigten trotz der vorgetragenen starken Schmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln zumutbar und keinesfalls überobligatorisch. Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei an, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht das ihm Zumutbare unternommen hat. Er hat sowohl seinen Kollegen angerufen als auch telefonisch ein Taxi bestellt. Dies belegt, dass ihm trotz der erheblichen Zahnschmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln ein Telefonat noch möglich und auch zumutbar war und er noch klare Gedanken fassen konnte. Anwaltlicher Sorgfalt hätte es daher entsprochen, stattdessen sofort dem Landgericht telefonisch seine Verhinderung mitzuteilen. Für diesen Anruf war nicht mehr Kraft aufzubringen als für den Anruf bei seinem Kollegen.

 

Fazit: Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen (BGH, Urteil vom 24. September 2015 – IX ZR 207/14 –, MDR 2015, 1318).

 

Anwaltsblog 47/2024: Bleibt die elektronische Form gewahrt, wenn ein unzuständiges Gericht einen per beA eingegangenen Schriftsatz per Post an das richtige Gericht weiterleitet?

Der BGH hat die höchstrichterlich bisher nicht geklärte Frage entschieden, ob die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument bei einem unzuständigen Gericht eingegangenen Schriftsatzes zu einem fristwahrenden Eingang beim Empfängergericht führen kann (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 411/23):

 

In einer Familiensache hat die Antragstellerin gegen den ihr am 18. April 2023 zugestellten Beschluss, mit dem die Nichtigkeit der Ehe festgestellt wurde, fristgerecht Beschwerde eingelegt. Mit einem am 13. Juni 2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) beim Familiengericht eingegangenen und an dieses adressierten Schriftsatz hat sie die Verlängerung der Begründungsfrist um einen Monat beantragt. Das Amtsgericht hat den Fristverlängerungsantrag ausgedruckt und postalisch an das OLG weitergeleitet, wo er am 22. Juni 2023 eingegangen ist. Das OLG hat einen Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hat Erfolg. Das Beschwerdegericht hat die am 19. Juni 2023 ablaufende Beschwerdebegründungsfrist zu Recht als versäumt angesehen. Die Frist ist nicht durch den über das beA eingereichten Fristverlängerungsantrag an das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des Amtsgerichts gewahrt worden. Ein über das beA eingereichtes elektronisches Dokument ist erst dann gemäß § 130 a Abs. 5 Satz 1 ZPO wirksam beim zuständigen Gericht eingegangen, wenn es auf dem gerade für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär im Netzwerk für das EGVP gespeichert worden ist. Diese Voraussetzung ist mit der Übermittlung des Fristverlängerungsantrags an das EGVP des Amtsgerichts nicht erfüllt. Denn hierbei handelt es sich nicht um die für den Empfang eines Antrags auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bestimmte Einrichtung des für die Entscheidung über den Antrag zuständigen Beschwerdegerichts.

Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts sind jedoch die Voraussetzungen von § 117 Abs. 5 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO für eine Wiedereinsetzung erfüllt. Zwar hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei ein der Antragstellerin zurechenbares Verschulden ihrer Verfahrensbevollmächtigten darin gesehen, dass diese den Fristverlängerungsantrag vor Versendung nicht darauf überprüft hat, ob er an das zuständige Rechtsmittelgericht adressiert war. Entgegen der Auffassung des OLG wird die Kausalität des Anwaltsverschuldens für die Fristversäumung jedoch dadurch ausgeschlossen, dass bei im ordentlichen Geschäftsgang erfolgender postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingehen hätte müssen. Geht ein fristgebundener Schriftsatz statt beim Rechtsmittelgericht bei dem erstinstanzlichen Gericht ein, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf der Beteiligte darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig beim Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Gemessen daran durfte die Antragstellerin darauf vertrauen, dass ihr Fristverlängerungsantrag bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingeht. Denn im Rahmen eines ordentlichen Geschäftsgangs wäre zu erwarten gewesen, dass bei postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht als elektronisches Dokument per beA eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingegangen wäre. Damit entfällt die Kausalität des anwaltlichen Verschuldens für die Fristversäumnis.

Ob die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument eingegangenen Schriftsatzes zu einem fristwahrenden Eingang des Fristverlängerungsantrags beim Beschwerdegericht führen kann, ist allerdings umstritten. Nach richtiger Auffassung wird das Formerfordernis aus §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO auch durch die Einreichung eines mit einer einfachen Signatur versehenen Schriftsatzes per beA bei einem nicht zuständigen Gericht erfüllt. Weder aus dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen in §§ 130 a, 130 d ZPO noch aus ihrem Zweck ergibt sich, dass ein mit einer einfachen Signatur versehener Schriftsatz, der per beA und damit auf einem dafür gesetzlich vorgesehenen Weg elektronisch an ein unzuständiges Gericht übermittelt wurde, nur dann der Form der §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO genügt, wenn er auch beim zuständigen Gericht in elektronischer Form eingeht. Durch die Einreichung eines Schriftsatzes, der – wie hier – mit einfacher Signatur versehen auf einem sicheren Übermittlungsweg beim unzuständigen Gericht eingegangen ist, ist die zwingend einzuhaltende Kommunikationsform zwischen den in § 130 d ZPO genannten Personen und den Gerichten gewahrt. Wird ein in dieser Form bei einem unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz dann dort ausgedruckt und in Papierform an das zuständige Gericht weitergeleitet, weil bei dem unzuständigen Gericht noch eine Papierakte geführt wird, ändert dies nichts daran, dass der Rechtsanwalt seiner Verpflichtung zur elektronischen Einreichung nachgekommen ist.

Freilich kann ein beim unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz keine fristwahrende Wirkung haben, weil hierfür der Eingang beim zuständigen Gericht erforderlich ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch ein an ein unzuständiges Gericht adressierter, mit einfacher Signatur versehener und auf einem sicheren Übermittlungsweg elektronisch übermittelter Schriftsatz in der erforderlichen Form der §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO bei Gericht eingereicht wurde, unabhängig davon, ob der Schriftsatz dann in Papierform oder elektronisch an das zuständige Gericht weitergeleitet wurde. Dieses Gesetzesverständnis entspricht dem Zweck der Regelungen in §§ 130 a, 130 d Satz 1 ZPO. Ziel war, den elektronischen Rechtsverkehr auf prozessualem Gebiet zu verbessern, die Zugangshürden für die elektronische Kommunikation mit der Justiz zu senken und das Nutzervertrauen im Umgang mit dem neuen Kommunikationsweg zu stärken. Diesem Gesetzeszweck würde es widersprechen, wenn durch die Verpflichtung zur aktiven Nutzung der elektronischen Kommunikation gegenüber dem bisherigen Recht der Zugang zu den Gerichten erschwert und die bis dahin bestehenden Verfahrensrechte der Beteiligten eingeschränkt würden. Die formwirksame Einreichung des per beA an das (unzuständige) Amtsgericht übersandten Schriftsatzes wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Fristverlängerungsantrag von dort postalisch an das zuständige Beschwerdegericht weitergeleitet wird. Insoweit fehlt es zwar an einer elektronischen Übermittlung an das zuständige Gericht, so dass aus dessen Sicht die für die Einreichung bei ihm geltenden Übermittlungs- und Formvorschriften nicht erfüllt sind. Dass das Amtsgericht zur Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Beschwerdegericht einen Medienwechsel vornehmen muss, betrifft jedoch lediglich die Kommunikation zwischen den Gerichten.

 

Fazit: Ein von einem Rechtsanwalt mit einfacher Signatur versehener und über das beA) eingereichter Antrag auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist erfüllt auch dann die nach § 130 d Satz 1 ZPO erforderliche elektronische Form, wenn er beim unzuständigen Ausgangsgericht eingegangen ist. Für die fristwahrende Wirkung kommt es hingegen darauf an, wann das Dokument beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Die postalische Weiterleitung eines beim unzuständigen Gericht ordnungsgemäß in elektronischer Form eingereichten Fristverlängerungsantrags führt nicht zur Formunwirksamkeit des Antrags.

 

Fazit: Ein von einem Rechtsanwalt mit einfacher Signatur versehener und über das beA) eingereichter Antrag auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist erfüllt auch dann die nach § 130 d Satz 1 ZPO erforderliche elektronische Form, wenn er beim unzuständigen Ausgangsgericht eingegangen ist. Für die fristwahrende Wirkung kommt es hingegen darauf an, wann das Dokument beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Die postalische Weiterleitung eines beim unzuständigen Gericht ordnungsgemäß in elektronischer Form eingereichten Fristverlängerungsantrags führt nicht zur Formunwirksamkeit des Antrags.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die formellen Anforderungen an einen Pflichtteilsverzicht.

Keine Vertretung des Erblassers bei Pflichtteilsverzicht
BGH, Urteil vom 20. November 2024 – IV ZR 263/23

Der IV. Zivilsenat befasst sich mit den Folgen eines Verstoßes gegen § 2347 Satz 1 BGB.

Die Klägerin nimmt den beklagten Notar wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch.

Der verstorbene Vater der Klägerin war Eigentümer eines Hofs im Sinne der Höfeordnung. Im Dezember 2005 setzte er die Klägerin als Hofes- und Alleinerbin ein. Im Februar 2006 beurkundete der Beklagte einen Vertrag, in dem die Schwester der Klägerin gegenüber dem Vater auf ihr gesetzliches Pflichtteilsrecht und gegenüber der Klägerin und dem Vater auf die Geltendmachung von Abfindungsansprüchen aus § 12 der Höfeordnung verzichtete. Im Gegenzug verpflichtete sich die Klägerin gegenüber ihrer Schwester zur Zahlung einer Abfindung in Höhe von 30.000 Euro. Der Erblasser war bei der Beurkundung durch eine Mitarbeiterin des Beklagten vollmachtlos vertreten. Er genehmigte die Vereinbarung später mit einer vom Beklagten beglaubigten Unterschrift.

Nach dem Tod des Erblassers im Jahr 2020 machte die Schwester der Klägerin Pflichtteilsansprüche geltend. Die Klägerin begehrt deshalb die Feststellung, dass der Beklagte den Schaden zu ersetzen hat, dass die beurkundeten Verzichtserklärungen unwirksam sind.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die begehrte Feststellung ausgesprochen.

Die Revision des Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Zu Recht ist das OLG davon ausgegangen, dass der Beklagte seine Amtspflichten verletzt hat, weil er die Regelung in § 2347 Satz 1 BGB (damals noch: § 2347 Abs. 2 Satz 1 BGB a.F.) übersehen hat, wonach der Erblasser einen Vertrag über den Verzicht auf ein gesetzliches Erbrecht oder einen Pflichtteil nur persönlich schließen kann. Der Beklagte hätte darauf hinwirken müssen, dass der Erblasser persönlich an der Beurkundung des Vertrags teilnimmt oder dass die beiden Töchter ein notarielles Angebot unter Abwesenden abgeben, das der Vater durch notarielle Erklärung annimmt. Diese Amtspflicht bestand auch gegenüber der Klägerin, weil diese von dem Pflichtteilsverzicht begünstigt war.

Zu Recht hat das OLG einen Schaden der Klägerin bejaht, für den sie nicht anderweitig Ersatz erlangen kann.

Der entgegen § 2347 Satz 1 BGB durch eine Vertreterin des Erblassers geschlossene Vertrag konnte durch die Genehmigung des Erblassers nicht wirksam werden. Ob sich aus dem Vertrag zumindest eine Pflicht zum Verzicht auf das Pflichtteilsrecht ergibt, bedarf keiner Entscheidung, weil eine Erfüllung dieser Pflicht nur vor dem Tod des Vaters möglich war.

Eine ergänzende Auslegung des Vertrags dahin, dass sich die Schwester der Klägerin dieser gegenüber verpflichtet hat, nach dem Erbfall keine Pflichtteilsansprüche geltend zu machen (was nach § 311b Abs. 5 BGB zulässig wäre), scheidet aus, weil der Verzicht auf den Pflichtteil nur gegenüber dem Vater erklärt wurde.

Der Verzicht auf Ansprüche aus der Höfeordnung ist ebenfalls unwirksam, weil der vereinbarte Abfindungsanspruch sowohl diesen Verzicht als auch den Pflichtteilsverzicht abgelten sollte und die beiden Verzichtserklärungen deshalb in untrennbarem Zusammenhang stehen.

Der Ersatzanspruch ist nicht verjährt. Er ist erst mit dem Erbfall entstanden, weil zu diesem Zeitpunkt der relevante Vermögensschaden eintrat, nämlich der Anfall eines um den Pflichtteilsanspruch geminderten Erbschaft.

Praxistipp: Eine Erklärung durch den Erblasser persönlich schreibt das Gesetz auch für Testamente (§ 2064 BGB) sowie für Erbverträge (§ 2274 BGB) und deren Aufhebung (§ 2290 Abs. 2 BGB) vor.