BGH hebt OLG Celle in Sachen Geschäftsführerabberufung (Martin Kind) bei der Hannover 96 Management GmbH auf und weist Klage ab

Der Inhalt der Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH

Der BGH hat mit Urteil vom 16.7.2024 die Berufungsentscheidung des OLG Celle in Sachen Abberufung des Geschäftsführers (Martin Kind) der Komplementär-GmbH der Hannover 96 GmbH & Co. KGaA aufgehoben und die Beschlussmängelklage abgewiesen. Der Gesellschafterbeschluss über die Abberufung des Klägers Martin Kind als Geschäftsführer ist damit nicht nichtig, sondern wirksam. Abweichend vom OLG Celle als Berufungsgericht wird vom II. Zivilsenat sowohl eine Nichtigkeit analog § 241 Nr. 3 AktG als auch eine Sittenwidrigkeit analog § 241 Nr. 4 AktG verneint. Die Unvereinbarkeit des Beschlusses mit dem Wesen der GmbH könne nur eine Verletzung von tragenden Strukturprinzipien des GmbH-Rechts begründen. Dazu gehörten nicht Satzungsbestimmungen, die einem fakultativen Aufsichtsrat der Gesellschaft die Kompetenz zur Abberufung des Geschäftsführers zuweisen. Im konkreten Fall zähle auch die Beachtung des sog. Hannover-96-Vertrags nicht zu den tragenden Strukturprinzipien des GmbH-Rechts. Der Abberufungsbeschluss verstoße durch seinen Inhalt nicht gegen die guten Sitten und er begründe auch keine sittenwidrige Schädigung nicht anfechtungsberechtigter Personen. Ein bloßer Verstoß gegen eine Satzungsbestimmung der GmbH mache einen Gesellschafterbeschluss zwar anfechtbar, aber nicht sittenwidrig. Auch einer Verletzung des Hannover-96-Vertrags oder einer Gesamtbetrachtung begründe nicht die Sittenwidrigkeit des Beschlusses.

Darüber hinaus ist der Abberufungsbeschluss nach Ansicht des BGH nicht unter dem Gesichtspunkt der sog. zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechung nichtig. Zudem sei der Kläger wegen fehlender Gesellschafterstellung in der Komplementär-GmbH nicht befugt, im Wege einer Anfechtungsklage etwaige Verletzungen der GmbH-Satzung geltend zu machen.

Die komplexe Beteiligungsstruktur bei Hannover 96 und der Hannover-96-Vertrag im Konflikt mit der 50+1-Regel des DFB

Der Hannoverscher Sportverein von 1896 e.V. ist Alleingesellschafter der beklagten Hannover 96 Management GmbH. Der im BGH-Fall klagende Martin Kind ist im Handelsregister als Geschäftsführer der verklagten Komplementär-GmbH eingetragen. Die Beklagte ist Komplementärin der Hannover 96 GmbH & Co. KGaA, die den Profifußball-Bereich unterhält, also zurzeit die am Spielbetrieb der 2. Fußball-Bundesliga teilnehmende Lizenzspielermannschaft Hannover 96.

Kommanditaktionärin der Hannover 96 GmbH & Co. KGaA ist die Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG, die darüber hinaus zu 100 % an der Hannover 96 Arena GmbH & Co. KG beteiligt ist. Einzige Kommanditaktionärin der KGaA ist die Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG, an der Martin Kind mit 52,73 % und der Drogerie-Unternehmer Dirk Roßmann mit 19,76 % beteiligt ist (https://de.wikipedia.org/wiki/Hannover_96#Hannover_96_GmbH_&_Co._KGaA).  Nach der Satzung der verklagten Hannover 96 Management GmbH ist ihr Aufsichtsrat für die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer zuständig. Im August 2019 wurde zwischen dem Hannover 96 e.V., der Hannover 96 GmbH & Co. KGaA und der Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG der sog. Hannover-96-Vertrag geschlossen, der vorsieht, dass der zu 100 % an der Komplementär-GmbH der KGaA beteiligte Verein Hannover 96 die Satzung dieser GmbH nicht ohne vorherige Zustimmung der Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG ändert, ergänzt oder ersetzt. Dies bezieht sich insbesondere auf den Passus der GmbH-Satzung, die der Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG, vermittelt durch den Aufsichtsrat, Mitentscheidungsrechte bei der Bestellung des GmbH-Geschäftsführers einräumt (vgl. dazu OLG Celle, GmbHR 2023, 739).

Nach § 16c Nr. 2 der Satzung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) kann ein Verein nur eine Lizenz für die Lizenzligen und damit die Mitgliedschaft in der Deutsche Fußball Liga (DFL) erwerben, wenn er rechtlich unabhängig ist, das heißt auf ihn kein Rechtsträger einen rechtlich beherrschenden oder mitbeherrschenden Einfluss ausüben kann. Eine Kapitalgesellschaft kann gem. § 16c Nr. 3 Satz 1 DFB-Satzung nur dann eine Lizenz für die Lizenzligen und damit die Mitgliedschaft in der DFL erwerben, wenn ein Verein mehrheitlich an ihr beteiligt ist. Der Mutterverein ist gem. § 16c Nr. 3 Satz 3 DFB-Satzung an der Gesellschaft mehrheitlich beteiligt („Kapitalgesellschaft“), wenn er über 50 % der Stimmenanteile zuzüglich mindestens eines weiteren Stimmenanteils in der Versammlung der Anteilseigner verfügt (sog. 50+1-Regel). Bei Wahl der Rechtsform der Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) muss gem. § 16c Nr. 3 Satz 4 DFB-Satzung der Mutterverein oder eine von ihm zu 100 % beherrschte Tochter die Stellung des Komplementärs haben.

Abberufungsbeschluss und die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Nichtigkeit des Gesellschafterbeschlusses analog § 241 Nr. 3 und Nr. 4 AktG

Im Juli 2022 fassten Vertreter des Alleingesellschafters Hannover 96 e.V. in einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung der verklagten Komplementär-GmbH den Beschluss, den klagenden Geschäftsführer Martin Kind „mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund im Wege eines satzungsdurchbrechenden Beschlusses als Geschäftsführer“ der GmbH abzuberufen.

Das Landgericht Hannover hat die Nichtigkeit des Abberufungsbeschlusses entsprechend § 241 Nr. 3 AktG festgestellt und der Klage stattgegeben. Nach § 241 Nr. 3 AktG ist ein Beschluss der Hauptversammlung nichtig, wenn er „mit dem Wesen der Aktiengesellschaft nicht zu vereinbaren ist oder durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutz der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind“. § 241 Nr. 3 AktG ist entsprechend auf Gesellschafterbeschlüsse der GmbH anwendbar (vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Auflage 2023, Anhang § 47 Rz. 16 ff.; Wertenbruch in Münchener Kommentar GmbHG, 4. Auflage 2023, Anhang § 47 Rz. 89 ff.).

Die dagegen gerichtete Berufung der verklagten Hannover 96 Management GmbH wies das Oberlandesgericht Celle nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung zurück, weil die Berufung „offensichtlich“ keine Aussicht auf Erfolg habe. Das Tatbestandsmerkmal „offensichtlich“ ist im Jahre 2011 im Rahmen der Reform des § 522 Abs. 2 ZPO in diese Vorschrift eingefügt worden, weil § 522 Abs. 2 ZPO a.F. von den Berufungsgerichten sehr unterschiedlich angewendet worden war und insoweit ein Vertrauensverlust der Bürger drohe (vgl. Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, BT-Drucksache 17/6406, S. 1). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 2002, 814 f. zu § 349 StPO) führt der Rechtsausschuss aus, dass eine Berufung dann „offensichtlich aussichtslos“ sei, wenn „für jeden Sachkundigen ohne längere Nachprüfung erkennbar ist, dass die vorgebrachten Berufungsgründe das angefochtene Urteil nicht zu Fall bringen können“ (Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, BT-Drucksache 17/6406, S. 9; vgl. dazu Zöller/Heßler, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 522 Rz. 36).

In der Sache bejahte das OLG Celle wegen Kompetenzwidrigkeit eine Nichtigkeit des Abberufungsbeschlusses analog § 241 Nr. 3 AktG, weil der Abberufungsbeschluss nicht vom GmbH-Aufsichtsrat gefasst worden sei, und wegen Sittenwidrigkeit in analoger Anwendung des § 241 Nr. 4 AktG. Der Hannover 96 e.V. sei sich als Alleingesellschafter der Komplementär-GmbH seiner im Hannover-96-Vertrag eingegangenen Bindung bewusst gewesen und habe daher die satzungsmäßige Kompetenzverteilung bewusst unterlaufen (OLG Celle, GmbHR 2023, 739, 740 ff.). Verfahrensrechtlich wurde vom OLG Celle die Revision zum BGH nicht zugelassen. Die dagegen beim BGH eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hatte allerdings Erfolg. Mit Beschluss vom 27.2.2024 (II ZR 71/23) ließ der insbesondere für Gesellschaftsrecht und Vereinsrecht zuständige II. Zivilsenat die Revision zu, wodurch das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren weitergeführt wurde.

Gesellschaftsrechtliche und verbandsrechtliche Konsequenzen

Der BGH musste zwar über die Reichweite der „50 + 1“ – Regel der DFB-Statuten im Beteiligungsgeflecht von Hannover 96 nicht entscheiden, weil dies für den konkreten Streitgegenstand nicht einschlägig war. Die verbandsrechtliche Pointe bestand bislang darin, dass die Komplementär-GmbH der Profifußball KGaA zwar – in Konkordanz mit den DFB-Statuten – formal zu 100 % vom Idealverein Hannover 96 beherrscht wird. Der wirksam abberufene Geschäftsführer hatte aber über seine Mehrheitsbeteiligung an der einzigen Kommanditaktionärin, der Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG, und den Hannover-96-Vertrag auch Mitentscheidungsrechte im Bereich der Komplementär-GmbH. Es war daher sehr fraglich, ob das Weisungsrecht des Idealvereins als Alleingesellschafter aus § 37 Abs. 1 GmbHG einen ausreichenden Einfluss sicherte. Mit der Abberufung von Martin Kind als Geschäftsführer ist die verbandsrechtliche Dimension zwar zumindest temporär entschärft. Ansprüche wegen Verletzung des Hannover-96-Vertrags sind aber nicht vom Tapet, und bei der Bestellung eines neuen Geschäftsführers stellt sich wieder die Problematik der Mitentscheidungsrechte der Hannover 96 Sales & Service GmbH & Co. KG über den Aufsichtsrat der GmbH.

Shareholder activism bei ProSiebenSat.1: Aufsichtsratsbesetzung und Abspaltung von Unternehmenssegmenten

Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein zunehmender Aktionärsaktivismus zu beobachten (aufschlussreiche aktuelle Bestandsaufnahme bei Rieckers, DB 2024, 439, 444; aus älterer Zeit etwa Graßl/Nikoleyczik, AG 2017, 49; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 299). Neben Öffentlichkeitskampagnen greifen aktivistische Investoren auch auf hauptversammlungsbezogene Aktionärsrechte zurück, um ihre Anliegen durchzusetzen (Überblick über die Möglichkeiten bei Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 11 ff.). Hierzu gehören insbesondere Gegenanträge und Wahlvorschläge nach §§ 126, 127 AktG (s. Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 31; zum Fall Brenntag in der HV-Saison 2023 Rieckers, DB 2024, 439, 444) sowie das Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 AktG (hierzu etwa Kuthe/Beck, AG 2019, 898 ff.; Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 41).

Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1

In der aktuellen Hauptversammlungssaison dürfte das Aktionärstreffen der ProSiebenSat.1 Media SE (im Folgenden: ProSiebenSat.1) das – aus rechtlicher und unternehmenspolitischer Perspektive – interessanteste Beispiel für den Aktionärsaktivismus sein. Die Besonderheit des Falles liegt zunächst darin, dass weder aktivistische Fonds noch Aktionärsvereinigungen noch Nichtregierungsorganisationen im Zentrum stehen, sondern ein Großaktionär: Die MFE-MEDIAFOREUROPE N.V. (im Folgenden: MFE) mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Cologno Monzese bei Mailand, deren CEO Pier Silvio Berlusconi – der Sohn des ehemaligen italienischen Premierministers – ist und an der die Familie Berlusconi maßgeblich beteiligt ist, hält 26,58% der Aktien der ProSiebenSat.1. Rechnet man die gem. § 71b AktG stimmrechtslosen eigenen Aktien der ProSiebenSat.1 hinweg, beläuft sich der Stimmenanteil der MFE auf 27,32%. Der zweitgrößte Aktionär, die PPF Group N.V. (im Folgenden: PPF) – ein Finanzinvestor im Familienbesitz mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Prag – ist mit 11,60% am Grundkapital der ProSiebenSat.1 beteiligt und hält 11,92% der Stimmrechte. 59,12% der Aktien bzw. 60,76% der Stimmrechte befinden sich im Streubesitz (s. die Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1).

Aktionärsvorschläge im Überblick

Die beiden Großaktionäre haben – zum Teil durchaus öffentlichkeitswirksam – für Wirbel gesorgt, indem sie die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 dazu gezwungen haben, fünf Vorschläge auf die Tagesordnung der Hauptversammlung 2024 zu setzen:

  • Zwei eigene Kandidaten zur Aufsichtsratswahl 2024 (MFE und PPF);
  • Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden (nur MFE);
  • Vorbereitung der Abspaltung der Unternehmenssegmente Commerce & Ventures und Dating & Video (nur MFE);
  • Neugestaltung des genehmigten Kapitals (nur MFE);
  • Erweiterung der statutarischen Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen.

Wahlvorschläge der Großaktionäre

In der diesjährigen Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 steht als TOP 8 die Wahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern an. Der Aufsichtsrat hat Klára Brachtlová (die eine Leitungsposition in einer Tochtergesellschaft der PPF bekleidet), Marjorie Kaplan und Pim Schmitz (der ein Director einer Holdinggesellschaft ist, deren Tochtergesellschaft im Produktionsbereich eine Geschäftsbeziehung zur ProSieben.Sat1 unterhält) zur Wahl vorgeschlagen. Die beiden Großaktionäre haben gem. § 127 AktG Wahlvorschläge für die Aufsichtsratswahl unterbreitet. Die MFE schickt Leopoldo Attolico gegen Schmitz ins Rennen. Die PPF schlägt Christoph Mainusch statt Kaplan oder Schmitz zur Wahl vor. Der Aufsichtsrat hält in seiner Stellungnahme zu den Aktionärsvorschlägen an seinem ursprünglichen Vorschlag fest.

Weil die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 virtuell i.S.d. § 118a AktG stattfindet, greift die Antragsfiktion nach § 126 Abs. 4 AktG i.V.m. § 127 Satz 1 AktG ein. Das führt gem. § 126 Abs. 4 Satz 2 AktG dazu, dass die ProSiebenSat.1 den Aktionären schon im Vorfeld der Hauptversammlung die Wahl der oppositionellen Kandidaten ermöglichen muss (s. dazu Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.2.2024, § 126 AktG Rz. 65 ff.; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21 i.V.m. § 126 AktG Rz. 72).

Die PPF will zudem sicherstellen, dass die Hauptversammlung über ihren Wahlantrag vor dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats abstimmt und die vorgezogene Abstimmung über ihren Antrag auch in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal zum Ausdruck kommt. Die Festlegung der Abstimmungspriorität kann die PPF gem. § 137 AktG durchsetzen, wenn eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des vertretenen Grundkapitals erreichen, die vorgezogene Abstimmung über den Aktionärsvorschlag verlangt. Da die PPF mit 11,60% an der ProSiebenSat.1 beteiligt ist, kann sie das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG im Alleingang erfolgreich stellen (zum Vorgehen in der virtuellen HV s. Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 9 ff.). Allerdings muss sie dies in der Hauptversammlung selbst tun: Die Antragsfiktion des § 126 Abs. 4 AktG erstreckt sich nicht auf das Minderheitsverlangen gem. § 137 AktG (Koch, 18. Aufl. 2024, § 126 AktG Rz. 18, § 137 AktG Rz. 2 a.E.; Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 5; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21).

Die hauptversammlungsbezogene Ausgestaltung des Minderheitsverlangens nach § 137 AktG ist eine Hürde, an dem das zweite Ziel der PPF scheitern könnte. Es spricht viel dafür, dass die Verwaltungsorgane nicht verpflichtet sind, die Briefwahlunterlagen und das Aktionärsportal von vornherein so auszugestalten, dass die von PPF bevorzugte Abstimmungsreihenfolge erkennbar ist. In dogmatischer Hinsicht schränkt § 137 AktG nämlich das Ermessen des Versammlungsleiters ein, die Reihenfolge der Abstimmung festzulegen (Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1); eine Bindungswirkung gegenüber den Verwaltungsorganen entfaltet § 137 AktG hingegen nicht. Dies ist im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Einbettung des § 137 AktG konsequent: Weil das Minderheitsverlangen im Vorfeld der Hauptversammlung noch nicht förmlich gestellt wurde, können die Verwaltungsorgane nicht daran gebunden sein. Freilich steht es den Verwaltungsorganen der ProSiebenSat.1 offen, schon in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal die von PPF beantragte Abstimmungsreihenfolge zu berücksichtigen.

In rechtspolitischer Hinsicht ist es erwägenswert, den Aktionären unabhängig vom Hauptversammlungsformat die Möglichkeit einzuräumen, das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG schon im Vorfeld der Hauptversammlung zu stellen, und die Verwaltungsorgane im Erfolgsfall zu verpflichten, die von den Aktionären erzwungene Abstimmungsreihenfolge in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal kenntlich zu machen (darauf abzielende Vorschläge de lege lata bei Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.; zurückhaltender M. Arnold in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 137 AktG Rz. 19; Koch, 18. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1). § 137 AktG will die Minderheitsinteressen stärken, indem er den Wahlvorschlag der Aktionäre gegenüber dem Vorschlag des Aufsichtsrats priorisiert; der oppositionelle Kandidat soll nicht hinter den Kandidaten des Aufsichtsrats versteckt werden (s. nur Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1168 f., der vom Grundsatz prozeduraler Neutralität spricht). Die Wirkung dieser verfahrensrechtlichen Vorkehrung droht zu verpuffen, wenn sie bei der – in der Praxis von Publikumsgesellschaften durchaus relevanten (s. nur Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 Rz. 4 ff.; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172) – Vorfeld-Abstimmung keine Rolle spielt. Insoweit sollte der Gesetzgeber die Verfahrensmodalitäten des § 137 AktG an die Realität der Hauptversammlung anpassen und sich auch insoweit vom Mündlichkeitsprinzip verabschieden (zur nicht mehr zeitgemäßen Ausgestaltung des § 137 AktG zutr. Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.).

Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden

Unternehmenspolitisch brisanter als die Wahlvorschläge der beiden Großaktionäre ist das auf § 122 Abs. 2 AktG gestützte Ergänzungsverlangen von MFE dahingehend, die Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds auf die Tagesordnung zu setzen. Weil die Hauptversammlung gem. § 103 Abs. 1 AktG für die Abberufung zuständig ist und die MFE mit ihrem Aktienpaket den in § 122 Abs. 2 AktG vorgeschriebene Anteil am Grundkapital deutlich überschreitet, hat die ProSiebenSat.1 ihre Tagesordnung gem. § 124 Abs. 1 AktG entsprechend ergänzt.

Abberufen werden soll Rolf Nonnenmacher, der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und der Vorsitzende des Prüfungsausschusses bei ProSiebenSat.1 sowie der ehemalige Vorsitzende der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, dessen Aufsichtsratsmandat erst mit dem Ablauf der Hauptversammlung 2025 endet. An Nonnenmachers Stelle soll nach dem Vorschlag der MFE Simone Scettri, ein italienischer Wirtschaftsprüfer, treten.

Die MFE begründet ihr Verlangen damit, dass Nonnenmacher in einem Zeitraum Aufsichtsratsmitglied und Prüfungsausschussvorsitzender war, auf den sich eine durch den Aufsichtsrat in Auftrag gegebene interne Untersuchung wegen möglicher Compliance-Vorfälle in Tochtergesellschaften erstreckt. Dadurch könne Nonnenmacher gerade als Vorsitzender des Prüfungsausschusses zumindest potenziell von der Untersuchung betroffen sein, so dass eine Interessenkollision nicht ausgeschlossen sei. Ein denkbarer Interessenkonflikt, der eine freie Amtsführung beeinträchtigen könne, sei vorsorglich zu vermeiden. Der Aufsichtsrat schlägt der Hauptversammlung vor, gegen die Abberufung von Nonnenmacher und die Wahl von Scettri zu stimmen, und verweist dabei zum einen auf die überlegende Qualifikation von Nonnenmacher, zum anderen auf mögliche Interessenkonflikte von Scettri, der in Italien für Ernst & Young (EY) tätig war; EY Deutschland habe als Abschlussprüfer der ProSiebenSat.1-Gruppe den von MFE ins Spiel gebrachten Compliance-Vorfall nicht beanstandet.

Um ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, muss die Hauptversammlung einen Beschluss fassen, der nach der gesetzlichen Grundregel in § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG einer Mehrheit von drei Viertel der abgegebenen Stimmen bedarf; sachliche Anforderungen – etwa das Vorliegen eines wichtigen Grundes – stellt § 103 Abs. 1 AktG nicht auf (s. Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 3 f.). Indes sieht § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 vor, dass Hauptversammlungsbeschlüsse mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften oder die Satzung etwas anderes vorschreiben. § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG lässt es zu, dass die Satzung eine andere Mehrheit bestimmt. Dabei kann das Mehrheitserfordernis abgesenkt werden, so dass für die Abberufung eine einfache Stimmenmehrheit des § 133 AktG genügt (Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 5; Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Ausreichend ist eine Satzungsklausel, die wie § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 generell, also für alle Hauptversammlungsbeschlüsse, gilt (s. Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Eine Satzungsregelung, die hinsichtlich der Aufsichtsratsabberufung eine von § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 abweichende Mehrheit vorschreibt, liegt nicht vor.

Aus dem Zusammenspiel zwischen § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 und § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG folgt, dass die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 die Abberufung von Nonnenmacher mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen kann. Ob diese Mehrheit erreicht wird, lässt sich freilich noch nicht sicher vorhersagen. Die Hauptversammlungspräsenzen der ProSiebenSat.1 lagen in den Jahren 2021 bis 2023 bei ca. 52% bis 57%. Wird sich die Beteiligungsquote auch 2024 in dieser Größenordnung bewegen, ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die MFE mit ihrem Stimmenanteil von ca. 27% die Abberufung von Nonnenmacher im Alleingang beschließen kann. Es kann aber auch sein, dass sie die alleinige einfache Mehrheit (knapp) verfehlt und auf die Stimmen anderer Aktionäre angewiesen sein wird. Ob die PPF den Vorstoß unterstützen wird und wie sich die Stimmrechtsberater positionieren, ist nicht überliefert. Die Hauptversammlung 2023 hat Nonnenmacher mit 95,73% der abgegebenen gültigen Stimmen bei einer Beteiligung von 54,79% des eingetragenen Grundkapitals entlastet. Es bleibt abzuwarten, wie viele Aktionäre 2024 der Argumentation von MFE folgen, Nonnenmacher im Rahmen des Abberufungsbeschlusses ihr Misstrauen aussprechen und die weitere Umbildung des Aufsichtsrats vorantreiben.

Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten

Für viel Diskussionsstoff sorgt zudem das Ergänzungsverlangen der MFE zur Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten. Auch insoweit ist die Hauptversammlung zuständig (s. § 83 Abs. 1 AktG und § 125 UmwG i.V.m. §§ 13, 63 ff. UmwG), so dass die ProSiebenSat.1 nicht umhinkam, die Tagesordnung gem. § 122 Abs. 2 AktG wie von MFE verlangt zu ergänzen und die Ergänzung gem. § 124 Abs. 1 AktG bekanntzumachen. In rechtstechnischer Hinsicht erinnert das Vorgehen der MFE an den (gescheiterten) Brownspinning-Versuch der Enkraft Capital GmbH bei der RWE AG (s. dazu Fuhrmann/Döding, AG 2022, R168). Überdies ist der Vorstoß im Lichte der Entwicklungen zu sehen, die auch in anderen Marktbereichen zu beobachten sind: So haben etwa die Volkswagen AG mit Traton SE, die Daimler AG (heute Mercedes-Benz Group AG) mit Daimler Truck Holding AG und die Siemens AG mit der Siemens Healthineers AG sowie der Siemens Energy AG die früheren Unternehmenssparten als eigenständige Unternehmen an die Börse gebracht. Ein ähnlicher Schritt steht seit längerer Zeit bei Thyssenkrupp AG in der Diskussion.

Derzeit lässt sich die Unternehmensstruktur von ProSiebenSat.1 in drei Segmente unterteilen: Entertainment, Commerce & Ventures und Dating & Video. Die Abspaltung soll sich auf die letzten beiden Segmente erstrecken, die nach dem Vorschlag von MFE von eigenständigen – bestehenden oder neu zu gründenden – Rechtsträger geführt werden sollen. Diese Rechtsträgen sollen börsennotiert sein, so dass sie als Aktiengesellschaften organisiert sein müssten. Der Aktionärskreis von ProSiebenSat.1 und der neuen Gesellschaften soll im Ausgangspunkt identisch sein; eine Konzernstruktur soll also – anders als bei Volkswagen, Daimler und Siemens – nicht entstehen. Der Beschlussvorschlag lässt dem Vorstand der ProSiebenSat.1 aber die Möglichkeit offen, von der Vorbereitung der Abspaltung abzusehen und sich von den Segmenten Commerce & Ventures und Dating & Video auf eine andere Art und Weise – etwa durch einen Verkauf – zu trennen. Begleitet wird das Ergänzungsverlangen durch den Vorschlag, das genehmigte Kapital neu zu gestalten (s. dazu auch den Vorstandsbericht) und die in der Satzung verankerten Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen ab einer gewissen Schwelle zu erweitern.

Die MFE will erreichen, dass sich die ProSiebenSat.1 künftig nur noch auf das Segment Entertainment fokussiert. Die Zusammensetzung der ProSiebenSat.1 als ein Konglomeratunternehmen bringt nach der Einschätzung der MFE zu wenige Synergievorteile mit sich; zudem ist sie mit zu vielen Nachteilen verbunden. Vor diesem Hintergrund soll es für die einzelnen Segmente vorteilhafter sein, als selbständige Unternehmen mit einer eigenen „Equity Story“ am Markt zu agieren. Die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 weisen diese Argumente zurück. Sie empfehlen keine Abspaltung und wollen sich auf eine wertmaximierende Veräußerung der beiden Segmente fokussieren, die vorbehaltlich der Marktbedingungen über die nächsten 12 bis 18 Monate erfolgen soll.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass sich die MFE und die Verwaltungsorgane in der Sache einig sind: Die ProSiebenSat.1 soll sich über kurz oder lang von den Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video trennen. Während eine Einigkeit über das „Ob“ herrscht, gehen die Meinungen über das „Wie“ auseinander: Die Verwaltungsorgane setzen allein auf einen Verkauf der beiden Segmente, der (liquide) Mittel in die Unternehmenskasse spülen würden. Die MFE hält eine solche Maßnahme an sich für sinnvoll, will aber die Trennung auch dann auf umwandlungsrechtlichem Wege vollziehen, wenn der Verkauf nicht gelingen sollte. Für den Großaktionär steht demnach nicht die Verbesserung der Kassenlage, sondern die strategische Neuausrichtung von ProSiebenSat.1 im Vordergrund: Die Abspaltung führt – anders als der Verkauf – nicht zu einem Mittelzufluss bei ProSiebenSat.1. Beschließt die Hauptversammlung 2024 wie von der MFE vorgeschlagen, wächst der Druck auf den Vorstand der ProSiebenSat.1, den Verkauf möglichst zeitnah abzuwickeln, um seine Vorstellungen von den Trennungsmodalitäten durchzusetzen.

Allerdings sind die aktienrechtlichen Hürden für die Beschlussfassung hoch: Nach § 83 Abs. 1 Satz 3 AktG bedarf der Beschluss der Mehrheit, die für die Maßnahme – also für die Abspaltung – erforderlich ist, also gem. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG „einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt.“ Wie bei der Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hängt der Erfolg der Maßnahme vom Abstimmungsverhalten der PPF und der Streubesitzaktionäre ab; eine bedeutende Rolle dürfte die Positionierung der Stimmrechtsberater spielen. In inhaltlicher Hinsicht sind die Aktionäre in ihrem Abstimmungsverhalten weitgehend frei: Die Festlegung der Trennungsmodalitäten ist eine unternehmerische Entscheidung, so dass die Hauptversammlung einen breiten Ermessensspielraum genießt. Ihre Entscheidung dürfte kaum wegen Inhaltsfehler angreifbar sein.

Fasst die Hauptversammlung den Beschluss mit der qualifizierten Mehrheit des § 83 Abs. 1 AktG i.V.m. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG, ist die Abspaltung noch nicht ausgemacht. Der Vorstand der ProSiebenSat.1 hätte nach wie vor die Option, die Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video zu verkaufen. Auch wenn der Verkauf misslingt, ist die Abspaltung nicht sicher. In einem solchen Fall muss der Vorstand „lediglich“ den Spaltungs- und Übernahmevertrag vorbereiten, über den die Hauptversammlung 2025 nach Maßgabe der §§ 125, 13, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG zu beschließen hat; erforderlich ist wiederum eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit. Der Weg zur Spaltung ist also noch weit.

Country by Country Reporting im Aufsichtsrat?

Bisher hatte die internationale Ertragsteuerstransparenz – das so genannte Country bei Country Reporting – im Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats großer Unternehmen ebenso wenig einen besondere Platz wie die generelle Erfüllung der Steuerpflichten des Unternehmens. Nach dem im Dezember 2022 vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2021/2101 (BT-Drucks. 20/5653 – Vorabfassung), der am 15.3.2023 in der ersten Lesung im Bundestag behandelt werden soll, soll sich dies ändern. Auf die Geschäftsleitung von international tätigen Unternehmen mit Sitz in Deutschland, die über ausländische Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften einem Umsatz von über 750 Mio. € erzielen, kommt die Pflicht zur öffentlichen Berichterstattung im Sinne eines public Country bei Country Reporting zu. Durch die offengelegte Information über die in den einzelnen Ländern, in denen das Unternehmen durch Zweigniederlassungen oder durch seine Tochtergesellschaften tätig ist, gezahlten Steuern soll eine öffentliche Kontrolle dieser Steuerinformationen ermöglicht und letztlich die Steuerflucht bekämpft werden. Der neue von den Unternehmen jährlich zu erstellende Ertragsteuerinformationsbericht geht über die bereits heute bestehende steuerliche Angabepflicht dieser Unternehmen gegenüber der Finanzbehörde nach § 138a AO zum Country bei Country Reporting hinaus.

Der entsprechende Bericht soll von der Geschäftsleitung (Vorstand/Geschäftsführung) dem Aufsichtsrat unverzüglich nach der Erstellung ebenso zur Prüfung vorgelegt werden wie der Jahresabschluss und der Lagebericht bzw. bei Mutterunternehmen auch der Konzernabschluss und der Konzernlagebericht (s. §§ 170, 171, 283 AktG-E und Begr. RegE, BT-Drucks. 20/5653, 66 – Vorabfassung). Die neue Prüfungspflicht des Aufsichtsrats lässt seine generelle Überwachungsaufgabe hinsichtlich der Geschäftsführung nach in § 111 Abs. 1 AktG außer Betracht, die die Überwachung der Beachtung der einschlägigen Gesetze durch das Unternehmen (Legalitätspflicht) einschließt. Soweit über den allgemeinen Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats hinaus neue besondere Kontroll- und Überwachungspflichten begründet werden sollen, bedarf es dazu eines sachlichen Grundes. Dieser ist hinsichtlich des Ertragsteuerinformationsberichts nicht erkennbar. Ebenso wenig ist ersichtlich, weshalb die Prüfung des Berichts zwingend im Aufsichtsratsplenum stattfinden soll und nicht an einen Aufsichtsratsausschuss zur Erledigung delegiert werden darf. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, welchen besonderen Beitrag die Aufsichtsratsmitglieder, die in der Regel über keine besondere Kompetenz in Steuerfragen verfügen (und auch nicht verfügen müssen), bei der Prüfung des Ertragsteuerinformationsberichts beisteuern können, zumal sowohl in der Richtlinie wie auch im Gesetzentwurf eine inhaltliche Prüfung des Berichts durch den Abschlussprüfer, auf die der Aufsichtsrat zur Erledigung seiner Prüfung zurückgreifen könnte, ausdrücklich nicht vorgesehen ist. In der EU-Richtlinie 2021/2104 ist eine ausdrückliche Anordnung zur speziellen Prüfung des Berichts durch den Aufsichtsrat nicht enthalten. Vielmehr reicht es danach aus, dass die Erstellung und Offenlegung des Berichts durch den Vorstand der allgemeinen Überwachungspflicht des Aufsichtsrats im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeiten unterliegt.

Die Aufgaben des Aufsichtsrats sind in den letzten Jahrzehnten sowohl durch die tatsächliche Entwicklung aber auch durch Entscheidungen des europäischen oder nationalen Gesetzgebers stetig gewachsen. Vor diesem Hintergrund ist im Sinne einer schonenden Richtlinienumsetzung Zurückhaltung geboten, dem Aufsichtsrat zusätzliche, besondere obligatorische Prüfungsaufgaben zuzuweisen, die in der EU-Richtlinie so nicht vorgesehen sind. Erst recht erscheint es nicht nachvollziehbar, wenn stillschweigend erwartet würde, dass der Aufsichtsrat aus eigner Initiative und Verantwortung die vom Gesetzgeber nicht für erforderlich gehaltene inhaltliche Prüfung des Ertragsteuerinformationsberichts durch den Abschlussprüfer zusätzlich in Auftrag gibt, um seiner Prüfungspflicht nachkommen zu können. Im Sinne guter Corporate Governance muss es vielmehr gerade das Ziel sein, den Aufsichtsrat vor Überlastung durch ein überbordendes Programm von Pflichtaufgaben zu bewahren, um ihm die effektive Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe hinsichtlich der grundlegenden Fragen der Unternehmensführung durch den Vorstand sowie der strategischen Fragen zu ermöglichen. Hinsichtlich des public Country bei Country Reporting genügt es, wenn die Pflicht zur Erstellung des Ertragsteuerinformationsberichts der allgemeinen Überwachung des Aufsichtsrats unterliegt, was durch die Vorschrift von § 111 Abs. 1 AktG bereits heute gewährleistet ist.

Aufsichtsratsvergütung und Umsatzsteuer – jetzt doch nur scheinbar geklärt?

Mit Urteil vom 27.11.2019 (V R 23/19 und V R 62/17) hatte der Bundesfinanzhof (BFH) unter anderem entschieden, dass Mitglieder des Aufsichtsrats hinsichtlich der Umsatzsteuererstattungen durch die Aktiengesellschaften nicht mehr als Unternehmer anzusehen seien. Die dadurch sich in der Praxis stellenden Fragen, insbesondere zu Übergangsregelungen, hatte das Bundesfinanzministerium (BMF) Mitte letzten Jahres dann geklärt – siehe BMF-Schreiben vom 8.7.2021 – III C 2 – S 7104/19/10001:003. Tragender Grund für die Versagung der Umsatzsteuer durch BFH wie BMF war das fehlende Unternehmer- bzw. Vergütungsrisiko der Aufsichtsratsmitglieder.

Die Praxis hat sich damit – roma locuta, causa finita – mittlerweile eingerichtet. Doch die schöne neue Weltordnung des V. Senats ist nun mit einem neuen Urteil zur Geschäftsführerhaftung des VI. Senats des BFH (Urteil vom 8.3.2022 – VI R 19/20) überraschend ins Wanken gebracht. Denn für diesen sind Aufwendungen für eine Haftungsinanspruchnahme unzweifelhaft lohn- und einkommensteuerlich Werbungskosten.

Geht man mit dieser (an sich überzeugenden) Einwertung zurück zur Aufsichtsratstätigkeit bzw. Vergütung, zeichnet sich mit Blick auf die latente Organhaftung aus § 116 AktG ein neues Bild. Da die Umsatzsteuerbarkeit von Aufsichtsratsvergütung aber nicht davon abhängen kann, ob man in/für ein Geschäftsjahr in Regress genommen wird, könnte die neue Entscheidung des VI. Sentas unseres Erachtens dafür sprechen, die Überlegungen des V. Senats, dem das aktienrechtliche Haftungsregime damals (noch?) nicht ausreichte, neu zu hinterfragen. Kurzum, die Diskussion ist hiermit eröffnet.

Zu Aufsichtsratsvergütung und Umsatzsteuer vgl. Mutter, AG 2019, R263; Vobbe/Stelzer, AG 2022, 519. Zum Urteil des BFH v. 8.3.2022 – VI R 19/20 vgl. Binnewies/Hischer, AG 2022, 771.

Sustainable Shareholder Activism – bald auch in Deutschland?

Im ersten Teil des Beitrags wurden die globalen Entwicklungen rund um den Sustainable Shareholder Activism beleuchtet. Dabei wurde insbesondere das Beispiel Exxon Mobile aufgegriffen. Sicherlich stellt das in Teil I beschriebene Beispiel eines ESG-Aktivismus Exxon Mobile einen Sonderfall dar und natürlich gilt generell, dass die Sitten an den US-amerikanischen Kapitalmärkten rauer sind und zumindest in Kontinentaleuropa die dortigen Gebräuche zwar nachvollzogen werden, aber meist weit weniger akzentuiert. Dennoch wird man auch in Deutschland damit zu rechnen haben, dass bei zukünftigen Kampagnen und Initiativen aus dem Aktionariat ESG-Themen eine wachsende Bedeutung erlangen werden.

I. Keine Hauptversammlungszuständigkeit für ESG-Themen

Dem deutschen Aktienrecht ist ein rein konsultatives Votum ohne Bindungswirkung, das der Hauptversammlung die Beschäftigung mit mehr oder weniger beliebigen Themen zur Aufgabe machen könnte, grundsätzlich fremd. Die Hauptversammlung ist im Ausgangspunkt nur in den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen zuständig, wobei ausdrückliche Zuständigkeiten im Bereich ESG bisher fehlen. Trotz der Aufwertung, die Nachhaltigkeit aktuell auch bei Unternehmen und ihren Anteilseignern erfährt, wird man selbstverständlich auch keine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung in ESG-Themen nach den Grundsätzen der Holzmüller-Gelatine-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes annehmen können. Voraussetzung und Rechtsfolgen dieser Rechtsprechung sind für andere Fälle entwickelt worden und passen kaum auf Bemühungen, den ökologischen und sozialen Fußabdruck der Gesellschaft zu verbessern.

II. Möglichkeiten eines Sustainable Shareholder Activism nach deutschem Recht

Wenn auch dem deutschen Recht das Instrument des shareholder proposal als Instrument der Wahl eines Sustainable Shareholder Activism fremd ist, ist nachhaltigkeitsbezogener Aktionärsaktivismus nicht qua Gesetzes unmöglich. Vielmehr stehen auch hier Anteilseignern grundsätzlich die drei bereits benannten allgemeinen Instrumente zur Durchsetzung einer ESG-Agenda zur Verfügung: Nutzung der Aktionärsrechte, trategiegespräche mit der Zielgesellschaft und allgemeines Werben für die eigene Agenda gegenüber der Gesellschaft oder Öffentlichkeit.

1. Ausübung von Aktionärsrechten

Das deutsche Aktienrecht steht bekanntlich auf dem Standpunkt, dass die Aktionäre ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft – grundsätzlich nur – in der Hauptversammlung ausüben (§ 118 AktG). Wenn auch ein „say on climate“ oder ein „say on ESG“ dem deutschem Aktienrecht grundsätzlich unbekannt sind (umfassend Harnos/Holle, AG 2021, 853), existieren multiple Möglichkeiten, die Nachhaltigkeitspolitik der Gesellschaft im Rahmen der Hauptversammlung zu thematisieren, kommentieren und bis zu einem gewissen Grade einer Abstimmung zu unterwerfen.

(1) Durch die nicht-finanzielle Berichterstattung nach §§ 289b ff., §§ 315b f. HGB sind die ESG-Anstrengungen der Gesellschaft (bzw. ein nach dem comply-or-explain-Prinzip erklärter Verzicht) integraler Bestandteil der Rechnungslegung.

(2) Da Gegenstand der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat letztlich die gesamte Unternehmensführung des abgelaufenen Geschäftsjahrs ist, kann diese zu einem Urteil über die Corporate Responsibility-Bemühungen des abgelaufenen Geschäftsjahres gemacht werden. Die gerade aktualisierten Proxy Voting Guidelines u.a. der Stimmrechtsberater (ISS, Glass Lewis) wie auch die hauseigenen Abstimmungsrichtlinien großer Vermögensverwalter wie BlackRock für die Hauptversammlungssaison 2022 lassen denn auch tatsächlich eine Tendenz erkennen, diagnostizierte Defizite im ESG-Bereich entweder bei Wahlen oder aber im Rahmen der Entlastung zu adressieren bzw. sanktionieren.

(3) Nächster naheliegender und auch durch das Aktiengesetz gewiesener Hebel sind die Beschlussfassungen zu Vergütungssystem und Vergütungsbericht, nachdem das Vergütungssystem nunmehr ausdrücklich Angaben zur Ausgestaltung von eventuell vorhandenen vergütungsrelevanten Nachhaltigkeitsparametern zu enthalten hat.

(4) Da das Aktiengesetz Geschäftsführung und Leitung der Gesellschaft bzw. des Unternehmens in die Hände des Vorstands legt (§§ 76, 77 AktG) und die Hauptversammlung damit weitgehend von operativen Entscheidungen ausschließt, stellen die Wahlen zum Aufsichtsrat wohl den wichtigsten Hebel für Aktionäre dar, (mittelbar) Einfluss auf die ESG-Politik der Gesellschaft zu nehmen. Das Beispiel Exxon Mobile/Engine No. 1 zeigt, dass Aufsichtsratswahlen durchaus auch als Kampfabstimmung unter ESG-Gesichtspunkten instrumentalisiert werden können. Dass das deutsche Recht in diesem Zusammenhang das Instrument der Wahl US-amerikanischer Kampagnen, die proxy solicitation nicht kennt, ist nur bedingt ein Hinderungsgrund. Auch nach deutschem Recht bestehen hinreichende Möglichkeiten, eine Kampagne zu organisieren. Zudem wirken sich zugunsten potenzieller Aktivisten die strukturellen Verschiebungen im Aktionariat von Publikumsgesellschaften seit Beginn der 90er des letzten Jahrhunderts aus (allgemein Gilson/Gordon, Colum. L. Rev. 113 (2013), 863; 864 f.; Gilson/Roe, Yale L. J. 102 (1993), 871, 878). Die Substitution echten Streubesitzes (dispersed ownership) nach dem Muster der Berle-Means-Corporation (Berle/Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932; hierzu etwa Gilson/Roe, Yale L. J. 102 (1993), 871, 876 ff.) durch große institutionelle Investoren reduziert die mit einer Kampagne verbundenen Such-, Anbahnungs- und Abschlusskosten drastisch. Im Einzelfall kann es genügen, sich der Unterstützung durch eine überschaubare Anzahl institutioneller Investoren zu versichern, um den Erfolg des eigenen Vorhabens zu gewährleisten. Zumindest naheliegende Zielgesellschaften von ESG-Aktivisten wie traditionelle Energieversorger, Rohstoffkonzerne etc. werden zukünftig mehr als nur einen Seitenblick darauf zu werfen haben, ob die eigenen Kandidaten nicht nur von ihrer finanzwirtschaftlichen Expertise, Herkunft und Hintergrund geeignet erscheinen, sondern ob sie auch den ESG-Ansprüchen der Mehrheit der Anteilseigner genügen. Die nach AktG und DCGK geschuldeten Angaben zu den eigenen Kandidaten der Gesellschaft für die Besetzung des Aufsichtsrats bieten hier eine Möglichkeit, diese Themen proaktiv zu adressieren und mögliche Zweifel an der ESG-Expertise des Aufsichtsrats erst gar nicht aufkommen zu lassen.

(5) Ein unter Berücksichtigung der bisherigen Praxis deutscher Publikumsgesellschaften vorläufig wohl nur theoretisches echtes Einfallstor für die Einflussnahme auf konkrete Aspekte der ESG-Agenda wäre § 119 Abs. 2 AktG, mit dem die Zuweisung der operativen und strategischen Entscheidungen an die Hauptversammlung bis zu einem gewissen Grad unter Vorbehalt gestellt werden (zu § 119 Abs. 2 AktG etwa Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721; speziell im vorliegenden Kontext jetzt Harnos/Holle, AG 2021, 853, 858 und im Gesellschaftsrechts-Blog).

(6) Die genannten Ansatzpunkte stehen nur beispielhaft. Auch bei anderen Maßnahmen wie etwa Fusionen & Übernahmen, die etwa über den Umweg des Umwandlungsrechts ein Votum der Aktionäre verlangen, werden neben strategischer Logik, finanzwirtschaftlicher Angemessenheit von Preis bzw. Umtauschverhältnis ESG-Fragen wohl einer strengeren Prüfung durch Investoren unterzogen werden.

2. Engagement

Das deutsche Aktienrecht steht auf dem Standpunkt, dass die Aktionäre ihre Rechte grundsätzlich (nur) in der Hauptversammlung ausüben. Dass allerdings Investorenkontakte auch in der Bundesrepublik ein Faktum sind, mit dem Beratung und Rechtsprechung umgehen müssen, belegt die jüngere Debatte um die Zulässigkeit von Investorenkontakten des Aufsichtsrats, die ihr zwar nicht rechtsverbindliches vorläufiges Ende damit gefunden hat, dass der DCGK unter A.3 nunmehr anregt, dass der Aufsichtsratsvorsitzende in angemessenem Rahmen bereit sein sollte, Gespräche mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen zu führen (hierzu etwa Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360; J. Koch, AG 2017, 129; E. Vetter, AG 2016, 873). Aus Sicht der Unternehmen bieten entsprechende vertrauliche Gespräche die Möglichkeit, sensible Themen nicht in der-zumindest halböffentlichen Arena der Hauptversammlung ausfechten zu müssen, die durchaus vorhandenen juristischen Untiefen entsprechender Kontakte sind aber ernst zu nehmen und ex ante zu minimieren (Insiderrecht, selektive Vorabinformation und informationelle Gleichbehandlung etc.). Bereits diese tour d’horizon zeigt, dass trotz ihres zunehmenden Routine-Charakters die entsprechenden Gespräche mit wesentlichen Investoren aufgrund zahlreicher Fallstricke nicht nur inhaltlich, sondern auch juristisch sorgfältig vorbereitet und begleitet werden sollten.

3. Advocacy / Kampagnen

Institutionelle Investoren und Aktivisten entwickeln darüber hinaus generell oder im Einzelfall erhebliche Öffentlichkeitsarbeit, um die eigenen Themen und Anliegen zum Erfolg zu führen, wobei Form und Inhalte nach Investorentypus und Anlass differieren. Unter der Überschrift Advocacy, worunter sich klassisches Lobbying, die Mitgliedschaft in Verbänden (z.B. United Nations Principles for Responsible Investing (PRI)) und die eigene Unternehmenskommunikation fassen lassen, engagieren sich insbesondere die großen Vermögensverwalter für die Einführung nachhaltigkeitsbezogener best practices durch die Portfoliounternehmen. So werben etwa die Großen Drei seit geraumer Zeit für die Beachtung und Vereinheitlichung der noch zahlreichen und teilweise in Konkurrenz zueinander stehenden Standards für eine nachhaltige Berichterstattung.

Hinzutreten fokussierte Medienkampagnen. Sowohl traditionelle institutionelle Investoren wie auch Aktivisten greifen in diesem Zusammenhang häufig auf eine – eventuell parallel öffentlich bekanntgegebene – Eingabe an den Vorstand zurück, in der die eigenen Ziele formuliert werden (Letter writing campaign). Bei Aktivisten steht eine entsprechende Eingabe nicht selten am Anfang einer weit umfänglicher angelegten Kampagne, in der durch kumulierten Einsatz aller zur Verfügung stehenden rechtlichen und tatsächlichen Instrumente versucht wird, maximalen Druck aufzubauen, um die Einigungsbereitschaft der Verwaltung zu erhöhen. Als Lehrbuchbeispiel taugt auch insoweit der „Fall“ Exxon Mobile, der mit der öffentlichen Aufforderung des Investors Enkraft Capital an den Vorstand der RWE, sich aus dem Kohlegeschäft zurückzuziehen und einen stärkeren Fokus auf erneuerbare Energien zu legen, bereits einen ersten Nachahmer in der Bundesrepublik gefunden hat.

III. Fazit

Das Thema ESG ist mittlerweile bei Unternehmen und Investoren nicht nur als Marketing- und Recruiting-Instrument angekommen. Nachdem auch Gerichte und Gesetzgeber zunehmend verbindliche Anforderungen an ESG formulieren, ist es zugleich als harter Erfolgsfaktor der Unternehmensführung erkannt worden. Wie die zunehmende Zahl von Beispielen aus dem Schrittmacherstaat Vereinigte Staaten zeigt, müssen sich Publikumsgesellschaften darauf einstellen, dass Forderungen nicht mehr nur durch Gesetzgeber und Rechtsprechung formuliert werden, sondern auch aus den Reihen der eigenen Anteilseigner. Insbesondere zentrale Akteure wie die „Großen Drei“ und ihre europäischen Pendants räumen ESG-Fragen auf ihrer Dringlichkeitsskala aktuell eine hohe Priorität ein.

Angesichts dieses Befundes sind die auch die deutschen Publikumsgesellschaften gehalten, sich auf entsprechende Forderungen ihrer Anteilseigner, die notfalls auch mit den zur Verfügung stehenden Aktionärsrechten durchzusetzen versucht werden, vorzubereiten. Der Umstand, dass das deutsche Aktienrecht zumindest grundsätzlich keine unmittelbare Befassung der Hauptversammlung mit ESG-Themen vorsieht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aktionären Instrumente für die Implementierung von ESG-Zielvorstellungen zur Verfügung stehen. Möglichkeiten und Konsequenzen eines Sustainable Shareholder Activism sollten deshalb bei zukünftigen Planungen auf der Agenda stehen und proaktiv adressiert werden.

Ein ausführlicher Aufsatz des Autors zum Sustainable Shareholder Activism erscheint demnächst in der AG.

Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag der Ampel

Am Mittwoch, den 24.11.2021, haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP den Koalitionsvertrag präsentiert, der auf den Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ lautet. Bei der Lektüre des 178 Seiten langen Textes fällt auf, dass die Ampel-Koalition zwei unternehmensrechtliche Themen, die früher Gegenstand von Wahlkämpfen waren, nicht aufgreift: die Geschlechterquote in den Gesellschaftsorganen und die Managervergütung. Augenscheinlich ist das Unternehmensrecht in diesem Zusammenhang fortschrittlich genug und muss nicht angetastet werden. Im Hinblick auf die Reformen der vergangenen Jahre bleibt zu hoffen, dass sich die Koalitionäre an ihr Schweigen halten. Der Schwerpunkt der unternehmensrechtlichen Reformvorhaben liegt in anderen Bereichen, die im Folgenden dargestellt werden.

Sorgfaltspflichten in den Lieferketten

Am Ende der vergangenen Legislaturperiode hat der deutsche Gesetzgeber das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG; BGBl. I 2021, S. 2959) verabschiedet (zum Entwurf vom März 2021 Reich, AG 2021, R116; Scheffler, AG 2021, R120; zur Endfassung Scheffler, AG 2021, R199). Außerdem hat das Europäische Parlament im März 2021 einen Legislativvorschlag zur Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen präsentiert. Der für Herbst 2021 erwartete Richtlinienentwurf der EU-Kommission liegt bislang nicht vor. An diese Entwicklung anknüpfend halten die Ampel-Koalitionäre auf S. 34 fest, dass sie ein wirksames EU-Lieferkettengesetz unterstützen, das kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Das deutsche LkSG werde unverändert umgesetzt und ggf. verbessert. Insgesamt wäre die Bundesregierung wohl gut beraten, zunächst die Entwicklungen auf europäischer Ebene abzuwarten und ggf. zu versuchen, sie zu beeinflussen. Erst wenn das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene ins Stocken geraten oder gar scheitern sollte, wäre es zweckmäßig, das LkSG nachzubessern.

Whistleblowing

Anders als das LkSG hat es ein Hinweisgeberschutzgesetz in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr über die Ziellinie geschafft. In dieser Legislaturperiode ist hiermit sicher zu rechnen, da die Whistleblowing-Richtlinie (EU) 2019/1937 vom 23.10.2019 den Mitgliedsstaaten Regelungen zum Whistleblowing zwingend zur Umsetzung vorgibt. Da die Umsetzungsfrist bereits am 17.12.2021 endet, wäre es nicht überraschend, wenn das Whistleblowing zu denjenigen unternehmensrechtlichen Themen zählt, die die Ampel-Koalitionäre prioritär angehen.

Die Essenz der Umsetzung deutet der Koalitionsvertrag auf S. 111 nur vage an. Zu begrüßen ist die ausdrückliche Festlegung, insofern über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinauszugehen, als das angestrebte Regime nicht auf die Meldung von Verstößen gegen EU-Recht beschränkt bleiben soll, sondern auch bestimmte Verstöße gegen nationale Vorschriften umfasst sein sollen. Abgesehen hiervon wäre es der Rechtssicherheit und Praktikabilität dienlich, wenn der Gesetzgeber Klarheit hinsichtlich der Frage schafft, ob und inwieweit Hinweisgebersysteme im Konzern einheitlich betrieben werden können (hierzu Holle, ZIP 2021, 1950). Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger stellen die Ampel-Koalitionäre unter einen Prüfvorbehalt, so dass abzuwarten bleibt, inwieweit sie sich dazu durchringen werden, Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote vorzusehen.

Verbandssanktionen

Kein unionsrechtlicher Umsetzungsdruck besteht beim Thema Verbandssanktionierung. Die gegenwärtige Rechtslage wird von vielen aus guten Gründen aber als unbefriedigend empfunden; die in der letzten Legislaturperiode anvisierte Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung ist auf der Zielgeraden gescheitert. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Koalitionsvertrag sich ihrer auf S. 111 neuerlich annimmt. Ob sich dahinter eine ähnlich weitreichende Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung verbirgt, wie sie der in der vergangenen Legislaturperiode vorliegende Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes (VerSanG; BT-Drucks. 19/23568) bedeutet hätte, ist fraglich. Tendenziell klingt es nach einer kleinen Lösung, die sich mit einer Anhebung der Bußgeldobergrenzen, der Normierung einer Compliance-Defense sowie gewisser Regelungen zu internen Untersuchungen im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts begnügt.

GmbH mit gebundenem Vermögen

Ein klares Bekenntnis geben die Ampel-Koalitionäre auf S. 30 des Vertrags zu einer neuen Rechtsform ab, die im Schrifttum sehr umstritten ist: die Gesellschaft mit gebundenem Vermögen (für die Einführung einer solchen Gesellschaftsform Sanders/Dauner-Lieb/Kempny/Möslein/Veil, GmbHR 2021, 285; dagegen etwa Habersack, GmbHR 2020, 992). Den Einsatz dieser Rechtsform als Vehikel für Steuersparkonstruktionen will die künftige Regierung vermeiden (auf diese Gefahr hinweisend Hüttemann/Schön, DB 2021, 1356; relativierend Kempny, DB 2021, 2248). Ungeachtet der steuerrechtlichen Probleme sollte der Gesetzgeber überprüfen, ob es einer solchen Gesellschaftsform tatsächlich bedarf, um die angestrebten Ziele zu erreichen (eingehend Hüttemann/Rawert/Weitemeyer, npoR 2020, 296).

GmbH-Gründungsrecht

Darüber hinaus verpflichten sich die Koalitionäre auf S. 111 f. des Vertrags, die Gründung von Gesellschaften zu erleichtern, indem sie Beurkundungen per Videokommunikation auch bei Gründungen mit Sacheinlage und weiteren Beschlüssen erlauben. Die Ampel dürfte damit in erster Linie die GmbH im Blick gehabt haben. Auch wenn keine sachlichen Gesichtspunkte gegen eine elektronische AG-Gründung sprechen, dürfte dies trotz aller Fortschrittsbekundungen auch künftig keine Option sein.

Der Koalitionsvertrag setzt an § 2 Abs. 3 GmbHG i.d.F. des DiRUG (BGBl. I 2021, S. 3338) an, wonach nur eine elektronische GmbH-Bargründung möglich ist. Diese Einschränkung, die im Schrifttum kritisiert wurde (s. nur Drygala/Grobe, GmbHR 2020, 985 Rz. 32 ff.), soll in der Zukunft entfallen, was nachdrücklich zu begrüßen ist. Die Unternehmensgründung soll zudem durch eine umfassende Start-Up-Strategie gefördert werden, zu der u.a. die Einführung von flächendeckenden „One Stop Shops“ (Anlaufstellen für Gründungsberatung, -förderung und -anmeldung) gehört. In solchen „One Stop Shops“ sollen Unternehmensgründungen innerhalb von 24 Stunden möglich sein (S. 30 des Koalitionsvertrags).

Hauptversammlungsrecht

Auf einhellige Zustimmung dürfte die auf S. 112 des Koalitionsvertrags angekündigte dauerhafte Einführung von Online-Hauptversammlungen fallen. Die auf Corona-Sondergesetzgebung gestützte Online-Hauptversammlung (s. § 1 COVMG) hat sich im Groben und Ganzen bewährt (zur Empirie s. nur Danwerth, AG 2021, 613) und kann als Blaupause für die anstehende Aktienrechtsreform dienen.

Spannend bleibt die Frage, wie die Aktionärsrechte im künftigen Hauptversammlungsrecht ausgestaltet werden. Die Ampel-Koalition verspricht, jene uneingeschränkt zu wahren. Dies deutet darauf hin, dass die Regelungen in § 1 Abs. 1, 2 und 7 COVMG, die das Rede-, Auskunfts- und Anfechtungsrecht der Aktionäre beschränken, nicht ins Aktiengesetz überführt werden (speziell zur Aktionärskommunikation Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 und VGR, AG 2021, 380 Rz. 8 ff.). Ungeachtet der rechtspolitischen Diskussionen um die Reichweite der Aktionärsrechte sollte das BMJ zügig einen Referentenentwurf präsentieren, damit die Unternehmen nach den Erfahrungen mit § 1 COVMG in der Hauptversammlungssaison 2023 nicht wieder im vordigitalen Zeitalter landen (zu COVMG-Verlängerungen und der Zeitschiene für die Aktienrechtsreform Danwerth, AG 2021, R283 f.).

Die Ampel-Koalition sollte die Digitalisierung der Hauptversammlung dafür nutzen, auch das Beschlussmängelrecht zu reformieren. Die Große Koalition, die eine solche Reform auf S. 131 des Koalitionsvertrags für die 19. Legislaturperiode angekündigt hatte, hat ihr Versprechen trotz umfassender rechtspolitischer Vorschläge nicht umgesetzt (s. nur die Beschlüsse des 72. Deutschen Juristentags, S. 27 ff. und die Vorschläge des AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617).

Überdies sollte die künftige Regierung erwägen, die Möglichkeit einer digitalen Versammlung auch für die Gesellschaftsorgane und andere Gesellschaftsformen auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen. Wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, besteht nicht nur für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ein Bedarf an virtuellen Sitzungen.

Elektronische Aktie

In der 19. Legislaturperiode hat der Gesetzgeber mit dem eWpG (BGBl. I 2021, S. 1423) die Möglichkeit geschaffen, elektronische Wertpapiere zu begeben (hierzu nur Sickinger/Thelen, AG 2020, 862; Sickinger/Thelen, AG 2021, R198). Gleichwohl beschränkt sich das Gesetz gem. § 1 eWpG auf Inhaberschuldverschreibungen; die Begebung elektronischer Aktien ist nicht möglich (s. Begr. RegE, BT-Drucks. 19/26925, 38). Dies könnte sich in der 20. Legislaturperiode ändern: Beiläufig erwähnt der Koalitionsvertrag auf S. 172 unter der Überschrift „Digitale Finanzdienstleistungen und Währungen“, die Emission elektronischer Aktien zu ermöglichen (zu den gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen Guntermann, AG 2021, 449).

Kapitalmarktrecht

Positiv ist zu würdigen, dass sich die Ampel auf den S. 169 ff. des Koalitionsvertrags zur Vertiefung der Kapitalmarktunion bekennt und die Barrieren für grenzüberschreitende Kapitalmarktgeschäfte in der EU abbauen, den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt erleichtern und die Markttransparenz stärken möchte. Auch die Schaffung eines angemessenen regulatorischen Rahmens für FinTechs und vergleichbare Unternehmen ist zu begrüßen. Gleichwohl sollte die künftige Regierung bei all der Regulierungsfreude bedenken, dass sich die enorme Regelungsdichte im Kapitalmarktrecht als ein Grund dafür erweist, den Kapitalmärkten fernzubleiben. Vor diesem Hintergrund sollte die Ampel erwägen, ob weniger (und klarer!) nicht doch mehr ist.

Mitbestimmungsrecht

Auf S. 72 kündigen die Koalitionäre an, sich für die Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung einzusetzen, so dass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Das klingt für zahlreiche Gesellschaften, die (noch) nicht der Unternehmensmitbestimmung unterliegen, wie eine Einladung zur zügigen Umwandlung in eine SE, um rechtzeitig die derzeit bestehende Möglichkeit auszunutzen, das Mitbestimmungsstatut einzufrieren.

Prozessrecht

Aus der Perspektive des Unternehmensrechts interessant sind die Aussagen auf S. 108 des Koalitionsvertrags, wonach das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) – das in der 19. Legislaturperiode ohne inhaltliche Änderungen verlängert wurde (BGBl. I 2020, S. 2186) – modernisiert werden soll und englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten ermöglicht werden sollen.

Steuer- und Geldwäscherecht

Fernwirkungen auf das Unternehmensrecht dürften manche steuer- und geldrechtlichen Pläne haben. So sprechen die Koalitionäre auf S. 167 des Vertrags davon, aufbauend auf den Maßnahmen der letzten Legislaturperiode missbräuchliche Dividendenarbitragegeschäfte zu unterbinden. Ein weiteres Reformversprechen betrifft das Transparenzregister. Auf S. 171 f. des Koalitionsvertrags kündigt die künftige Regierung an, die Qualität der Daten im Transparenzregister zu verbessern, so dass die wirtschaftlich Berechtigten in allen vorgeschriebenen Fällen tatsächlich ausgewiesen werden.

Mehr zum Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag im AG-Report 24/2021.

Das Update zum „Update Frauenquote“ – das FüPoG II

Im Anschluss an das vor knapp einem Jahr veröffentlichte „Update Frauenquote“ zum FüPoG II (s. Mutter, „‘Update Frauenquote‘ – das FüPoG II“, Blog Gesellschaftsrecht v. 28.2.2020) ist über den mittlerweile vorliegenden Regierungsentwurf zu berichten (abrufbar https://www.bmfsfj.de/blob/164128/e8fc2d9afec92b9bd424f89ec28f2e5b/gesetzentwurf-aenderung-fuepog-data.pdf). Wie damals prognostiziert, findet sich ein Kern der Initiative in der Ausweitung der Quotenregelungen. Für bestimmte börsennotierte und mitbestimmte Aktiengesellschaften sowie solche mit qualifizierter Beteiligung des Bundes muss fortan der Vorstand, falls er aus mehr als drei Mitgliedern bestehen sollte, mit mindestens einer Frau und mindestens einem Mann besetzt sein. Überraschend angesichts der ausufernden Staatshilfen in der COVID-19-Pandemie ist, dass man Gesellschaften, die durch Bund „gerettet“ wurden, nicht ebenfalls den verschärften Anforderungen unterwirft.

Rechtspolitisch fällt auf, dass der Regierungsentwurf mit der Regulierung jeweils nur eines Sitzes im Vorstand deutlich hinter den laufenden europäischen Überlegungen (dazu letzthin Mutter, AG 2020, 830) zurückbleibt, die auf einen Mindestanteil von 40 % Frauen und Männern in Vorstand und Aufsichtsrat zielen. Der Regierungsentwurf verdient daher insoweit wohl eher das Prädikat einer „kleinen Einstiegsregulierung“ anstatt besonderes Lob für einen mutigen Schritt. Auch hat man sich in Berlin noch keine Gedanken dazu gemacht, ob Übererfüllungen in einen der beiden Verwaltungsorgane zu „Anrechnungen“ im anderen führen könnten, wie das auf europäischer Ebene im Richtlinienentwurf schon lange angedacht ist.  Nur für Rechtsdogmatiker interessant ist hingegen wohl, dass man mit dem Regierungsentwurf durch die neuen Quoten zugunsten zweier Geschlechter anscheinend auf eine verfassungsrechtliche Absicherung der Neuregelung durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. Mutter in FS E. Vetter, 2019, S. 489, 494) verzichtet.

Alles Weitere bewegt sich mehr oder minder im Kreis der Erwartungen: Wie bereits im ersten Update (s. Mutter, „‘Update Frauenquote‘ – das FüPoG II“, Blog Gesellschaftsrecht v. 28.2.2020) berichtet, soll nach neuem Recht die Festlegung der Zielgröße „Null“ für den Vorstand, die beiden obersten Führungsebenen unterhalb des Vorstands und den Aufsichtsrat begründet werden. Im Handelsbilanzrecht werden nach Vorstellung der Bundesregierung jeweils flankierende Berichtspflichten und Sanktionen eingeführt.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt im AG-Report 4/2021.

Synopse zum Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK)

Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) wurde mit der Neufassung 2020 weitreichend überarbeitet. Auf der Homepage der Zeitschrift Die Aktiengesellschaft – AG bieten wir Ihnen eine Übersicht der Änderungen im Überarbeitungsmodus sowie eine Gegenüberstellung der Fassungen 2017/2020 zum Download an, welche von Prof. Dr. Günter Reiner und Ass. jur. Felix Arlt (Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg) erstellt wurden. Ausführlich erläutert wird der Themenkomplex von Markus Roth im Aufsatz „Deutscher Corporate Governance Kodex 2020“, AG 2020, 278. Lesen Sie den Aufsatz kostenlos im 4-Wochen-Gratistest des Beratermoduls Otto Schmidt AG – Die Aktiengesellschaft.

Die umfangreichen Änderungen im DCGK wurden natürlich auch in der gerade erschienenen 4. Auflage 2020 des AktG-Kommentars von K. Schmidt/Lutter berücksichtigt. Online ist dieser z.B. im Aktionsmodul Gesellschaftsrecht verfügbar oder Sie schnuppern einfach in die Printausgabe rein.

„Update Frauenquote“ – das FüPoG II

Das Familien- und das Justizministerium arbeiten am Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, kurz genannt „FüPoG II“. Der aktuell zirkulierende Gesetzentwurf ist punktuell spektakulär:

  • Vorstände börsennotierter und paritätisch mitbestimmter Unternehmen müssen künftig mit wenigstens einer Frau besetzt werden, sofern dieser mehr als drei Mitglieder hat.
  • Die bewährten Regelungen zur fixen Aufsichtsratsquote sollen einen breiteren Anwendungsbereich erhalten und auf alle paritätisch mitbestimmten Unternehmen ausgeweitet werden, also etwa auch auf entsprechende Familienunternehmen.
  • Die bisherige „Geschlechterquote“ wird durch eine Fokussierung auf eine „Frauenquote“ abgelöst.

Angesichts der vielerorts in den Unternehmen gewählten Zielgröße „null“ zu erwarten war hingegen die nun geplante Einführung einer Begründungspflicht sowie die Nachschärfung des Sanktionsmechanismus bei Verletzung von Berichtspflichten im Zusammenhang mit der „flexiblen Quote“. Bei der Kritik an der „null“ wird mitunter übersehen, dass in der Erstanwendung des FüPoG I die Unternehmen auch damit umgehen mussten, dass obere Führungsebenen angefangen vom Aufsichtsrat in der damaligen Realität vielfach männlich dominiert waren. Insoweit lag es nahe und war vielleicht auch ein Gebot der Ehrlichkeit, dass man dort, wo beispielsweise männlich besetzte Vorstände langlaufende Verträge hatten, nicht reine Luftschlösser mit „sexy“ Quoten baute, sondern die Realitäten geltender Anstellungsverträge abbildete.

Auch die Ablösung der Geschlechterquote durch eine Frauenquote ist weniger gewichtig als es vermeintlich klingt. Sie war mit der Entscheidung des BVerfG zum dritten Geschlecht (BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVErfGE 147, 1–30) aufgrund des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 GG vorgezeichnet. Denn als reine „Frauenquoten“ hat man mit Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG eine feste Rechtsgrundlage (vgl. Mutter in FS Vetter, 2019, S. 489, 494).

Demgemäß dürfte der Schwerpunkt der Beratungen im Gesetzgebungsverfahren auf der Ausweitung der Quotenregelungen und der neuen Vorstandsquote liegen.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt im AG-Report 6/2020.

Änderungen im ARUG II auf der Zielgeraden

Horaz schrieb vor etwas mehr als 2000 Jahren „Es kreißen die Berge, zur Welt kommt nur ein lächerliches Mäuschen“ (Ars poetica). Daran fühlte sich bislang erinnert, wer die Beratungen des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) verfolgte, die trotz zweijähriger Umsetzungsfrist in Berlin nicht fristgerecht zum 10.6.2019 abgeschlossen werden konnten. Ein Schelm, wer angesichts des Zeitverzugs an das Menetekel BER denkt.

Dem Rechtsausschuss gebührt freilich das Verdienst mit seinen Beschlussempfehlungen vom 13.11.2019, denen man im Bundestag in zweiter und dritter Lesung am 14.11.2019 folgte, nochmals Fachwelt und Unternehmen in Aufregung zu versetzen (exemplarisch Michael H. Kramarsch, www.handelsblatt.com; 15.11.2019, 10:23 Uhr).

Damit sind natürlich nicht die kleineren redaktionellen Verbesserungen angesprochen, die ohnehin vielfach durch den Bundesrat angeregt und mithin nicht neu waren, sondern drei wesentliche Änderungen:

  1. Neuer (Pflicht)Bestandteil des vom Aufsichtsrat zu beschließenden Vergütungssystem ist nach § 87a Abs. 1 Nr. 1 AktG n.F. die Festlegung einer Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder. Diese Maximalvergütung kann die Hauptversammlung – auf Antrag nach § 122 Abs. 2 Satz 1 AktG (sic!) – herabsetzen.

    Zwar kann man die Gesetzesbegründung wohl nur so deuten, dass durch den Beschluss als solchen zwar „nur“ das Vergütungssystem bindend geändert wird, nicht aber mit Vorständen abgeschlossene Verträge. Wer jetzt aufatmet, übersieht aber, dass § 87 Abs. 2 AktG bereits lange Zeit de lege lata eine Eingriffsbefugnis des Aufsichtsrats in abgeschlossene Verträge enthält. Die Folgefrage, ob ein Aufsichtsrat einem Herabsetzungsbeschluss der Hauptversammlung nachfolgend diese Voraussetzungen prüfen sollte, beantwortet das Gesetz nicht. Es liegt auf der Hand, dass der befragte Anwalt sie unterschiedlich beantworten wird, je nachdem auf welcher Seite des Tisches man sitzt. Ein Indiz findet sich möglicherweise etwas versteckt an anderer Stelle im Gesetz; § 162 Abs. 1 Nr. 7 AktG n.F. sieht für den Vergütungsbericht vor „… eine Erläuterung, wie die festgelegte Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder eingehalten wurde.

    Interessant ist auch, dass es der Politik mit dem Herabsetzungsbeschluss sichtlich nicht um eine Feinadjustierung der Rechte von Aufsichtsrat und Hauptversammlung bzw. Aktionären ging, denn ansonsten müsste die Hauptversammlung auch das Recht haben, die Maximalvergütung anzuheben. Dass dafür aus Sicht internationaler Investoren, die jedenfalls im DAX schon länger die Mehrheiten stellen, mitunter Bedarf bestünde, blendet man in Berlin anscheinend geflissentlich aus.

    Im Zuge der Neuregelungen zum Vergütungssystem wurde im Übrigen (in § 87a Abs. 1 Nr. 2 AktG) auch feinjustiert, dass das System den Beitrag zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft aufzeigen soll.
     

  2. Vermeintlich nur redaktionell wurde am Wortlaut des § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG geändert; tatsächlich will der Bundestag hiermit aber, Zitat, „deutlich machen, dass der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Vergütung, insbesondere der Wahl der Vergütungsanreize auch soziale und ökologische Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen hat.“

    Der Zyniker könnte angesichts dessen versucht sein zu vermuten, dass die Großkoalitionäre schon einmal für die Mitarbeit in einer Bundesregierung üben, die ein grüner Kanzler führt. Jedenfalls führt das Zusammendenken dieses Fingerzeigs mit dem Drängen der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex auf eine Aufwertung aktienbasierter Vergütung im Zweifel geradewegs in eine aktienbasierte Vergütung, die sich dem Zeitgeist folgend am CO2 – Ausstoß festmacht („green share“).
     

  3. Schließlich wurde nach mehr als zweijähriger Beratung in den beiden letzten Tagen des Gesetzgebungsverfahrens die Wertschwelle des § 111b AktG für Zustimmungsvorbehaltes des Aufsichtsrats bei Geschäften mit nahestehenden Personen (vulgo „related parties transactions“) um glatte vierzig (40) Prozent abgesenkt. Das wird absehbar jene Unternehmen eiskalt erwischen, die sich sorgfältig auf das ARUG II vorbereitet hatten, aber auf eine Nichtbetroffenheit in Folge der tradierten Wertgrenze vertraut hatten. Dass man es hier trotzdem dabei belassen hat, dass es für die Anwendung der neuen Bestimmungen keine Übergangsregelung gibt, ist eigentlich ein kleiner Skandal. Denn Art. 2 sieht für die Anwendung des ARUG II im EG AktG umfangreiche Übergangsregelungen und -fristen vor, nicht aber für den Überraschungscoup des Rechtsausschusses vom 13.11.2019, dem sich der Bundestag anschloss – und das obwohl die Gesetzesbegründung ganz offen ausspricht, dass man damit die Anwendung des neuen Regimes auf weitere Unternehmen ausweiten will.