Online-Dossier: Listing Act und Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG)

Mit dem Listing Act und dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG I) wollen der europäische und deutsche Gesetzgeber das Aktien-, Kapitalmarkt- und Finanzaufsichtsrecht grundlegend modernisieren, um den Kapitalmarkt attraktiver zu gestalten und mehr private Finanzmittel für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren. Während das ZuFinG I bereits in Kraft getreten ist, wartet der Listing Act auf die förmliche Verabschiedung. Zudem hat das Bundesministerium der Finanzen am 27.8.2024 den Referentenentwurf eines Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) veröffentlicht.

Mit unserem stetig anwachsenden Online-Dossier liefern wir Ihnen einen umfassenden Überblick über die Reformvorhaben. Sechs Beiträge zum ZuFinG I finden Sie in der Sonderbeilage zu AG 6/2024, die Sie kostenlos herunterladen können.

Aus der AG:

  • Hoppe/Knop, Kapitalerhöhungen nach dem ZuFinG, AG 2024, 807
  • Mock, Der Anwendungsbereich des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG – ein unlösbares Puzzle?, AG 2024, 797
  • Gaffron/Cramer, Vorschläge zur Änderungen des Investment- und Investmentsteuerrechts durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz II, AG 2024, R323
  • Kuthe/de Boer, Aktien- und kapitalmarktrechtliche Vorschläge im Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Finanzierung von zukunftssichernden Investitionen, AG 2024, R305
  • Joser, Wettbewerb der Finanzstandorte – Eine rechtsvergleichende Analyse der Eigenkapitalfinanzierung in den USA, in Deutschland und im UK, AG0069726
  • Schlitt/Ries/Lepke, Auswirkungen des EU Listing Acts und des Zukunftsfinanzierungsgesetzes auf Aktien- und Equity-linked Emissionen, AG 2024, 466
  • Kümpel, Mehrstimmrechtsaktien im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen, AG 2024, 426
  • Heidel, Anmerkungen zum Eigentumsschutz der AG und ihrer Aktionäre nach den §§ 255–255b AktG, AG 2024, 310
  • Verse, Wertverwässerungsschutz bei Sachkapitalerhöhungen nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 297
  • Ceesay, Mehrstimmrechtsaktien nach § 135a AktG im Blickfeld von Aktien‑, Übernahme‑, Konzernrecht und DCGK, AG 2024, S2
  • Guntermann, Krypto-Aktie & Co., AG 2024, S13
  • von der Linden, Neuerungen im Kapitalerhöhungsrecht, AG 2024, S23
  • Schwarz, Auswirkungen der Reform des § 255 AktG auf das Recht der Unternehmensbewertung, AG 2024, S31
  • Harnos, Börsenmantelaktiengesellschaft, AG 2024, S53
  • Linardatos, Ausschluss der AGB-Kontrolle bei Finanzgeschäften, AG 2024, S72
  • Denga, Die e-Aktie, AG 2024, 137
  • Hellgardt, Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Sachverhalten – de lege lata und nach Inkrafttreten des Listing Acts, AG 2024, 57
  • Mutter, Zum Umgang mit dem “neuen“ Record Date nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz in der Hauptversammlungssaison 2024, AG 2024, R29
  • Jaspers/Thoma, Mehr als nur Kosmetik – Frischzellenkur für das WpÜG durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 3
  • Koch, § 255 AktG nach dem ZuFinG – Was wird aus den Rechten des Aktionärs?, AG 2024, 1
  • Harnos, Zukunftsfinanzierungsgesetz im Bundestag – mehr Rückschritt wagen, AG 2023, 873
  • Kuthe, Ziel erreicht? – Das Zukunftsfinanzierungsgesetz ist beschlossen, AG 2023, R356
  • Wasmann, Neuere Rechtsprechung zur Kompensation bei Strukturmaßnahmen und Gesetzesvorhaben sind sich einig: Es ist der Börsenkurs!, AG 2023, 810
  • Kuthe/Reiff, Aktienrechtliche Änderungen im Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R308
  • Widany/Weil, Neuerungen im AGB-Recht: Bereichsausnahme für den Finanzdienstleistungssektor im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R215
  • Denninger/von Bülow, Mehrstimmrechtsaktien im Recht der öffentlichen Übernahmen, AG 2023, 417
  • Guntermann, RefE ZuFinG: Vorhang auf für die e‑Aktie, AG 2023, 426
  • Lay/Neubauer/Schäfer, Verbesserung der Rahmenbedingungen für Mitarbeiterbeteiligungen im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R156
  • Harnos, Unternehmensrechtliche Regelungsvorschläge im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungs­gesetzes, AG 2023, 348
  • Veil/Wiesner/Reichert, Ad Hoc Disclosure under the EU Listing Act, AG 2023, 57
  • Kuthe, Kommissionsvorschlag für den EU Listing Act, AG 2023, R28
  • Nicolussi, Mehrstimmrechtsaktie – Renaissance auf europäischer und nationaler Ebene, AG 2022, 753
  • Kuthe, Eckpunkte für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2022, R208

Aus DER BETRIEB:

  • Wasmann, Der RefE des Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) – Neues zum Delisting, DB 2024, 2482
  • Martin, Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung durch den EU Listing Act, DB 2024, 1393
  • Sauer/Buchta, EU Listing Act: (K)ein großer Wurf für das EU-Prospektrecht?, DB 2024, 1327
  • Bungert/Strothotte, Neue Ära im Kapitalerhöhungsrecht – Die §§ 255 bis 255b AktG n.F. in der finalen Fassung des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2024, 36
  • Romba/Grimm, Die elektronische Aktie im ZuFinG: Eine Bestandsaufnahme, DB 2023, 2868
  • Bungert/Strothotte, Kapitalerhöhungen ohne Blockaderisiko – Die Neuerungen der §§ 255 bis 255b AktG im RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2023, 2422
  • von der Linden/Schäfer, Der RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes: Neues zu Mehrstimmrechten, Kapitalerhöhungen und SPACs, DB 2023, 2292
  • Hertel, Mitarbeiterbeteiligung als neues Zukunftsmodell?, DB 2023, 2085
  • Niermann, Steuerliche Neuregelungen im Bereich der Mitarbeiterbeteiligung durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, DB 2023, 1239
  • Graßl/Krohn, Attraktivere europäische Kapitalmärkte: Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Marktmissbrauchsverordnung, DB 2023, 1142
  • von der Linden/Schäfer, Der RefE eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes – die wichtigsten Punkte aus aktienrechtlicher Perspektive, DB 2023, 1077
  • Denninger, Mehrstimmrechte in der Aktiengesellschaft – ein Wiedergänger in der deutschen und europäischen Reformdebatte, DB 2022, 2329

Aus der WM:

  • Wedemann, Der Aufschub der Veröffentlichung von Insiderinformationen nach der Neufassung des Art. 17 MAR, WM 2024, 2121
  • Wilhelm, Zwischen Meilenstein und Bärendienst: Die AGB-Bereichsausnahme für Finanzverträge nach § 310 Abs. 1a BGB n.F., WM 2024, 1289
  • Mock/Herzog, Mehrstimmrechtsaktien im Kapitalmarktrecht, WM 2024, 1005
  • Schmoll, Unbeschränkte Teilnahme von Privatanlegern an Kleinemissionen handelbarer Aktien – Ein Vorschlag zur Anpassung von §§ 6 WpPG, 65a WpHG, WM 2024, 631
  • Kropf, Die neue Bereichsausnahme von der AGB-Inhaltskontrolle im Zukunftsfinanzierungsgesetz – enttäuschte Erwartungen?, WM 2024, 377
  • Wittig/Hummelmeier, Back to the Future: Mehrstimmrechtsaktien nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, WM 2024, 332
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil II, WM 2023, 2073
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil I, WM 2023, 2035
  • le Dandeck/Nies, Das Zukunftsfinanzierungsgesetz – ein kohärentes Gesamtsystem? – Eine Untersuchung anhand der Auswirkungen des § 255 AktG-RegE auf das Übernahmerecht, WM  2023, 1947
  • Hippeli, Reformen im öffentlichen Übernahmerecht in Deutschland, WM 2023, 1769
  • Brauneck, Kryptowertpapiere: DLT-Pilotregime und CSDR contra eWpG?, WM 2023, 860

Aus der ZIP:

  • Gebhard, Pennystocks made in Germany? Die Neuregelung des aktienrechtlichen Mindestnennbetrags, ZIP 2024, 2617
  • Wedemann, Gestreckte Sachverhalte nach der Neufassung von Art. 17 MAR, ZIP 2024, 2373
  • Mock, Der eigenkapitalreduzierende Effekt des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG, ZIP 2024, 2173
  • Piller/Klusmann/Döding, Die Bewertungsrüge gegen die Aktienabfindung im Beherrschungsvertrag, ZIP 2024, 1701
  • Schulz, Börsennotierung und Ad-hoc-Publizität im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren, ZIP 2024, 1110
  • Kahle, Der erleichterte Bezugsrechtsausschluss im Aktienrecht nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG), ZIP 2024, 855
  • Segna, Die elektronische Aktie nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2024, 593
  • Brünkmans, Die Einbettung eines Pre-Pack-Verfahrens in die deutsche Insolvenzordnung, ZIP 2024, 265
  • Brünkmans, Das Pre-Pack-Verfahren nach dem EU‑Richtlinienentwurf, ZIP 2023, 2547
  • Herresthal, Die Problematik sog. negativer Zinsen bei Schuldscheindarlehen mit Zinsgleitklausel, ZIP 2023, 1873
  • Gebhard/Herzog, Die Wiederzulassung von Mehrstimmrechten – zurück in die Zukunft?, ZIP 2023, 1161
  • Joser, Der Referentenentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2023, 1006
  • Haring/Laqua, Pre-pack-Verfahren nach der EU-Richtlinie vs. Prepacked Plan, ZIP 2023, 899
  • Kuthe, Die Änderungen des EU Listing Acts aus Emittentensicht im Prospektrecht, Aktienrecht und Marktmissbrauchsrecht, ZIP 2023, 773
  • Frind, Der „EU-harmonisierte“ Gläubigerausschuss – Aliud oder Entsprechung zum deutschen Recht?, ZIP 2023, 449
  • Misterek, Die Insiderinformation im Spannungsverhältnis von Ad-hoc-Publizität und Insiderhandelsverbot, ZIP 2023, 400
  • Thole, Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM (2022) 702, ZIP 2023, 389
  • Herzog/Gebhard, Mehrstimmrechte im Aktienrecht, ZIP 2022, 1893

Aus dem Blog Gesellschaftsrecht:

Aus dem K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024:

Materialien zum Listing Act:

  • Vorschlag eines Listing Acts v. 7.12.2022
  • Verordnung (EU) 2024/2809 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1129, (EU) Nr. 596/2014 und (EU) Nr. 600/2014 zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehme
  • Richtlinie (EU) 2024/2810 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem multilateralen Handelssystem beantragen
  • Richtlinie (EU) 2024/2811 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2024 zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/34/EG

Materialien zum ZuFinG II:

Materialien zum ZuFinG I:

Seminare, Webinare und Fortbildungen:

Neues zu virtuellen Gesellschafterversammlungen in der GmbH

Zum 1.8.2022 wird nicht nur die Möglichkeit virtueller Hauptversammlungen für Aktiengesellschaften in das AktG eingeführt, es treten ebenfalls mit dem Gesetz zur Ergänzung der Regelungen zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften (DiREG) Erleichterungen für die Abhaltung virtueller Gesellschafterversammlungen in der GmbH in Kraft.

Durch das DiREG wird § 48 Abs. 1 GmbHG folgender Satz 2 angefügt: „Versammlungen können auch fernmündlich oder mittels Videokommunikation abgehalten werden, wenn sämtliche Gesellschafter sich damit in Textform einverstanden erklären.“

Diese Ergänzung ist zu begrüßen, denn der Austausch in Konferenzschaltungen, sei es per Telefon oder Videoschaltungen, in Gremien und Organen ist durch die Corona-Pandemie mehr und mehr zum Normalfall in der Praxis geworden. Dieser Entwicklung trägt der Gesetzgeber durch die Einfügung des neuen zweiten Satzes in § 48 Abs. 1 GmbHG Rechnung. Er ergänzt die (dispositiven) Bestimmungen über die innere Organisationsverfassung der GmbH – und damit das gesetzliche Leitbild – und erweitert die Möglichkeit der Willensbildung im Rahmen einer Gesellschafterversammlung auf nichtphysische Zusammenkünfte. Nach der Gesetzesbegründung sind auch sogenannte kombinierte Versammlungen zulässig, bei denen mehrere Gesellschafter, die sich physisch an einem Ort befinden, sich gemeinsam, fernmündlich oder mittels Videokommunikation mit einem oder mehreren Gesellschaftern versammeln, die sich an anderen Orten befinden. Es müssen sich daher nicht sämtliche Gesellschafter an unterschiedlichen Orten befinden.

Vorstehendes gilt allerdings nur mit der Maßgabe, dass die Gesellschafter sich damit ausdrücklich einverstanden erklären. Hierfür wird eine Bestätigung in Textform verlangt, was nach der Gesetzesbegründung schon durch den Austausch beispielsweise von E-Mails oder Textnachrichten einfach und unkompliziert möglich ist, wenn man sich ohnehin elektronischer Mittel bedient. Für die Beschlussfassung selbst reicht dann die mündliche Kommunikation im Rahmen der (auch rein telefonischen) Konferenzschaltung aus.

Auf den ersten Blick wirkt die Neuregelung vermeintlich wie eine schnelle und unkomplizierte Lösung für den Umgang mit virtuellen Gesellschafterversammlungen in der GmbH. Denn nach der Gesetzesbegründung wird die bisherige rechtliche Unsicherheit, ob bei einer gemeinsamen Zusammenschaltung der Gesellschafter mittels elektronischer Kommunikationsmittel die notwendigen Voraussetzungen für eine Versammlung hergestellt werden können, beseitigt. Nach der Gesetzesbegründung bleibt allerdings „[d]ie bisherige Möglichkeit zur Abweichung vom (dispositiven) gesetzlichen Leitbild im Rahmen des § 45 Absatz 2 GmbHG, nämlich der Schaffung einer eigenen Grundlage für die Durchführung der Beschlussfassung, […] unberührt.“ D.h. der Gesellschaftsvertrag kann von§ 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. beliebig abweichen.

Mit Blick hierauf stellt sich die Frage, der Zulässigkeit virtueller Gesellschafterversammlungen, wenn Gesellschaftsverträge, die vor der Gesetzesänderung wirksam geworden sind, bereits detaillierte Regelungen hierzu enthalten oder schlicht den „alten“ Gesetzeswortlaut des § 48 Abs. 1 GmbHG wiederholen. Gilt dann ein Vorrang des Gesetzes oder des Gesellschaftsvertrages bzw. besteht eine Sperrwirkung? In der Praxis  regeln viele Gesellschaftsverträge ausschließlich Präsensversammlungen; die virtuelle Gesellschafterversammlung war, wie sich in der Corona-Pandemie deutlich gezeigt hat, beim Entwurf und Wirksamwerden dieser Gesellschaftsverträge noch gar nicht auf der Agenda. Vor diesem Hintergrund wäre es wohl fehlgeleitet anzunehmen, dass ein Gesellschaftsvertrag mit der bloßen Wiederholung des „alten“ Gesetzeswortlauts die virtuelle Gesellschafterversammlung unter Geltung der neuen Gesetzeslage ausschließt. In diesem Fall gilt u.E. für die Zulässigkeit von virtuellen Gesellschafterversammlungen § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. Eine ähnliche Annahme wurde aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage beim vollständigen Wechsel zum elektronischen Bundesanzeiger für Satzungsregelungen mit altem Gesetzeswortlaut bevorzugt getroffen.

Differenzierter zu betrachten ist u.E. allerdings der Fall, dass in bestehenden Gesellschaftsverträgen bereits Detailregelungen zur virtuellen Gesellschafterversammlungen enthalten sind. Hier ist etwa denkbar, dass bestehende Gesellschaftsverträge das Einverständnis der Gesellschafter mit virtuellen Gesellschafterversammlungen an eine strengere Form (z.B. Schriftform) oder an eine geringere Form (z.B. mündliche) knüpfen oder gar kein Einverständnis der Gesellschafter oder ein geringeres Quorum gefordert wird. Jedenfalls solche Detailregelungen wird man als „besondere Bestimmungen“ im Sinne des § 45 Abs. 2 GmbHG anzusehen haben, die der dispositiven Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. vorgehen.

Inwieweit Gesellschaften mit beschränkter Haftung von der virtuellen Gesellschafterversammlung nach Maßgabe des § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG in Zukunft Gebrauch machen werden, wird sich zeigen. Die praktischen Erfahrungen der letzten beiden Jahre deuten darauf hin, dass insbesondere das Erfordernis des Einverständnisses sämtlicher Gesellschafter, gerade bei streitigen Gegenständen von Gesellschafterversammlungen, beschwerlich zu erzielen sein könnte. Daher bietet es sich für Gesellschafter von GmbH an, die gesetzliche Neuregelung zum Anlass zu nehmen, bestehende Gesellschaftsverträge hinsichtlich der Regelungen zu Gesellschafterversammlungen zu modernisieren und bei entsprechendem Konsens klare und der jeweiligen Gesellschafterstruktur angemessene Regelungen auch zu virtuellen Gesellschafterversammlungen zu beschließen.

Gesetz zur virtuellen HV – mehr Schein als Sein

Das Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen hat die letzten wichtigen Etappen des Gesetzgebungsverfahrens bewältigt: Expertenanhörung im Rechtsausschuss am 22.6.2022, Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1.7.2022, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 6.7.2022, zweite und dritte Lesung im Bundestag am 7.7.2022. Wer die Anhörung im Rechtsausschuss verfolgt hat, durfte den Eindruck gewinnen, dass der dort diskutierte Regierungsentwurf nicht nur an punktuellen, sondern an sehr grundsätzlichen, konzeptionellen Mängeln leidet. Deutlich zu spüren war deshalb auch die Sorge der Parlamentarier, mit dem neuen virtuellen Format eine Karteileiche zu schaffen – ähnlich wie früher schon mit den Vorschriften zur Online-Teilnahme, zum Aktionärsforum, zur Geschäftsordnung der HV und einigen anderen mehr. Dessen ungeachtet hat auch der Rechtsausschuss die Eckpfeiler des Gesetzes nicht mehr angetastet (sie dürfen als bekannt gelten, siehe hierzu meine Blog-Beiträge vom 15.2.2022 zum RefE und vom 28.4.2022 zum RegE). Nur kleinere Änderungen haben sich auf den letzten Metern noch ergeben:

Rechtsgrundlage

Es bleibt dabei, dass das virtuelle Format nur für einen Übergangszeitraum bis zum Herbst 2023 unmittelbar kraft Gesetzes genutzt werden darf (entscheidend ist die Einberufung der HV spätestens am 31.8.2023). Danach steht es nur noch zur Verfügung, wenn die Satzung es vorschreibt oder den Vorstand entsprechend ermächtigt – jeweils für eine Dauer von maximal fünf Jahren. Abweichend vom Regierungsentwurf ist aber nicht mehr vorgesehen, dass die Satzung bestimmte Beschlussgegenstände vom virtuellen Format ausnehmen, sprich: sie einer herkömmlichen Präsenzversammlung vorbehalten kann. Der Gesetzgeber kehrt damit zurück zum breiteren Ansatz des Referentenentwurfs. Dieser Schritt soll laut dem Ausschussbericht die Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung hervorheben. Überdies wurde offenbar erkannt, dass eine Beschränkung der Beschlussgegenstände für virtuelle Versammlungen auf europarechtlich vermintes Gelände geführt hätte – mit Blick auf das Recht der Aktionäre aus Art. 6 der EU-Aktionärsrechte-RL, eine Ergänzung der Tagesordnung zu verlangen.

Doppeltes Rederecht

Das Rederecht der Aktionäre wird weiterhin doppelt verwirklicht: im Vorfeld der virtuellen HV per Stellungnahme, die vorab übermittelt und veröffentlicht wird, sowie während der HV per Live-Redebeitrag. Neu ist, dass die Stellungnahme im Vorfeld nur noch ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären angeboten werden muss. Außerdem, dass die Gesellschaft sie nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zugänglich machen muss und dies auch über die Internetseite eines Dritten geschehen darf. Das eröffnet die Möglichkeit, hierfür das zugangsbeschränkte HV-Portal zu nutzen, das sich üblicherweise auf der Internetseite eines Dienstleisters befindet. Schließlich ist auch neu, dass die Gesellschaft sich in der Einberufung vorbehalten darf, einen Live-Redebeitrag während der HV von einem Funktionstest abhängig zu machen. Schlägt dieser Test fehl, darf die Gesellschaft den Redebeitrag zurückweisen. Dies begrenzt dann nicht nur die Rechtsfolgen etwaiger Funktionsstörungen (Stichwort: Anfechtungsausschluss). Die Gesellschaft wird vielmehr in die Lage versetzt, Funktionsstörungen während der virtuellen HV vorzubeugen – auch im Interesse der (anderen) Aktionäre an einem geordneten Versammlungsablauf.

Doppeltes Fragerecht

Auch das Fragerecht bleibt ein doppeltes. So jedenfalls, wenn der Vorstand den Aktionären aufgibt, ihre Fragen schon im Vorfeld der virtuellen HV einzureichen. Diese Option war aus Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorzug des virtuellen Formats unter Geltung des COVMG. Sie schaffte Raum dafür, Fragen zur weiteren Bearbeitung entweder nach Themenkomplexen oder nach Urhebern zu bündeln, im Zusammenhang zu antworten und sachgerechte Schwerpunkte zu setzen. Das neue virtuelle Format jedoch gewährt diesen Vorzug nur noch um den Preis, dass die Gesellschaft die vorab eingereichten Fragen nicht erst in der HV aufgreift, sondern samt schriftlicher Antworten schon vorher veröffentlicht. Dies mit der Folge, dass der Vorstand in der HV keine mündlichen Auskünfte mehr erteilen muss – einerseits. Andererseits kann diese Vorgabe die Anforderungen an Vollständigkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit der Antworten erhöhen, überlässt dem Fragesteller den Erstzugriff auf kritische Themen und degradiert die mündliche Vorstandsrede am Versammlungstag vom Auftakt zum Schlusspunkt des kommunikativen Prozesses.

Nach- bzw. Rückfragen zu den (vorab) erteilten Antworten bleiben in der HV allerdings statthaft. Jeder angemeldete Aktionär kann sie stellen, sowohl zu eigenen als auch zu fremden Ausgangsfragen. Auch bleibt es beim Ansatz des Regierungsentwurfs, dass die Aktionäre während der virtuellen HV erstmalige Fragen noch zu solchen Sachverhalten stellen dürfen, die sich erst kurzfristig ergeben haben und daher vorab nicht berücksichtigt werden konnten.

Wieder entfallen ist hingegen das noch weitergehende Aktionärsrecht, bei ausreichender Restzeit sogar noch längst bekannte Sachverhalte erstmalig in der HV zu thematisieren. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis wenig ändern. Denn es bleibt dabei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Nach- oder Rückfrage im Zweifel weit verstanden wissen möchte. Die Gesellschaft trägt daher das Risiko, die (ggf. nur lockere) Verbindung zu einer Ausgangsfrage zu übersehen. Das ist umso wahrscheinlicher, je breiter das Spektrum der Ausgangsfragen ausfällt und je allgemeiner diese gefasst sind. Außerdem können findige Aktionäre unschwer argumentieren, ein Altsachverhalt sei erst kürzlich (erneut) in der Presse, in einem Internetforum oder auch im just gehaltenen Redebeitrag eines Mitaktionärs aufgegriffen worden – was ihn in einem neuen Licht erscheinen lasse und daher den Aktionären ein uneingeschränktes Fragerecht in der virtuellen HV eröffne.

Immerhin: Den Vorstandsbericht muss die Gesellschaft nur dann vorab veröffentlichen, wenn sie die Aktionäre mit ihren Fragen im Ausgangspunkt tatsächlich in das Vorfeld der HV verweist.

Doppeltes Antragsrecht

Das doppelte Antragsrecht des Regierungsentwurfs – sowohl vor als auch während der virtuellen HV – bleibt nahezu unberührt. Neu ist nur, dass spontane Anträge und Wahlvorschläge während der HV in jedem Fall mündlich zu stellen sind, nämlich per Videokommunikation. Damit entfällt die Option einer elektronischen Antragstellung per Knopfdruck. Zugleich wird der Antragsteller zeitlich auf die „Aussprache“ verwiesen. Er kann also seine Anträge nicht schon während der Eröffnung oder der Verlesung der Regularien stellen. Ebenso wenig während der Vorstandsrede, des Berichts des Aufsichtsrats, einer Abstimmung oder einer Beschlussfeststellung. Im Ausschussbericht heißt es hierzu, das Antragsrecht werde auf diese Weise dem Mündlichkeitsprinzip der Präsenzversammlung nachgebildet. Dies auch mit der Folge, dass die Einbringung von Anträgen für alle Versammlungsteilnehmer transparent sei. Dem entspricht es, dass das Gesetz an anderer Stelle das Live-Rederecht nicht nur auf etwaige (Nach-)Fragen erstreckt, sondern ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge.

Zu kurz gesprungen

Gemessen am Regierungsentwurf sind all diese Punkte wichtige Fortschritte. Sie ändern aber nichts an dem Befund, dass das neue virtuelle Format kaum mehr ist als eine (schlechte) Kopie der Präsenzversammlung – mit einigen zusätzlichen Hindernissen und Fallstricken für die Unternehmen als Zugabe.

Insbesondere bleibt es dabei, dass die Aktionäre ein doppeltes Rederecht, ein doppeltes Fragerecht und ein doppeltes Antragsrecht erhalten. Der Aufsichtsrat muss sich, trotz seiner traditionell passiven Rolle in der HV, im Regelfall in voller Besetzung vor Ort einfinden. Das ist schon bei Präsenzversammlungen schwer verständlich, bei virtueller HV aber gänzlich sinnlos. Und es werden zahlreiche neue Detailfragen aufgeworfen, bis zu deren gerichtlicher Klärung viele Jahre vergehen dürften – anders als unter dem COVMG nunmehr mit vollem Anfechtungsrisiko. All das macht das neue virtuelle Format aus Sicht vieler Unternehmen wenig attraktiv. Das gilt umso mehr, als das erklärte weitere Reformziel, die virtuelle HV zu „entzerren“, erkennbar verfehlt worden sein dürfte.

Als Anreiz zur Nutzung des virtuellen Formats bleiben damit in erster Linie die niedrigeren Kosten. Nur dürfte der Gesetzgeber auch insoweit einem (Kalkulations-)Irrtum aufsitzen: Erstens müssen die Anbieter der digitalen Infrastruktur ihre Tools an den neuen, deutlich anspruchsvolleren Rechtsrahmen anpassen. Und zweitens werden nicht wenige (auch große) Gesellschaften künftig wohl wieder in Präsenz tagen; es schrumpft also der Kreis der Abnehmer für digitale Lösungen. Beides bleibt gewiss nicht ohne Auswirkungen auf die Preise, zu denen das Produkt „virtuelle HV“ künftig am Markt zu haben sein wird.

Regierungsentwurf zur virtuellen HV – Cui bono?

„Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“ – so heißt es im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus dem vergangenen Jahr. Diesen Programmsatz zu verwirklichen, erweist sich indessen als echte Herkules-, wenn nicht sogar als Sisyphusaufgabe. Aktionärsschützer liefen Sturm, als das BMJ im Februar 2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorlegte und sich dabei eng am COVMG orientierte (zum Referentenentwurf s. den Blog-Beitrag v. 15.2.2022). Ihr Kernanliegen: Das virtuelle Format dürfe nicht dazu dienen, die Aktionärsrechte im Verhältnis zur Präsenzversammlung zu beschneiden oder ihre Ausübung zu erschweren. Am 27.4.2022 hat das Bundeskabinett nun einen überarbeiteten Regierungsentwurf beschlossen. Jedoch schwingt das Pendel damit weit in die andere Richtung – aus Unternehmenssicht wohl: zu weit. Anträge sollen sowohl vor als auch noch in der virtuellen HV gestellt werden können, einfach per Knopfdruck. Vorab eingereichte Fragen soll die Gesellschaft schon vor der HV schriftlich auf ihrer Internetseite beantworten. Und während der laufenden HV sollen nicht nur Rückfragen zulässig sein, sondern auch Erstfragen zu neuen und mitunter sogar zu längst bekannten Sachverhalten. Damit schließt der RegE nicht zur Präsenzversammlung auf; er geht weit über deren Maß hinaus.

Was bleibt?

Der RegE belässt es dabei, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – jeweils befristet auf maximal fünf Jahre. Nach Ablauf der jeweiligen Frist muss die Satzungsklausel erneuert werden. Unmittelbar auf gesetzlicher Basis kann der Vorstand das virtuelle Format nur für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres nutzen. Ebenso bleibt es dabei, dass eine virtuelle HV gewisse Mindeststandards für die Aktionäre einhalten muss, unter anderem:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • elektronische Stimmabgabe
  • ein Antrags- sowie ein „Auskunftsrecht“ (terminologisch richtig wäre: ein Fragerecht), die allerdings beide erheblich aufgewertet werden und auf die noch näher einzugehen sein wird
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sieben (statt ursprünglich sechs) Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen, insbesondere Videobotschaften, bis fünf (statt ursprünglich vier) Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Und schließlich erblickt der RegE in der virtuellen HV auch unverändert eine „vollwertige Versammlungsform“, d.h. ausdrücklich keine „Versammlung zweiter Klasse“. Eine virtuelle HV dürfe daher über sämtliche Gegenstände beschließen, die auch Gegenstand einer Präsenzversammlung sein können, insbesondere auch über Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Neu ist allein, dass die Satzung konkrete Ausnahmen bezeichnen, d.h. bestimmte Beschlussgegenstände einer Präsenzversammlung vorbehalten darf.

Anträge, immer und überall

Gravierende Änderungen finden sich hingegen beim Antragsrecht:

Wie schon der RefE sieht zwar auch der RegE vor, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge innerhalb der bekannten 14-Tagesfrist an die Gesellschaft übersandt werden können und damit als gestellt gelten. Es ist also nicht erforderlich, sie in der virtuellen HV noch mündlich zu stellen – ein wesentlicher Unterschied zur Präsenzversammlung.

Damit hat es aber kein Bewenden. Ergänzend möchte der RegE jedem elektronisch zugeschalteten Aktionär spontane Anträge noch während der virtuellen HV erlauben, und zwar im Wege elektronischer Kommunikation. Das gilt ausweislich der Begründung für „[a]lle Anträge und Wahlvorschläge“, einschließlich Geschäftsordnungs- und Sonderprüfungsanträgen. Dafür kann, muss aber nicht unbedingt Videokommunikation genutzt werden. Es soll auch denkbar sein, spontane Anträge über Textfelder des Aktionärsportals oder per E-Mail zu übermitteln. Dahinter steht das erklärte Bestreben, die virtuelle HV der Präsenzversammlung möglichst anzunähern.

Tatsächlich würde dieses Ziel jedoch weit übertroffen. Denn die prozeduralen und psychologischen Hürden zur Stellung von Anträgen, gleich welchen Inhalts oder mit welcher Begründung, würden gemessen an einer Präsenzversammlung erheblich herabgesetzt. Zum einen, weil der Antragsteller sich nicht mehr notwendig zu Wort melden und aufrufen lassen muss; sein Aktionsradius wäre also, anders als in der Präsenzversammlung, nicht mehr auf die Generaldebatte beschränkt. Zum anderen, weil die Anwesenheit anderer Aktionäre und ggf. der Presse sowie auch die Stimmung im Saal oftmals eine disziplinierende Wirkung auf einen Redner haben. Die anderen Aktionäre lassen es einen Redner durchaus spüren, wenn er einen allzu langen, aussichtslosen oder unsinnigen Antrag stellt. Ebenso, wenn er seinen Antrag erkennbar zur Unzeit vorbringt – von wiederholten oder konzertierten Aktionen ganz zu schweigen. Nötigenfalls kann auch der Versammlungsleiter präventiv eingreifen. Diese mäßigenden Faktoren entfallen, wenn der Antragsteller nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern aus seinem Wohnzimmer vorbereitete Texte per Knopfdruck einreicht.

Fragen über Fragen

Eine ähnliche Doppelung ergibt sich beim Fragerecht:

Einerseits soll der Aktionär befugt sein, seine Fragen elektronisch vorab einzureichen – ähnlich wie auch heute schon unter der Geltung des COVMG, allerdings nicht mehr mit nur einem Tag, sondern mit immerhin drei Tagen Vorlauf auf die HV. Während der HV soll er anschließend noch Nach- bzw. Rückfragen stellen können. Das gilt nicht nur für eigene, sondern ausdrücklich auch für fremde Ausgangsfragen und die dazu erteilten Antworten.

Andererseits soll der Aktionär aber berechtigt sein, erstmalige Fragen noch während der laufenden HV zu solchen Sachverhalten zu stellen, die sich erst kurzfristig ergeben haben – beispielsweise zu Geschäftszahlen oder Presseartikeln, die unmittelbar vor der HV veröffentlicht worden sind. Und mehr noch: Es sollen sogar (weitere) erstmalige Fragen zu längst bekannten Sachverhalten zulässig sein, die man auch schon im Vorfeld hätte adressieren können. Dies aber nur, sofern deren Beantwortung nach Behandlung vorrangiger Erst- und Rückfragen noch „innerhalb des angemessenen Zeitraums der Versammlung“ möglich ist.

Eine echte Filterfunktion dürfte damit aus praktischer Sicht nicht verbunden sein. Es sollte ein Leichtes für den Fragesteller sein, in der HV oder auch erst später im Beschlussmängelstreit zu behaupten, ein entscheidender Zusammenhang oder ein verstärkendes Adjektiv sei erstmals kurz vor der HV zu lesen gewesen, in der Presse, in einem Internetforum oder auch anderenorts. Denkbar ist auch, dass er sich auf den just gehaltenen Live-Redebeitrag eines Mitaktionärs mit (vermeintlich) neuen Behauptungen bezieht. Die Grenze zwischen neuen und alten Sachverhalten verschwimmt dann. Es ist somit kaum vorstellbar, dass eine auf Rechtssicherheit bedachte Gesellschaft eine Frage als verspätet zurückweist. Dies umso weniger, als selbst verspätete Fragen ja ohnehin zulässig bleiben sollen, solange nur die HV nicht zeitlich aus dem Ruder läuft.

Für all diese Erst- und Rückfragen in der HV kann der Aktionär neben Texteingaben auch seinen Live-Redebeitrag per Videokommunikation nutzen. Der Versammlungsleiter kann ihn umgekehrt auf den Weg der Videokommunikation beschränken.

Kommunikative Lufthoheit

Hinzu kommt, dass die Gesellschaft laut dem RegE vorab eingereichte Fragen auf ihrer Internetseite schriftlich beantworten muss – und zwar spätestens einen Tag vor der virtuellen HV. Davon verspricht das Bundeskabinett sich mehr Transparenz sowie straffere Abläufe am eigentlichen Versammlungstag. Denn der Vorstand soll befugt sein, die Aktionäre in der virtuellen HV auf seine schriftlichen Antworten zu verweisen; er müsste sie also nicht mehr eigens verlesen. Dieses Prozedere fasst der RegE unter die Stichworte „Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen“ sowie „Entzerrung der HV“.

Besagtes Prozedere hat aber noch ganz andere Konsequenzen:

Erstens verkürzt sich die Bearbeitungsfrist für die Gesellschaft von drei auf zwei Tage. Denn die Antworten müssen ja nicht erst am Versammlungstag bereitstehen, sondern schon einen Tag zuvor. Das ist immer noch mehr Zeit, als aktuell unter dem COVMG zur Verfügung steht. Vom komfortablen Zeithorizont des RefE (vier Tage) entfernt sich der RegE damit aber doch deutlich.

Zweitens ist absehbar, dass eine schriftliche Beantwortung die Gesellschaft auch inhaltlich vor neue Herausforderungen stellen wird. Das geschriebene Wort ist nicht nur leichter zitierbar und hat größere Verbindlichkeit. Es erhöhen sich auch die Anforderungen an Vollständigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit der Antworten. Ebenso daran, dass die Antworten auf verwandte Aktionärsfragen zusammenpassen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Und überdies wird stets zu prüfen sein, ob vorab erteilte Antworten am Tag der eigentlichen HV noch aktuell sind – widrigenfalls der Vorstand wohl auch ohne weitere Nachfrage ein Update geben müsste.

Drittens und noch viel wichtiger: Die Gesellschaft büßt mit dem neuen Prozedere in erheblichem Umfang ihre kommunikative Hoheit ein. Es gibt nämlich nicht nur rechtliche, sondern auch handfeste praktische Gründe, aus denen eine HV mit der mündlichen Vorstandsrede beginnt – nicht hingegen mit einer Fragestunde. Das zu Beginn gesprochene Wort, vorgetragen mit der Autorität und Ausstrahlung eines Vorstands, entfaltet enorme Wirkung. Es erlaubt, die Lage der Gesellschaft im Ganzen zu präsentieren, eigene Schwerpunkte zu setzen und Dinge in einen größeren Kontext zu stellen. Dabei ist gut beraten, wer auch und gerade kritische Punkte proaktiv anspricht – und auf diese Weise erwartbaren späteren Fragen und Unmutsäußerungen vorgreift.

Diese frühen, klaren Kernbotschaften sind es denn auch, die erfahrungsgemäß ihren Weg in die Presse finden. Und sie sind es, die den späteren Vortrag eines Kritikers abschwächen, bisweilen sogar im Keim ersticken. Diese Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, sollten sich schriftliche Fragen und Antworten demnächst schon vor der HV auf der Internetseite finden. Dann nämlich geben die kritische Frage und ein damit etwa verbundener Vorwurf den Ton an; die Antwort muss sie mühsam entkräften. Die Presse wird regelmäßig schon vor der HV auf dieser Basis berichten. Das kann die Gesellschaft auf einem zentralen Forum in die Defensive bringen.

Cui bono?

Es fragt sich, wem mit einer virtuellen HV dieses Zuschnitts noch gedient sein soll. Viele Aktionäre werden weiterhin die physische Bühne und den unmittelbaren Dialog schätzen; für sie ist und bleibt das virtuelle Format die zweite Wahl. Und auch die Unternehmen werden schwerlich Anlass sehen, ein virtuelles Format zu nutzen, das ihnen gemessen an einer Präsenzveranstaltung zusätzliche Klimmzüge abverlangt. Kleinere Nachbesserungen in die eine oder andere Richtung versprechen keine Abhilfe. Dies umso weniger, als der RegE leider insgesamt sehr kleinteilig und unpräzise ausfällt und den Rechtsanwender mit zahlreichen offenen Fragen zurücklässt – Rückwirkungen auf das Recht der Präsenzversammlung nicht ausgeschlossen.

Die Digitalisierung der Anteilseignerversammlung – eine interdisziplinäre Herausforderung

Schon bevor die Corona-Pandemie den Gesetzgeber sinnvollerweise zu Lösungen für hybride oder virtuelle Gesellschafterversammlungen animiert hat, hatte der Regierungsentwurf zum MoPeG in der Regierungsbegründung angedeutet, dass man über eine Neudefinition des Begriffs der Gesellschafterversammlung nachdenken muss. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der Corona-Krise haben durch das COVMG und seine ständige Überarbeitung unter anderem dazu geführt, dass die Aktiengesellschaft virtuelle (besser gesagt: hybride) Hauptversammlungen durchführen konnte und in einem letzten Schritt wurden solche Versammlungen auch der Genossenschaft ermöglicht, und zwar selbst dann, wenn der Zustimmungsbeschluss zu einer Umwandlungsmaßnahme im Raum steht. Nach Verabschiedung dieser weiteren Reform der COVID-Maßnahmegesetze hat der Bundesgerichtshof in einer aus Sicht des Verfassers bisher zu wenig diskutierten Entscheidung (vgl. dazu Heckschen/Hilser, ZIP 2022, 461, 467) zunächst festgestellt, dass die virtuelle Versammlung dort zulässig ist, wo Gesetz oder Satzung sie eröffnen. Teilweise wurde aus der Entscheidung weitergehend gefolgert, dass virtuelle Versammlungen ganz grundsätzlich und auch ohne Zulassung durch Satzung und Gesetz ermöglicht seien, obwohl dies gerade aus der Entscheidung nicht folgt. Dem Bundesgerichtshof hätte auch die Zuständigkeit dafür gefehlt, z.B. das Aktiengesetz zu ändern. In einem weiteren Schritt will nun der Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium vom 10.2.2022 die virtuelle – auch hier besser als hybrid zu bezeichnende – Hauptversammlung einführen.

Es dürfte ohne Zweifel stehen, dass virtuelle Versammlungen durch die Satzung ermöglicht werden sollten, gerade wenn es darum geht, die Gesellschafter zu informieren oder sog. Durchlauftermine möglichst unaufwendig bewältigen zu können.

Es ist aber erstaunlich, dass die Diskussion rund um virtuelle Versammlungen bisher nur aus dem Blickwinkel geführt wird, dass solche Versammlungen in ein digitales Zeitalter passen, für Unternehmen kostensparender sind und möglicherweise einen besseren Zugang gerade für Anteilseigner ermöglichen, die weite Anreisewege zu einer Präsenzversammlung haben. Es ist bedauerlich, dass andere Aspekte im Rahmen der Diskussion völlig außer Acht bleiben: Das Thema des Geheimnisschutzes, der Datensicherheit und der Wahrung der „Privatsphäre einer Gesellschafterversammlung“, der Diskretion, wird praktisch in der Diskussion bisher ausgeblendet. Soweit sich die Gesellschaft nicht selber für eine Versammlung in der Öffentlichkeit und einen Zugang der Presse entscheidet, hat jeder einzelne Gesellschafter ein subjektives Recht darauf, dass die Versammlungen nur unter den Gesellschaftern stattfinden und nicht im Beisein Dritter. Das geht sogar so weit, dass man die Teilhabe von Beratern etc. nur dann für zulässig erachtet, wenn dafür berechtigte Interessen des Gesellschafters sprechen. So klar dieser Befund bisher in der Literatur und Rechtsprechung ist, so wenig wird berücksichtigt, dass Versammlungen, die in Bild und Ton übertragen werden, praktisch ohne große Probleme von Dritten verfolgt, gehackt und Abstimmungsergebnisse manipuliert werden können. Beschreitet man den Weg zur digitalen Versammlung, sind Herausforderungen aus vielen Blickwinkeln zu bewältigen: Die Erkenntnisse aus dem Bereich der Informations- und Datentechnologie gehören auf jeden Fall dazu. Aus meiner Sicht müssten aber auch die inzwischen immer häufiger und vertieft gewonnenen Erkenntnisse aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaften berücksichtigt werden (Heckschen/Hilser, ZIP 2022, 670). Hier ist es weitgehend unbestritten, dass im Rahmen einer virtuellen oder hybriden Versammlung wesentliche Aspekte eines Kommunikationsaustauschs auf der Strecke bleiben. Es fehlen nicht nur Gestik und Mimik. Minderheitsgesellschafter, die bisher im privaten Rahmen und ohne die Furcht, dass Dritte die Versammlung verfolgen können, mutig das Wort ergriffen haben, halten sich im Rahmen einer Videokonferenz möglicherweise aus Angst vor dem Mithören Dritter zurück. Rede und Widerrede, auch ein „Dazwischenreden“ finden in weit geringerem Umfang statt und letztlich leidet darunter das Wohl der Gesellschaft. Es dürfte weitgehend unbestritten sein, dass dort, wo problematische Beschlüsse auf der Tagesordnung stehen, wo echte Diskussion gefordert wird, Menschen im direkten präsenten Zusammensein besser Lösungen finden als über eine virtuelle Konferenz.

Der Gesetzgeber sollte sorgfältig aus juristischer, technischer, insbesondere sicherheitstechnischer, kommunikationswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Analyse heraus den Gesellschaften und ihren Gesellschaftern einen Rahmen vorgeben und einen Mindeststandard für virtuelle Versammlungen setzen und sich dabei auch die Frage stellen, ob nicht bestimmte Versammlungen nur ausnahmsweise digital stattfinden können. Weiterhin stellt sich die spannende Frage, ob das Individualrecht jedes Gesellschafters auf Teilnahme an einer präsenten Versammlung einfach per Mehrheitsbeschluss abgeschafft werden kann. Mit dem Gesetz zur virtuellen Hauptversammlung geht der Gesetzgeber grundsätzlich den richtigen Weg, da er die Zulässigkeit für die Einführung der virtuellen Versammlung nicht von sich aus festlegt, sondern in die Zuständigkeit der Gesellschaft verlagert. Es ist auch sinnvoll, dass hier Überprüfungsregelungen (fünf Jahre) gesetzlich festgelegt werden sollen. Es sollten aber auch Überlegungen angestellt werden, wie ein Mindeststandard im Bereich der Datensicherheit und Verschwiegenheit hergestellt wird. Minderheitsrechte sind zu berücksichtigen und es ist schwer nachvollziehbar, dass die Gesellschaft, die sich dann einer virtuellen Versammlungsform bedient, nicht für Versäumnisse ihrerseits bei der technischen Organisation dieser Versammlungen haftet.

Inwieweit gerade Gesellschaften mit einem beschränkten Kreis an Anteilseignern die Möglichkeit erhalten sollten, mit einem einfachen Mehrheitsbeschluss diese Art von Versammlungen einzuführen, erscheint bedenklich. Die Gesellschaften sollten sich auch selber überlegen, inwieweit sie grundsätzlich solche Versammlungen, die nicht lediglich informatorischer Art sind, ohne Zustimmung aller Gesellschafter durchführen. Sind alle einverstanden, sollte die Satzung/der Gesellschaftsvertrag aber diese Option eröffnen. Ansonsten bieten sich abgestufte Verfahren an (vgl. hierzu Heckschen/Strnad, GmbHR 2020, 807). Aus einer gewissen Digitalisierungseuphorie heraus sollten jedenfalls Gesellschaften neben den Vorteilen, die virtuelle und hybride Formate haben, auch ihre Nachteile mit berücksichtigen, die nicht nur im Bereich der Datensicherheit und der Diskretion liegen, sondern auch im Bereich des Verlusts einer Kommunikation, die gerade in schwierigen oder Konfrontationssituationen in Präsenz deutlich besser und erfolgversprechender verläuft als im rein virtuellen Bereich. Die Diskussion verlangt dringend nach einer Einbeziehung der Erkenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche außerhalb der Rechtswissenschaften. Zu nennen sind insbesondere kommunikationswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch Erkenntnisse aus dem Bereich der Informatik und Datensicherheit.

Prof. Dr. Heribert Heckschen ist seit 1990 Notar in Dresden (Heckschen & van de Loo – Notare). Seit 1986 referiert und veröffentlicht  er zu Fragen des Gesellschafts-, Insolvenz- und Erbrechts, insbesondere zur Unternehmensnachfolge. Er wurde mehrfach vom Rechtsauschuss des Bundesministeriums der Justiz zu Fragen des Umwandlungs- und Personengesellschaftsrechts als Sachverständiger hinzugezogen, zuletzt im Rahmen des MoPeG  und des UmRUG. Er leitet seit 20 Jahren die Gesellschaftsrechtliche Jahresarbeitstagung des DAI sowie ein Seminar zum Umwandlungsrecht. Seit 2015 referiert Prof. Dr. Heckschen regelmäßig beim Deutschen Steuerberatertag zur Unternehmensnachfolge.

 

Zwischenruf: Die Rechtstatsachenforschung als Kollateralschaden des DiRUG?

Abschaffung der Handelsregisterbekanntmachungen

Eintragungen in das Handelsregister sind nicht nur unter handelsregister.de abrufbar. Sie werden zusätzlich auf registerbekanntmachungen.de bekanntgemacht. Diese Doppelpublizität wurde in der Vergangenheit vielfach kritisiert. Als die Digitalisierungsrichtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnete, künftig auf die Bekanntmachungen zu verzichten, wurde dies vielfach als Chance begriffen, sie endlich abzuschaffen. Diesen Vorschlägen ist das BMJV nun mit dem Regierungsentwurf zum DiRUG gefolgt: Er streicht die Bekanntmachung zwar nicht aus dem Gesetz; sie wird jedoch künftig mit dem Zeitpunkt der erstmaligen Abrufbarkeit gleichgesetzt (dazu Knaier, GmbHR 2021, 169 Rz. 35 ff.; J. Schmidt, ZIP 2021, 112, 118 ff.). Dass bislang nur Bekanntmachungen erlaubten, sich kostenlos über Änderungen bei Vertragspartnern zu informieren, soll künftig durch die Kostenfreiheit des Registerabrufs kompensiert werden.

Konsequenzen für die Rechtstatsachenforschung

Die Beseitigung der Paywall erleichtert den Zugang zu Registerdaten und ist damit ein Gewinn für die Rechtstatsachenforschung, wie sie seit Jahren – u.a. von uns – unter der Leitung von Walter Bayer am Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht betrieben wird. Dagegen droht die Abschaffung der Bekanntmachungen, zahlreichen Facetten der Rechtstatsachenforschung den Boden zu entziehen. So wäre z.B. die jüngst veröffentlichte Untersuchung zur Vermögensübertragung nach dem UmwG (Bayer/Hoffmann, AG 2021, R36) praktisch undurchführbar gewesen. Das gilt aber auch für vom BMJV in der Vergangenheit selbst in Auftrag gegebene Studien.

Ausblick

Man kann gewiss geteilter Meinung darüber sein, ob es Aufgabe des Handelsregisters sein sollte, Rechtstatsachenforschung zu ermöglichen. Ob bewusst oder unbewusst, haben die Bekanntmachungen dies jedoch bislang geleistet. Die Rechtstatsachenforschung hat so floriert und Wissenschaft sowie Gesetzgeber mit wertvoller Empirie versorgt. Der Entwurf rüttelt nun an diesem Fundament. Darüber sollte sich der Gesetzgeber zumindest im Klaren sein. Mit der Umsetzung der Richtlinie über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors steht er zudem noch vor Inkrafttreten des DiRUG vor der Aufgabe, Handelsregisterdaten in Form hochwertiger Datensätze bereitzustellen. Das mag mehr verlangen, als das alte Bekanntmachungswesen wieder einzuführen. Es nicht abzuschaffen, wäre vielleicht trotzdem ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Der vollständige Beitrag der Autoren ist in AG 2021, 227 abgedruckt.

Kommission präsentiert gesellschaftsrechtliche „Wundertüte“

Nachdem es seit November vergangenen Jahres mehrfach verschoben wurde, hat die Europäische Kommission das fertige „Company Law Package“  am 25.04.2017 nun der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Spannung wurde erwartet, welche Regelungsvorschläge es letztlich enthalten und ob die Kommission ihre umfassenden Ankündigungen wahr machen würde (vgl. Arbeitsprogramm der Kommission 2017, S. 8) . Auf den ersten Blick haben Kommissionspräsident Juncker und sein Team Wort gehalten: Ein Vorschlag betreffend den Einsatz digitaler Instrumente und Verfahren im Gesellschaftsrecht  und ein Vorschlag über die Regelung grenzüberschreitender Verschmelzungen, Spaltungen und Sitzverlegungen bilden zusammen mit ihrem Anhang einen insgesamt knapp 130 Seiten starken Vorschlag. Dieser wird komplettiert durch ein 194-seitiges Impact Assessment. Angesichts der Masse und der vielfältigen Regelungsmaterie handelt es sich um die bisher umfangreichste gesellschaftsrechtliche Initiative der Kommission, andernorts wird von einem „dicke[n] Paket“  gesprochen. Dennoch sucht die Kommission mit den Entwürfen in Buchstärke kein neues Regelungsregime zu schaffen, sondern will lediglich die erst im Sommer 2017 konsolidierte Richtlinie über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts  ergänzen. Bereits beim ersten Durchsehen der Texte fällt auf, dass diese Regelungstechnik (bspw. sollen statt einer Neuzählung die Art. 160a–160w eingefügt werden) die Handhabbarkeit erschwert.

Unabhängig von der gewöhnungsbedürftigen Verpackung bietet die „Wundertüte“ einige Überraschungen. Künftig soll es jedermann in der Union (offenbar auch juristischen Personen) möglich sein, in jedem Mitgliedstaat digital eine Kapitalgesellschaft zu gründen, ohne einen Fuß in den Registerstaat setzen zu müssen. Satzungsmuster (sog. Templates) sollen die Gründung zusätzlich erleichtern und müssen dazu von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.  Bei der Onlinegründung muss jede Rechtsordnung mindestens sicherstellen können, dass der Gründer rechtsfähig ist und seine Identität festgestellt werden kann.  Den Mitgliedstaaten verbleibt aber darüber hinaus auch ein Regelungsspielraum: Die Online-Ferngründung scheint insbesondere nicht das Ende für die notarielle Tätigkeit bei der Gründung von Kapitalgesellschaften zu bedeuten, zumindest nicht zwingend. Die Mitgliedstaaten können – solange dies keine physische Präsenz der Gründer erfordert – u.a. Notare in das Verfahren einbinden, was angesichts ihrer umfassenden und vielgestaltigen Beratungstätigkeit, in denjenigen Staaten, die bisher auf Notare setzen, auch weiterhin zu empfehlen sein dürfte. Die digital errichtete Gesellschaft soll innerhalb von fünf Werktagen nach Einreichung aller Unterlagen und Leistung der erforderlichen Zahlungen eingetragen werden. Den Mitgliedstaaten steht es zudem frei, die „großen“ Kapitalgesellschaften, wie die deutsche AG, nicht zur Onlinegründung zuzulassen, was angesichts der oft komplexen Gestaltungen bei diesen Gesellschaftstypen durchaus sinnvoll sein kann. Auf die Mitgliedstaaten kommt jedenfalls harte Arbeit zu, da (soweit ersichtlich) bisher nur Estland Erfahrungen mit effizienten grenzüberschreitenden Gründungsverfahren hat, die – über das eResidency-Programm  – auch für Personen ohne estnische Staatsangehörigkeit zugänglich sind.

Zudem hat sich die Kommission nun auch endlich mit grenzüberschreitenden Unternehmensumwandlungen befasst. Das Company Law Package enthält den Vorschlag für eine Novellierung der Verschmelzungsrichtlinie sowie Vorschläge für einen Rechtsrahmen für grenzüberschreitende Spaltungen und Sitzverlegungen. In diesem Bereich will die Kommission vor allem einen rechtssicheren kodifizierten Rahmen für alle grenzüberschreitenden Umwandlungen schaffen, der im Einklang mit der bisherigen EuGH-Judikatur dazu stehen soll. Besonders im Fokus liegt bei allen drei Regelungskonzepten die Förderung der grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität – explizit sollen gerade kleine und mittlere Unternehmen berücksichtigt werden – bei gleichzeitiger Gewährleistung der Rechte zum Schutz der betroffenen stakeholder, wie Gläubiger, Gesellschafter und Arbeitnehmer. Für die Arbeitnehmermitbestimmung nehmen die neuen Regelungen zur grenzüberschreitenden Spaltung und Sitzverlegung Bezug auf das Verhandlungsverfahren, wie es bereits aus der SE-Verordnung  bekannt ist. Ähnliche Vorschläge fanden sich diesbezüglich bereits in den bislang nicht erfolgreichen Vorschlägen zur SPE  und zur SUP , weshalb die Möglichkeit besteht, dass dieser Aspekt auch für die neuen Vorschläge eine politische Hürde darstellen wird.

Ob sich das unionale Gesellschaftsrecht über die Überraschungen freuen kann, welche die „Wundertüte“ noch bereithält, wird die Zukunft zeigen. Fürs erste kann festgehalten werden, dass jedenfalls der Vorschlag betreffend den Einsatz digitaler Instrumente und Verfahren im Gesellschaftsrecht noch zahlreiche Fragen aufwirft und Rechtsunsicherheiten verstärken kann, während die Vorschläge zur Kodifizierung der grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Spaltung das Potenzial haben, einen rechtssicheren Rahmen für diese Vorgänge im Binnenmarkt zu schaffen.