Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Am 12.4.2023 haben das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz den Referenzenentwurf eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG) veröffentlicht, dessen Eckpunkte bereits am 29.6.2022 präsentiert wurden (dazu etwa Kuthe, AG 2022, R208). Das Gesetz verfolgt das Ziel, den Kapitalmarkt moderner und leistungsfähiger werden zu lassen, um mehr privates Kapital für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren und den privaten Vermögensaufbau zu unterstützen (s. RefE ZuFunG, S. 1, 53 ff.). Im Folgenden finden Sie einen ersten Überblick über die Inhalte des Gesetzes.

Aktienrecht

Zahlreiche Vorschläge im Entwurf haben das Aktienrecht zum Gegenstand (s. dazu ausführlich Harnos, AG0054414):

  • Wie im Koalitionsvertrag der „Ampel“ angekündigt, soll die elektronische Aktie eingeführt werden. Dabei soll nicht nur der Anwendungsbereich des eWpG erweitert werden (s. § 1 eWpG-E und RefE ZuFinG, S. 106 ff., auch zu weiteren Änderungen des eWpG). Vielmehr sollen die Neuregelungen im eWpG durch Änderungen des Aktiengesetzes und des Depotgesetzes flankiert werden (s. § 10 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, Abs. 6 AktG-E, § 13 Satz 4 AktG-E, § 67 Abs. 1 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 91 ff.; zum Depotrecht Art. 14 ZuFinG-E und RefE ZuFinG, S. 106).
  • Ebenfalls im Koalitionsvertrag wurzeln die Regelungen zur Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktie (hierzu aus neuerer Zeit etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 17 ff.; Nicolussi, AG 2022, 753 ff.): Einerseits soll § 12 Abs. 2 AktG gestrichen werden. Andererseits sollen im neuen § 134 Abs. 2 AktG-E die Rahmenbedingungen für die Emission von Mehrstimmrechtsaktien geschaffen werden. Ergänzt werden die Vorschläge, die im Kontext des Entwurfs einer Mehrstimmrechtsaktien-RL zu lesen sind (dazu etwa Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Harnos, Blog-Beitrag vom 1.3.2023; Kuthe, AG 2023, R28, R29), durch Anpassungen des § 129 Abs. 1 Satz 2 AktG (Angaben im HV-Teilnehmerverzeichnis), § 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AktG (Feststellung über die Beschlussfassung in börsennotierten Gesellschaften) und § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG (Transparenz in Bezug auf Mehrstimmrechtsaktien). Schließlich sollen Mehrstimmrechtsaktien auch ins eWpG Eingang finden (vgl. RefE ZuFinG, S. 107).
  • Im Kapitalerhöhungsrecht sollen zum einen die Regelungen über den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss und das genehmigte Kapital liberalisiert werden: Die in § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG vorgesehene Kapitalgrenze und die Höchstbeträge in § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG sollen angehoben werden (im Einzelnen RefE ZuFinG, S. 100 ff.). Zum anderen schlägt der Entwurf eine Neukonzeption des Wertverwässerungsschutzes in § 255 AktG vor. Die derzeit geltende Anfechtungslösung in § 255 Abs. 2 AktG soll durch eine Ausgleichslösung ersetzt und durch eine Erweiterung des SpruchG flankiert werden (s. § 255 Abs. 2–6 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 103 ff.). Dabei soll der Unternehmenswert bei börsennotierten Gesellschaften anhand des durchschnittlichen Börsenkurses bemessen werden (s. § 255 Abs. 4 AktG-E, der sich an die Delisting-Regelung in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG anlehnt; vgl. dazu RefE ZuFinG, S. 104 f.).
  • Im neuen Abschnitt 4a des Börsengesetzes sollen Regelungen über Börsenmantelgesellschaften (SPACs) geschaffen werden (s. §§ 44 ff. BörsG und RefE ZuFinG, S. 85 ff.), die das – nach § 44 Abs. 7 BörsG-E BörsG subsidiär geltende – Aktienrecht in vielerlei Hinsicht modifizieren.
  • Schließlich soll die Regelung zum Nachweisstichtag in § 123 AktG präzisiert werden (s. RefE ZuFinG, S. 96).

Kapitalmarktrecht

Auch das Kapitalmarktrecht soll an einigen Stellen angepasst werden:

  • Die Voraussetzungen für die Börsenzulassung sollen durch eine Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 BörsZulVO moderat erleichtert werden: Der voraussichtliche Kurswert der zuzulassenden Aktien soll von mindestens 1,25 Mio. € auf mindestens 1 Mio. € herabgesetzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 78).
  • Um die Senkung der Zulassungskosten für die Emittenten zu ermöglichen, soll der neue § 32 Abs. 2a BörsG den Börsen mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Zulassungsvoraussetzungen in Teilbereichen des regulierten Marktes gewähren (s. RefE ZuFinG, S. 85); flankiert wird diese Änderung durch eine Anpassung des § 8 Satz 3 WpPG (s. RefE ZuFinG, S. 84).
  • Die Haftungsvorschriften für Schwarmfinanzierungsdienstleister in §§ 32c, 32d, 32e WpHG sollen an die Parallelregelungen in §§ 11, 13 WpPG, § 22 VermAnlG angeglichen werden (s. RefE ZuFinG, S. 80).
  • Sicherlich zur Freude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sollen die Möglichkeiten der offenen Immobilienfonds, Infrastrukturfonds und Spezialfonds mit festen Anlagebedingungen, im Bereich des Grundstückserwerbs und des Betriebs von Energieanlagen zu investieren, erweitert werden, um die Energiewende mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zu flankieren (s. die Änderungen der §§ 231, 260b KAGB und RefE ZuFinG, S. 56, 137 ff.).
  • Im Blickfeld des Referentenentwurfs liegt auch WpÜG, das an einigen Stellen geändert werden soll (s. RefE ZuFinG, S. 80 ff.). Insbesondere soll die Kommunikation mit der BaFin künftig ausschließlich elektronisch erfolgen (s. §§ 36, 37, 45 WpÜG-E).

Recht der Finanzmarktaufsicht

  • Elektronische Behördenkommunikation ist ferner Gegenstand der § 16m FinDAG-E, § 5 KWG-E, § 310a VAG-E, §§ 7b, 53, 223 KAGB-E, §§ 4a, 10, 11, 19, 25, 26, 34, 38, 39, 60, 61 ZAG-E und § 42a SAG-E.
  • Die Kommunikation mit der BaFin soll künftig auch in englischer Sprache geführt werden dürfen (s. § 4j FinDAG-E, § 19 Abs. 5a KAGB-E, § 10 Markzugangsangaben-VO-E, § 41 Abs. 1a SAG-E, § 2 Abs. 3 Inhaberkontroll-VO-E).
  • Im KWG sollen Vorgaben zur Kryptoverwahrung (schon mit Blick auf die MiCAR, s. RefE ZuFinG, S. 55 und 119 f.) und Regelungen zur DLT-Pilotregelung nach der Verordnung (EU) 2022/858 eingeführt werden (s. RefE ZuFinG, S. 121 f.). Die DLT-Pilotenregelung ist auch Gegenstand der §§ 78a ff. WpIG (s. RefE ZuFinG, S. 135 f.).

Zahlungsdiensterecht

  • Um die Vorgaben des Art. 106 PSD II eindeutig umzusetzen, soll der neue § 62a ZAG die Regelungen über die kollektive Verbraucherinformation gesetzlich verankern (s. RefE ZuFinG, S. 135).
  • Die Vorschriften über den Betrieb von Vergleichswebsites für Zahlungskonten in §§ 16 ff. ZKG sollen ergänzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 128 ff.).

Steuerrecht

  • Die Änderungen des Einkommensteuerrechts und des Vermögensbildungsgesetzes sollen Anreize für die Investition in Aktien verbessert werden (s. RefE ZuFinG, S. 109 ff. und S. 142).
  • Um eine Wettbewerbsgleichheit mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sollen die deutsche Kreditwirtschaft und die Investmentfonds durch Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes entlastet werden (s. RefE ZuFinG, S. 113 f.).

AGB-Recht

Last but not least: Ein neuer § 310 Abs. 1a BGB soll die AGB-Inhaltskontrolle der Geschäfte im bank- und kapitalmarktrechtlichen Bereich einschränken (s. dazu RefE ZuFinG, S. 76 ff.; im Vorfeld des Entwurfs etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 8 ff.).

Ausblick

Für die diskussionsfreudige unternehmensrechtliche Community ist der Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes ein verspätetes Ostergeschenk. Die „Aktiengesellschaft“ wird die Debatte um das Zukunftsfinanzierungsgesetz aktiv begleiten.

Stellungnahme des DAV-Handelsrechtsausschusses zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Die Diskussion über die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien im Zuge des Listing Acts ist im vollen Gange (zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL s. etwa Casper, ZHR 187 (2023), 5, 29 f.; Gumpp, BKR 2023, 82, 88 f.; Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Kuthe, AG 2023, R28, R29; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193; Schlitt/Ries, NZG 2023, 145). Am 27.2.2023 hat der Ausschuss Handelsrecht des Deutschen Anwaltvereins eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er den Vorstoß der Europäischen Kommission zwar grundsätzlich begrüßt, aber eine Reihe von Änderungsvorschlägen unterbreitet. Zahlreiche Anregungen des Ausschusses sind durchaus erwägenswert: eine ausdrückliche Regelung zur KGaA und SE, eine Klarstellung hinsichtlich der Zulässigkeit von Sonderbeschlüssen benachteiligter Aktionäre, eine weitere Klarstellung, dass die Schaffung der Mehrstimmrechtsaktien durch Ausübung genehmigten Kapitals unzulässig ist, und die Konkretisierung der Obergrenzen für die Stimmrechtsmacht in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Überzeugend sind zudem die Überlegungen zur Ausgestaltung der sunset clauses, zur Erweiterung der gegenständlichen Beschränkungen in Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sowie zu den Transparenzvorgaben in Art. 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Zwei Vorschläge des DAV-Handelsausschusses sind dagegen bedenklich: die erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrstimmrechtsaktien-RL und die Streichung der „Klimaschutz-Regelung“ in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL zwischen Mindest- oder Vollharmonisierung

Nach dem bisherigen Konzept der EU-Kommission soll die Mehrstimmrechtsaktien-RL nur insoweit einen Harmonisierungsdruck erzeugen, als Mehrstimmrechtsaktienstrukturen lediglich für Aktiengesellschaften geöffnet werden sollen, die eine Notierung auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben (vgl. Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Werden die Aktien bereits auf einem KMU-Wachstumsmarkt oder einem anderen Handelsplatz gehandelt oder will der (künftige) Emittent die Aktien von vornherein in einem anderen Marktsegment als KMU-Wachstumsmarkt – etwa im geregelten Markt – platzieren, können die Mitgliedstaaten die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gem. Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E zulassen, müssen es aber nicht. Kein Zwang zur Zulassung der Mehrstimmrechtsaktien gilt ferner für geschlossene Aktiengesellschaften; auch insoweit folgt der Richtlinienentwurf dem Konzept der Mindestharmonisierung (vgl. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30: große Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten).

Dagegen schwebt dem DAV-Handelsrechtsausschuss eine Vollharmonisierung dahingehend vor, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für alle Aktiengesellschaften zu öffnen – und zwar unabhängig davon, ob die Aktien bereits auf einem geregelten Markt oder in einem multilateralen Handelssystem (MTF), das kein KMU-Wachstumsmarkt ist, gehandelt werden oder ob die Eigentümer der Gesellschaft überhaupt den das Börsenparkett betreten möchten (vgl. S. 9 ff. der Stellungnahme; für Erstreckung auf alle MTF Gumpp, BKR 2023, 82, 89). Dabei vermisst der Ausschuss eine tragfähige Begründung für die Ausklammerung der Gesellschaften, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL fallen.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in allen Kapitalmarktsegmenten

Der Vorschlag des DAV-Handelsrechtsausschusses, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften in allen Kapitalmarktsegmenten zu öffnen, klingt bei unbefangener Betrachtung verlockend, weil er einer weiteren Fragmentierung des – ohnehin unübersichtlichen – Aktien- und Kapitalmarktrechts in der Europäischen Union entgegenwirkt. Zudem will der Ausschuss offenbar erreichen, dass die Kapitalmarktteilnehmer mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie Unternehmen mit einer „one share, one vote“-Kultur oder mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur für vorzugswürdig halten (zur Einstellung der Investoren und Stimmrechtsberater vgl. Denninger, DB 2022, 2329, 2334; Kuthe, AG 2023, R28, R29; Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193). In Zeiten eines übergreifenden Paternalismus wirkt die damit verbundene Liberalisierungsbrise erfrischend.

Dennoch geht die Kritik an der Harmonisierungskonzeption der EU-Kommission zu weit. Die Kommission versteht die Zulassung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen augenscheinlich als ein Instrument, um kleine und mittlere Unternehmen an den öffentlichen Kapitalmarkt zu locken und damit ihre Finanzierungsbasis zu stärken: Die Investoren der ersten Stunde können einerseits den externen Anlegern die Beteiligung am Unternehmen ermöglichen, müssen aber andererseits keinen Machtverlust befürchten, wenn sie sich ausreichend Mehrstimmrechtsaktien sichern. Ist ein KMU bereits auf einem Handelsplatz notiert, bedarf es der Mehrstimmrechtsaktien als Lockmittel nicht mehr; insoweit ist das Konzept der EU-Kommission durchaus in sich schlüssig.

Will die Gesellschaft von vornherein ins kalte Wasser springen und eine Notierung auf einem „höherwertigen“ Marktsegment anstreben, kann die Zurückhaltung der EU-Kommission mit einem Verweis auf die kritischen Stimmen begründet werden, die vor einer allzu breiten Öffnung des Gesellschaftsrechts für Mehrstimmrechtsaktienstrukturen warnen: Die Mehrstimmrechtsaktien schaffen das Risiko, die Kontrollfunktion der Kapitalmärkte auszuhebeln und die Governance-Strukturen zu schwächen (s. nur Casper, ZHR 187 (2023), 5, 24 ff.; Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Dies relativiert die Zwangsläufigkeit, die der DAV-Handelsrechtsausschuss im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Marktsegmente vorspiegelt.

Namentlich ist die Schaffung eines level playing field, auf das der DAV-Handelsrechtsausschuss mehrfach Bezug nimmt, bei Lichte besehen nicht zwingend. Wieso sollte der Richtliniengeber den Wettbewerb zwischen den nationalen Aktienrechtsordnungen durch eine zwingende Vorgabe unterbinden, deren Daseinsberechtigung nicht unumstritten ist? Das bisherige Konzept der EU-Kommission hat – auch im Lichte des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) – den Charme, im Zeitalter der Mobilitäts-RL die Bedingungen für einen Systemwettbewerb zu schaffen, in dem beobachtet werden kann, welche Anziehungskraft Mehrstimmrechtsaktien für notierungswillige Gründer haben (s. dazu bereits Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 17; zur Competition of Policy Makers jüngst auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 27 ff.). Erweisen sich Rechtsordnungen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen generell zulassen, als überlegen, kann die EU-Kommission diesen Umstand im Rahmen der ohnehin vorgeschriebenen Überprüfung berücksichtigen und den Anwendungsbereich der Richtlinie erweitern (vgl. Gumpp, BKR 2023, 82, 89: Test; trial and error).

Nebenbei: Entscheidet sich der Richtliniengeber dafür, von der ursprünglichen Konzeption der EU-Kommission abzurücken und die Vorschläge des DAV-Handelsrechtsausschusses umzusetzen, sollte er über den Standort der Regelung nachdenken, die die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften aller Kapitalmarktsegmente öffnet. Jedenfalls für börsennotierte Aktiengesellschaften spricht viel dafür, insoweit die Aktionärsrechte-RL zu ändern, statt die Zulässigkeit der Mehrstimmrechtsaktien in einer separaten Richtlinie zu regeln.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in geschlossenen Gesellschaften

In der Sache überzeugend sind die Ausführungen des DAV-Handelsrechtsausschusses zu Mehrstimmrechtsaktiensystemen in geschlossenen Gesellschaften. Es ist in der Tat kein Grund ersichtlich, solchen Unternehmen die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien zu verbieten (s. bereits Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; s. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30). Nur: Ist eine EU-Richtlinie der richtige Ort, um die Governance-Vorgaben für Unternehmen jenseits des Kapitalmarkts zu lockern?

Die EU-Kommission stützt ihren Vorschlag auf Art. 50 AEUV und Art. 114 AEUV. Wieso das Verbot der Mehrstimmrechtsaktien in kapitalmarktfernen Gesellschaften die Niederlassungsfreiheit einschränkt und deshalb qua Richtlinie abgeschafft werden muss, liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Auch ein Binnenmarktmarktbezug drängt sich bei geschlossenen Unternehmen nicht auf. Insoweit sollte der Richtliniengeber – ggf. mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip – an der bisherigen Konzeption festhalten und die Entscheidung den Mitgliedstaaten überlassen.

Streichung des „ESG-Artikels“

Auf S. 20 f. der Stellungnahme beschäftigt sich der DAV-Handelsrechtsausschuss mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Diese Vorschrift enthält eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Dass der „ESG-Artikel“ überrascht, wurde bereits im Blog-Beitrag v. 13.12.2022 näher erläutert – eine Streichung erscheint aber dennoch vorschnell.

Insbesondere verstößt Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nicht zwingend gegen das aktienrechtliche Kompetenzsystem. Wenn der DAV-Handelsrechtsausschuss auf § 119 AktG verweist, blendet er aus, dass die deutsche Organisationsverfassung nicht alternativlos ist und die EU-Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung flexibel sind. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht verpflichtet wäre, Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E umzusetzen. Vielmehr enthält Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E lediglich eine Liste mit optionalen Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten (ggf. in modifizierter Form) erlassen können. Im Hinblick darauf und die derzeitige Diskussion um „Say on ESG“ wirkt der Vorschlag des Ausschusses wie ein (nicht zeitgemäßer) Versuch, jeglichen Gedanken an eine Erweiterung der HV-Kompetenzen im Keim zu ersticken.

Listing Act: Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Ende 2021 kündigte die Europäische Kommission an, im Rahmen eines sog. „Listing Act“ Regelungen vorzuschlagen, die die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts steigern sollten. Der Ankündigung folgte eine öffentliche Konsultation, die bis Februar 2022 dauerte (zu den Stellungnahmen Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 18 ff.). Nach einer längeren Funkstille präsentierte die EU-Kommission am 7.12.2022 ein umfangreiches Regelungspaket mit mehreren Entwürfen, die das Insolvenzrecht, das Clearing (u.a. Anpassung der EMIR und weiterer Verordnungen sowie der OGAW-RL und weiterer Richtlinien), die Mehrstimmrechte, die Änderung der EU-ProspektVO, der MAR und der MiFIR sowie die Änderung der MiFID II und die Abschaffung der Wertpapierzulassungs-RL 2001/34/EG betreffen.

Im Gesellschaftsrechts-Blog werden wir die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Pläne der EU-Kommission darstellen; das Vorhaben wird auch Gegenstand eines Beitrags im AG-Report sein.

Die (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie

Da aus einer gesellschaftsrechtlichen Perspektive der Entwurf einer Mehrstimmrechtsaktien-RL (s. COM(2022) 761 final) im Zentrum des Interesses stehen dürfte, konzentrieren wir uns im ersten Teil auf die Mehrstimmrechtsaktien, die in Deutschland bekanntlich seit 1998 nach § 12 Abs. 2 AktG unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Ankündigung ihrer Wiedereinführung durch die EU-Kommission – und durch das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (s. dazu Kuthe, AG 2022, R208 und meinen Zwischenruf) – eine Flut von Beiträgen auslöste, die sich mit den Vor- und Nachteilen dieses Governance-Instruments auseinandersetzen (vgl. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275; Nicolussi, AG 2022, 753).

Nun macht die EU-Kommission einen ersten Aufschlag und will die Emission von Mehrstimmrechtsaktien europaweit ermöglichen. Dabei definiert sie die Mehrstimmrechtsaktien in Art. 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als Aktien, die zu einer gesonderten und separaten Gattung gehören und mit höherem Stimmgewicht ausgestattet sind als eine andere Gattung von Aktien, die ein Stimmrecht in Angelegenheiten gewähren, die im Rahmen der Hauptversammlungskompetenzen liegen. Emittiert eine Gesellschaft solche Mehrstimmrechtsaktien, verfügt sie nach Art. 2 lit. c Mehrstimmrechtsaktien-RL-E über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur.

Überdies legt Art. 2 lit. f Mehrstimmrechtsaktien-RL-E fest, dass unter gewichtetem Stimmverhältnis das Verhältnis der mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Stimmen zu den Stimmen, die mit den „regulären“ Aktien verbunden sind, zu verstehen ist (lit. f). Ansonsten erschöpft sich der Katalog des Art. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E in Verweisungen auf Definitionen der Gesellschaft (erfasst ist nach lit. a nur die AG, nicht aber die GmbH), des Handelsplatzes (lit. d) und des KMU-Wachstumsmarktes (lit. e) in anderen Regelwerken.

Was die Zulässigkeit und Ausgestaltung der Mehrstimmrechtsaktien angeht, verfolgt die EU-Kommission das Konzept der Mindestharmonisierung: Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, Regelungen über die Zulässigkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen beizubehalten und/oder neu einzuführen (zur Verbreitung der Mehrstimmrechtsaktie in der EU Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 16; zur Ausgestaltung s. Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277). Zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soll Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E beitragen, der eine Pflicht zur Gestattung der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert:

  • Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt den Mitgliedstaaten vor, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen durch Unternehmen zu gestatten, deren Aktien nicht zum Handel an einem Handelsplatz zugelassen sind und die eine Zulassung von Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt (s. § 76 WpHG) in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten beantragen wollen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E untersagt, die Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt mit der Begründung zu verweigern, dass ein Unternehmen über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur verfügt.
  • Den Unternehmen soll nach Art. 4 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit offenstehen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen rechtzeitig vor der Beantragung der Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einzuführen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 4 Abs. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E gestattet, die Ausübung der mit den Mehrstimmrechtsaktien verbundenen erweiterten Stimmrechte an die tatsächliche Zulassung der Aktien zu knüpfen.

Mehrstimmrechtsaktie als Instrument der Machtsicherung

Die Ausgestaltung des Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E und die Erwägungsgründe machen deutlich, dass die EU-Kommission die Mehrstimmrechtsaktie nicht nur als eine gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption, sondern als ein Instrument begreift, das die Attraktivität des Kapitalmarkts für kleine und mittlere Unternehmen steigern soll. Die wirtschaftlichen Eigentümer solcher Unternehmer – häufig dürfte es sich um Start-ups oder Familiengesellschaften handeln – sollen die Möglichkeit haben, den öffentlichen Kapitalmarkt zu betreten, ohne dabei das Risiko einzugehen, die Macht in der Hauptversammlung zu verlieren; die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sollen also der Machterhaltung und -sicherung dienen.

Ob sich die Geldgeber auf solche Machtverhältnisse einlassen und tatsächlich in die Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen investieren, steht auf einem anderen Blatt (zur Skepsis der Investoren und Stimmrechtsberater im angelsächsischen Rechtsraum Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen; zu den Erwartungen des Kapitalmarkts ferner Denninger, DB 2022, 2329, 2334).

Aktionärsschutz durch Verfahrensrecht

Im Hinblick auf die Machtungleichgewichte, die mit Mehrstimmrechtsaktien einhergehen, überrascht es nicht, dass die EU-Kommission dem Schutz der Aktionäre, die „reguläre“ Aktien halten, Sorge tragen will (vgl. Erwägungsgrund 10 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E; generell zum Minderheitenschutz Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 32 ff.; vgl. ferner Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277 f.). Dabei ist zum einen zwischen zwei Anlässen zu differenzieren, aus denen der Aktionärsschutz geboten sein kann: erstens, wenn ein Unternehmen eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur einführt, und zweitens, wenn die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien diese nutzen, um einen Beschluss zu fassen. Zum anderen kommen unterschiedliche Schutzinstrumente in Betracht, und zwar Verfahrensregelungen einerseits, materiell-rechtliche Regelungen andererseits.

Blickt man auf das Richtlinienkonzept, soll der Aktionärsschutz in erster Linie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen im Zusammenhang mit der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sichergestellt werden:

  • Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt vor, dass der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer qualifizierten Mehrheit bedarf; in Deutschland handelt es sich um die ¾-Kapitalmehrheit des § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.
  • Überdies müssen die Inhaber der Aktien besonderer Gattungen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit haben, einen Sonderbeschluss zu fassen, soweit ihre Rechte durch die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien betroffen sind (vgl. dazu §§ 138, 179 Abs. 3 AktG und Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 37).
  • Ferner muss das Stimmgewicht der Mehrstimmrechtsaktien nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E der Höhe nach begrenzt werden (hierzu generell Denninger, DB 2022, 2329, 2335).
  • Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sieht eine Öffnungsklausel für weitere nationalen Schutzmaßnahmen zugunsten der Aktionäre und der Gesellschaft vor. Die in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E genannten Bestimmungen – zum einen Verfallsklauseln, zum anderen Auflösungsklauseln – haben wie Art. 5 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einen eher verfahrensrechtlichen Charakter.

Aktionärsschutz durch materielles Recht

Ein Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen ist im Richtlinienentwurf zwar nicht vorgesehen, indes dürfte die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E den Mitgliedstaaten erlauben, die Minderheit durch inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und der Ausübung der Mehrstimmrechte zu schützen. Dafür spricht auch Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E, der das Ermessen der Mitgliedstaaten betont.

Im Lichte von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E dürfte in Deutschland eine Diskussion darüber entflammen, ob ein Beschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer sachlichen Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Kali+Salz-Rechtsprechung bedarf (BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40). Die Antwort ist kurz und einfach: nein. Es ist absehbar, dass die Erforderlichkeit der sachlichen Rechtfertigung mit dem Standardargument abgelehnt wird, die gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen trage den sachlichen Grund in sich (so der Sache nach bereits für die Einführung der Höchststimmrechte BGH v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, BGHZ 70, 117).

Sollte die Diskussion den BGH erreichen, wäre es ein willkommener Anlass, das Konzept der materiellen Beschlusskontrolle generell zu überdenken, sich dabei vom Grundsatz sachlicher Rechtfertigung – der bei Lichte besehen nur für die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung eine Rolle spielt, in diesem Kontext aber wegen der Möglichkeit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle obsolet ist – zu verabschieden und auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht als das maßgebliche Schutzinstrument zu verweisen. Freilich wird ein Treuepflichtverstoß bei Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen tendenziell fernliegen.

Eine Treuepflichtverletzung dürfte hingegen eher in Betracht kommen, wenn sich die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen der Stimmrechtsausübung hinsichtlich anderer Beschlussgegenstände allzu opportunistisch verhalten und die Interessen der Minderheitsaktionäre missachten. Wer wegen der Mehrstimmrechtsaktienstruktur über eine besondere Machtposition verfügt, muss auf die beweglichen Schranken der Stimmrechtsmacht achten. Anderenfalls kann der auf Mehrstimmen beruhende Hauptversammlungsbeschluss wegen eines Inhaltsfehlers nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein. Überdies kommt es in Betracht, den Aktionärsschutz mit Hilfe konzernrechtlicher Instrumente sicherzustellen (s. nur Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 40). Es dürfte im Lichte des Erwägungsgrundes 12 und des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E unbedenklich sein, auf diese tradierten Grundsätze des deutschen Aktienrechts zurückzugreifen, auch wenn sich die Richtlinie dazu nicht explizit äußert.

Mehrstimmrechtsaktie im ESG-Zeitalter

Während der Richtlinienentwurf den Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen weitgehend vernachlässigt, wird in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d deutlich, dass der Vorschlag im ESG-Zeitalter entwickelt wurde. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E enthält nämlich eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (vgl. ferner Erwägungsgrund 11 Satz 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Ausübung der Mehrstimmrechte mit einer solchen Zielrichtung unzulässig ist.

Gegen eine solche Vorschrift ist im Ausgangspunkt nichts einzuwenden, die mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einhergehende Übergewichtung der Umwelt- und Sozialaspekte zulasten der Governance-Probleme – die im Zusammenhang mit Mehrstimmrechtsaktien auf der Hand liegen (s. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Nicolussi, AG 2022, 753) – ist aber doch nicht unbedenklich. Es ist verblüffend, dass der europäische Richtliniengeber der Verfolgung exogener Ziele mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Lösung herkömmlicher aktienrechtlicher Regelungsaufgaben. Gleichwohl dürfte dieser Fokus jedenfalls in Deutschland im Ergebnis hinnehmbar sein, wenn man den Aktionärsschutz qua Treuepflicht und Konzernrecht nicht aus den Augen verliert.

Zugleich könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E eine Diskussion um das Zusammenspiel zwischen dem Menschenrechts- und Umweltschutz und der materiellen Beschlusskontrolle auslösen. Aus der Perspektive der deutschen Beschlussdogmatik könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als eine Regelung gedeutet werden, die es erlaubt, die Hauptversammlung dem interessenpluralistischen Zielkonzept zu unterwerfen. Ein solches Verständnis führte dazu, dass ein Anfechtungsgrund wegen eines Inhaltsfehlers angenommen werden könnte, wenn die Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung Umwelt- und Sozialbelange missachtet – und zwar unabhängig davon, ob der fragliche Beschluss durch Mehrstimmrechtsaktien getragen wird oder in Gesellschaften ohne Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gefasst wird. Dieser Ansatz ist bei unbefangener Betrachtung kontraintuitiv, weil er die shareholder dazu zwingt, im Rahmen der Beschlussfassung die Interessen der stakeholder in ihre Abwägung einzubeziehen. Berücksichtigt man indes die aktuelle Debatte zum „Say on ESG“ und die ESG-bezogenen Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich des Unternehmens- und Wirtschaftsrechts, erscheint die Idee der Hauptversammlung als Agenten der Menschenrechte und der Umwelt nicht gänzlich unplausibel.

Anlegerschutz durch Transparenzpflichten

Dem kapitalmarktrechtlichen Charakter des Richtlinienentwurfs trägt dessen Art. 6 Rechnung, der – im Einklang mit dem Informationsmodell des europäischen Kapitalmarktrechts – Transparenzpflichten für Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert. Solche Unternehmen müssen gem. Art. 6 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E im Wachstumsemissionsdokument i.S.d. Art. 15a EU-ProspektVO-E oder im Zulassungsdokument i.S.d. Art. 33 Abs. 3 lit. c MiFID II sowie im Jahresfinanzbericht eine Reihe von Umständen offenlegen. Hierzu zählen die Kapitalstruktur des Unternehmens (lit. a), die Beschränkungen hinsichtlich der Wertpapierübertragung (lit. b), die Sonderrechte und ihre Inhaber (lit. c), die Stimmbindungen (lit. d) und die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien (lit. e sowie Art. 6 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Die Erfüllung der Transparenzpflichten soll den Anlegern einen Einblick in die Unternehmensstrukturen ermöglichen und damit eine Grundlage für eine informierte Investitionsentscheidung schaffen (vgl. auch Erwägungsgrund 13 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Umsetzungsoptionen des deutschen Gesetzgebers

Wird die Mehrstimmrechte-RL wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen, ist § 12 Abs. 2 AktG in seiner aktuellen Fassung hinfällig. Gleichwohl stehen dem deutschen Gesetzgeber mehrere Umsetzungsoptionen offen (generell zur Umsetzung Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 23 ff.). Namentlich wird er im Rahmen der Umsetzung die Frage beantworten müssen, ob er die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in enger Anlehnung an Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nur für Unternehmen öffnet, deren Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt zugelassen sind, oder ob er darüber hinaus – und im Einklang mit Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E – das Aktienrecht weitergehend dereguliert und das Verbot der Mehrstimmrechte generell aufhebt. Die Aussagen im Eckpunktepapier für das Zukunftsfinanzierungsgesetz deuten darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber die Mehrstimmrechte in erster Linie als ein Instrument für Wachstumsunternehmen und Start-ups ansieht. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn das Verbot der Mehrstimmrechte nur insoweit entfällt, als Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E es erfordert.

Zwingend ist eine solche minimalinvasive Umsetzung freilich nicht. Da Mehrstimmrechte in Publikumsgesellschaften größeren Bedenken ausgesetzt sind als in geschlossenen Gesellschaften und die Zulässigkeit der Mehrstimmrechte in der GmbH konsentiert ist, spricht viel dafür, von der Gestaltungsoption des Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E jedenfalls für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften Gebrauch zu machen (dafür etwa Habersack, AG 2009, 1, 10 f.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1898 f.).

Für börsennotierte Unternehmen, deren Aktien nicht nur an einem KMU-Wachstumsmarkt gehandelt werden und die deshalb nicht von Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E erfasst sind, dürfte ein Abschied von § 12 Abs. 2 AktG schwieriger zu rechtfertigen sein (zu den Bedenken wegen der Ausschaltung des externen Effizienzdrucks am Kapitalmarkt Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Ein solcher Schritt wäre jedenfalls nur dann rechtspolitisch haltbar, wenn der Gesetzgeber für ein mit Art. 5 und 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E vergleichbares Schutzniveau sorgt. Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftsrechtlichen Schutzvorkehrungen und kapitalmarktrechtlichen Transparenzpflichten würde es erlauben, die Entscheidung über die Investition in ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur dem privatautonomen Urteil der Kapitalmarktakteure zu überlassen, statt diese zu bevormunden.

Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Stimmrechtsberater den Mehrstimmrechten kritisch gegenüberstehen und ihre Skepsis zum einen den Investoren bei der Entscheidungsfindung behilflich sein könnte, zum anderen einen externen Druck auf Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und die bevorzugten Aktionäre erzeugen würde (zur Position der Stimmrechtsberater vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen).

 

Gesetz zur virtuellen HV – mehr Schein als Sein

Das Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen hat die letzten wichtigen Etappen des Gesetzgebungsverfahrens bewältigt: Expertenanhörung im Rechtsausschuss am 22.6.2022, Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1.7.2022, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 6.7.2022, zweite und dritte Lesung im Bundestag am 7.7.2022. Wer die Anhörung im Rechtsausschuss verfolgt hat, durfte den Eindruck gewinnen, dass der dort diskutierte Regierungsentwurf nicht nur an punktuellen, sondern an sehr grundsätzlichen, konzeptionellen Mängeln leidet. Deutlich zu spüren war deshalb auch die Sorge der Parlamentarier, mit dem neuen virtuellen Format eine Karteileiche zu schaffen – ähnlich wie früher schon mit den Vorschriften zur Online-Teilnahme, zum Aktionärsforum, zur Geschäftsordnung der HV und einigen anderen mehr. Dessen ungeachtet hat auch der Rechtsausschuss die Eckpfeiler des Gesetzes nicht mehr angetastet (sie dürfen als bekannt gelten, siehe hierzu meine Blog-Beiträge vom 15.2.2022 zum RefE und vom 28.4.2022 zum RegE). Nur kleinere Änderungen haben sich auf den letzten Metern noch ergeben:

Rechtsgrundlage

Es bleibt dabei, dass das virtuelle Format nur für einen Übergangszeitraum bis zum Herbst 2023 unmittelbar kraft Gesetzes genutzt werden darf (entscheidend ist die Einberufung der HV spätestens am 31.8.2023). Danach steht es nur noch zur Verfügung, wenn die Satzung es vorschreibt oder den Vorstand entsprechend ermächtigt – jeweils für eine Dauer von maximal fünf Jahren. Abweichend vom Regierungsentwurf ist aber nicht mehr vorgesehen, dass die Satzung bestimmte Beschlussgegenstände vom virtuellen Format ausnehmen, sprich: sie einer herkömmlichen Präsenzversammlung vorbehalten kann. Der Gesetzgeber kehrt damit zurück zum breiteren Ansatz des Referentenentwurfs. Dieser Schritt soll laut dem Ausschussbericht die Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung hervorheben. Überdies wurde offenbar erkannt, dass eine Beschränkung der Beschlussgegenstände für virtuelle Versammlungen auf europarechtlich vermintes Gelände geführt hätte – mit Blick auf das Recht der Aktionäre aus Art. 6 der EU-Aktionärsrechte-RL, eine Ergänzung der Tagesordnung zu verlangen.

Doppeltes Rederecht

Das Rederecht der Aktionäre wird weiterhin doppelt verwirklicht: im Vorfeld der virtuellen HV per Stellungnahme, die vorab übermittelt und veröffentlicht wird, sowie während der HV per Live-Redebeitrag. Neu ist, dass die Stellungnahme im Vorfeld nur noch ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären angeboten werden muss. Außerdem, dass die Gesellschaft sie nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zugänglich machen muss und dies auch über die Internetseite eines Dritten geschehen darf. Das eröffnet die Möglichkeit, hierfür das zugangsbeschränkte HV-Portal zu nutzen, das sich üblicherweise auf der Internetseite eines Dienstleisters befindet. Schließlich ist auch neu, dass die Gesellschaft sich in der Einberufung vorbehalten darf, einen Live-Redebeitrag während der HV von einem Funktionstest abhängig zu machen. Schlägt dieser Test fehl, darf die Gesellschaft den Redebeitrag zurückweisen. Dies begrenzt dann nicht nur die Rechtsfolgen etwaiger Funktionsstörungen (Stichwort: Anfechtungsausschluss). Die Gesellschaft wird vielmehr in die Lage versetzt, Funktionsstörungen während der virtuellen HV vorzubeugen – auch im Interesse der (anderen) Aktionäre an einem geordneten Versammlungsablauf.

Doppeltes Fragerecht

Auch das Fragerecht bleibt ein doppeltes. So jedenfalls, wenn der Vorstand den Aktionären aufgibt, ihre Fragen schon im Vorfeld der virtuellen HV einzureichen. Diese Option war aus Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorzug des virtuellen Formats unter Geltung des COVMG. Sie schaffte Raum dafür, Fragen zur weiteren Bearbeitung entweder nach Themenkomplexen oder nach Urhebern zu bündeln, im Zusammenhang zu antworten und sachgerechte Schwerpunkte zu setzen. Das neue virtuelle Format jedoch gewährt diesen Vorzug nur noch um den Preis, dass die Gesellschaft die vorab eingereichten Fragen nicht erst in der HV aufgreift, sondern samt schriftlicher Antworten schon vorher veröffentlicht. Dies mit der Folge, dass der Vorstand in der HV keine mündlichen Auskünfte mehr erteilen muss – einerseits. Andererseits kann diese Vorgabe die Anforderungen an Vollständigkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit der Antworten erhöhen, überlässt dem Fragesteller den Erstzugriff auf kritische Themen und degradiert die mündliche Vorstandsrede am Versammlungstag vom Auftakt zum Schlusspunkt des kommunikativen Prozesses.

Nach- bzw. Rückfragen zu den (vorab) erteilten Antworten bleiben in der HV allerdings statthaft. Jeder angemeldete Aktionär kann sie stellen, sowohl zu eigenen als auch zu fremden Ausgangsfragen. Auch bleibt es beim Ansatz des Regierungsentwurfs, dass die Aktionäre während der virtuellen HV erstmalige Fragen noch zu solchen Sachverhalten stellen dürfen, die sich erst kurzfristig ergeben haben und daher vorab nicht berücksichtigt werden konnten.

Wieder entfallen ist hingegen das noch weitergehende Aktionärsrecht, bei ausreichender Restzeit sogar noch längst bekannte Sachverhalte erstmalig in der HV zu thematisieren. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis wenig ändern. Denn es bleibt dabei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Nach- oder Rückfrage im Zweifel weit verstanden wissen möchte. Die Gesellschaft trägt daher das Risiko, die (ggf. nur lockere) Verbindung zu einer Ausgangsfrage zu übersehen. Das ist umso wahrscheinlicher, je breiter das Spektrum der Ausgangsfragen ausfällt und je allgemeiner diese gefasst sind. Außerdem können findige Aktionäre unschwer argumentieren, ein Altsachverhalt sei erst kürzlich (erneut) in der Presse, in einem Internetforum oder auch im just gehaltenen Redebeitrag eines Mitaktionärs aufgegriffen worden – was ihn in einem neuen Licht erscheinen lasse und daher den Aktionären ein uneingeschränktes Fragerecht in der virtuellen HV eröffne.

Immerhin: Den Vorstandsbericht muss die Gesellschaft nur dann vorab veröffentlichen, wenn sie die Aktionäre mit ihren Fragen im Ausgangspunkt tatsächlich in das Vorfeld der HV verweist.

Doppeltes Antragsrecht

Das doppelte Antragsrecht des Regierungsentwurfs – sowohl vor als auch während der virtuellen HV – bleibt nahezu unberührt. Neu ist nur, dass spontane Anträge und Wahlvorschläge während der HV in jedem Fall mündlich zu stellen sind, nämlich per Videokommunikation. Damit entfällt die Option einer elektronischen Antragstellung per Knopfdruck. Zugleich wird der Antragsteller zeitlich auf die „Aussprache“ verwiesen. Er kann also seine Anträge nicht schon während der Eröffnung oder der Verlesung der Regularien stellen. Ebenso wenig während der Vorstandsrede, des Berichts des Aufsichtsrats, einer Abstimmung oder einer Beschlussfeststellung. Im Ausschussbericht heißt es hierzu, das Antragsrecht werde auf diese Weise dem Mündlichkeitsprinzip der Präsenzversammlung nachgebildet. Dies auch mit der Folge, dass die Einbringung von Anträgen für alle Versammlungsteilnehmer transparent sei. Dem entspricht es, dass das Gesetz an anderer Stelle das Live-Rederecht nicht nur auf etwaige (Nach-)Fragen erstreckt, sondern ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge.

Zu kurz gesprungen

Gemessen am Regierungsentwurf sind all diese Punkte wichtige Fortschritte. Sie ändern aber nichts an dem Befund, dass das neue virtuelle Format kaum mehr ist als eine (schlechte) Kopie der Präsenzversammlung – mit einigen zusätzlichen Hindernissen und Fallstricken für die Unternehmen als Zugabe.

Insbesondere bleibt es dabei, dass die Aktionäre ein doppeltes Rederecht, ein doppeltes Fragerecht und ein doppeltes Antragsrecht erhalten. Der Aufsichtsrat muss sich, trotz seiner traditionell passiven Rolle in der HV, im Regelfall in voller Besetzung vor Ort einfinden. Das ist schon bei Präsenzversammlungen schwer verständlich, bei virtueller HV aber gänzlich sinnlos. Und es werden zahlreiche neue Detailfragen aufgeworfen, bis zu deren gerichtlicher Klärung viele Jahre vergehen dürften – anders als unter dem COVMG nunmehr mit vollem Anfechtungsrisiko. All das macht das neue virtuelle Format aus Sicht vieler Unternehmen wenig attraktiv. Das gilt umso mehr, als das erklärte weitere Reformziel, die virtuelle HV zu „entzerren“, erkennbar verfehlt worden sein dürfte.

Als Anreiz zur Nutzung des virtuellen Formats bleiben damit in erster Linie die niedrigeren Kosten. Nur dürfte der Gesetzgeber auch insoweit einem (Kalkulations-)Irrtum aufsitzen: Erstens müssen die Anbieter der digitalen Infrastruktur ihre Tools an den neuen, deutlich anspruchsvolleren Rechtsrahmen anpassen. Und zweitens werden nicht wenige (auch große) Gesellschaften künftig wohl wieder in Präsenz tagen; es schrumpft also der Kreis der Abnehmer für digitale Lösungen. Beides bleibt gewiss nicht ohne Auswirkungen auf die Preise, zu denen das Produkt „virtuelle HV“ künftig am Markt zu haben sein wird.

ESG-Aktivismus – gekommen, um zu bleiben?

Die USA und allen voran der Bundesstaat Delaware sind schon seit vielen Jahren Exportweltmeister gesellschaftsrechtlicher Rechtsfiguren. Etliche dieser legal transplants (Watson, Legal Transplants, 1974; Fleischer, NZG 2004, 1129) wurden bereits in die „Anatomie“ des deutschen Aktienrechts (angelehnt an Kraakman et al., The Anatomy of Corporate Law) eingepflanzt. Eine maßgebliche Triebfeder dieser Entwicklungen ist die US-amerikanische Finanzbranche: Trends der Wall Street finden früher oder später ihren Weg zum deutschen Kapitalmarkt; ein Paradebeispiel sind die seit kurzem wieder populären SPACs (dazu Fuhrmann, ZBB 2021, 390 und Fuhrmann, AG 2022, R91).

Der jüngste US-Exportschlager lautet: ESG-Aktivismus. Dabei handelt es sich um eine Spielart des shareholder activism. Bei diesem versucht ein Minderheitsaktionär, auf die Strategie eines börsennotierten Unternehmens Einfluss zu nehmen. Sein Ziel ist in der Regel die Steigerung des Börsenkurses und damit des Wertes seiner Beteiligung. Ansatzpunkt für die Hebung von Wertschöpfungspotentialen sind beim ESG-Aktivismus an den ESG-Kriterien (environmental, social, governance) ausgerichtete Maßnahmen.

Seinen großen Durchbruch erlebte der ESG-Aktivismus in den USA mit der erfolgreichen Kampagne von Engine No. 1 bei Exxon Mobil. Mit der Unterstützung zahlreicher institutioneller Investoren konnte der mit nur 0,02 % beteiligte Hedgefonds drei board-Sitze auf der Hauptversammlung 2021 erringen. In den letzten Monaten sind nun – wie bereits zuvor vom Schrifttum prognostiziert (Döding, AG 2021, R249, R250; Jaspers, AG 2022, 145, 149 ff.) – auch deutsche Aktiengesellschaften zum Ziel von ESG-Kampagnen geworden. Besondere Aufmerksamkeit haben zuletzt zwei ESG-Kampagnen „grüner“ Aktivisten erregt.

(Keine) Transparenz der klimabezogenen Lobbytätigkeiten bei VW

Eine der beiden ESG-Kampagnen nahm Volkswagen ins Visier. Die vom Church of England Pension Board (CEPB) angeführte Investorengruppe forderte, dass das Unternehmen zukünftig die Berichterstattung auf die Aktivitäten des Konzerns zur klimabezogenen politischen Interessenvertretung ausweitet. Nachdem entsprechende Gespräche mit dem Vorstand ergebnislos verlaufen waren, stellten die Investoren im Vorfeld der Jahreshauptversammlung 2022 ein Ergänzungsverlangen (§ 122 Abs. 2 Satz 1 AktG). Danach sollte eine entsprechende Berichtspflicht in der VW-Satzung verankert werden. Diese sollte u.a. die Darstellung sämtlicher Lobbyaktivitäten umfassen, die die Konzerngesellschaften direkt oder indirekt in Bezug auf den Klimawandel verfolgen oder unterstützen, sowie deren Auswirkungen auf die Risikoexposition des VW-Konzerns in Bezug auf den Klimawandel. Diese Transparenzforderungen der Investoren verwundern wenig: Mit ihrem Global Standard on Corporate Climate Lobbying haben AP7, BNP Paribas Asset Management und CEPB jüngst ein deutliches Zeichen gesetzt. Dem spürbar gewachsenen Bewusstsein von Aktionären für ESG-Anliegen zum Trotz machte Volkswagen das Ergänzungsverlangen allerdings nicht bekannt. Die vorgeschlagene Satzungsänderung sei gesetzlich nicht vorgesehen und greife in unzulässiger Weise in die Leitungsautonomie des Vorstands aus § 76 Abs. 1 AktG ein (dazu ausführlich Fuhrmann/Röseler, AG 2022, R153). In der Hauptversammlung am 12.5.2022 haben die Aktionäre somit nicht über die Transparenzpflicht hinsichtlich klimabezogener Lobbytätigkeiten des Unternehmens abgestimmt.

(Kein) Brownspinning bei RWE

Im letzten Jahr erhob Enkraft Capital gegenüber RWE die Forderung, die Braunkohlesparte abzuspalten und sich auf erneuerbare Energien zu konzentrieren. Eine solche Abtrennung von emissionsintensiven Geschäftsbereichen und Vermögensgegenständen wird als Brownspinning bezeichnet. Die Kampagnenthese des Aktivisten war, das Brownspinning senke den Bewertungsabschlag gegenüber den ausschließlich auf erneuerbare Energien fokussierten Energieversorgern und steigere so den Börsenkurs der RWE-Aktie. Da bilaterale Gespräche mit dem Vorstand aus Sicht von Enkraft ohne konkrete Fortschritte verliefen, stellte der mit lediglich 0,03 % beteiligte aktivistische Aktionär am 18.3.2022 ein Ergänzungsverlangen. Danach sollte der Vorstand nach § 83 Abs. 1 Satz 1 AktG angewiesen werden, einen konkreten Plan für die Abspaltung auszuarbeiten und die Vorbereitung der Umsetzungsmaßnahmen auf der Hauptversammlung 2023 zu präsentieren. Anders als im Fall von VW schaffte es der Antrag auf die Tagesordnung. Gleichwohl blieb dem ESG-Aktivismus erneut kein Erfolg vergönnt: Der Brownspinning-Vorschlag wurde auf der Hauptversammlung am 28.4.2022 mit einer überwältigenden Mehrheit von 97,56 % der Stimmen abgelehnt. Insbesondere die kommunalen Aktionäre von RWE hatten sich bereits im Vorfeld gegen die aktivistische Kampagne positioniert. Als Ursache des vorläufigen Scheiterns des Brownspinning-Vorschlags fallen drei Erklärungsansätze ins Auge: (1) Die mangelnde Unterstützung der institutionellen Investoren und Stimmrechtsberater, (2) die positive Bewertung der bisherigen Unternehmensstrategie durch den Kapitalmarkt sowie (3) der Zielkonflikt aus den zahlreichen widerstreitenden stakeholder-Interessen im Rahmen des Kohleausstiegs (zur ausführlichen Analyse dieser ESG-Kampagne demnächst Fuhrmann/Döding im AG-Report 12/2022).

Nur die Spitze des Eisbergs

Ist der ESG-Aktivismus damit in Deutschland gescheitert? Wohl kaum – die Bedeutung einer nachhaltigen Unternehmensführung für die Kapitalmarktbewertung wird mit Blick auf die anstehende europäische Transparenzregulierung in den kommenden Jahren immer stärker und schneller zunehmen. Vor allem aber sind die beiden ESG-Kampagnen nur die Spitze des Eisbergs: Aktivistische Aktionäre suchen typischerweise zunächst den vertraulichen Dialog mit dem Vorstand. Nur im Ausnahmefall erwächst daraus eine öffentliche Kampagne. Die praktische Bedeutung des ESG-Aktivismus dürfte damit weit über die beiden publik gewordenen Fälle hinausreichen.

In rechtspolitischer Hinsicht bleibt es mit Spannung zu erwarten, ob zukünftig ein höherer Mitwirkungsgrad der Aktionäre bei Nachhaltigkeitsfragen (Say on Climate) seinen Weg ins Aktienrecht finden wird (de lege lata ablehnend Harnos/Holle, AG 2021, 853, 856 ff.; de lege ferenda kritisch Jaspers, AG 2022, 145, 151; zumindest eine Anregung im Corporate Governance Kodex befürwortend VGR, AG 2022, 239, 243). Mit Blick auf den „Gestaltungseifer der europäischen Institutionen“ (Jaspers, AG 2022, 145, 151) wird die EU dieses Mal wohl kaum die Etablierung eines US-amerikanischen Vorbilds abwarten wollen, um dieses anschließend als legal transplant zu übernehmen.

Ausführlichere Report-Beiträge zu beiden ESG-Kampagnen erscheinen in der AG (vgl. Fuhrmann/Röseler, AG 2022, R153).

Regierungsentwurf zur virtuellen HV – Cui bono?

„Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“ – so heißt es im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus dem vergangenen Jahr. Diesen Programmsatz zu verwirklichen, erweist sich indessen als echte Herkules-, wenn nicht sogar als Sisyphusaufgabe. Aktionärsschützer liefen Sturm, als das BMJ im Februar 2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorlegte und sich dabei eng am COVMG orientierte (zum Referentenentwurf s. den Blog-Beitrag v. 15.2.2022). Ihr Kernanliegen: Das virtuelle Format dürfe nicht dazu dienen, die Aktionärsrechte im Verhältnis zur Präsenzversammlung zu beschneiden oder ihre Ausübung zu erschweren. Am 27.4.2022 hat das Bundeskabinett nun einen überarbeiteten Regierungsentwurf beschlossen. Jedoch schwingt das Pendel damit weit in die andere Richtung – aus Unternehmenssicht wohl: zu weit. Anträge sollen sowohl vor als auch noch in der virtuellen HV gestellt werden können, einfach per Knopfdruck. Vorab eingereichte Fragen soll die Gesellschaft schon vor der HV schriftlich auf ihrer Internetseite beantworten. Und während der laufenden HV sollen nicht nur Rückfragen zulässig sein, sondern auch Erstfragen zu neuen und mitunter sogar zu längst bekannten Sachverhalten. Damit schließt der RegE nicht zur Präsenzversammlung auf; er geht weit über deren Maß hinaus.

Was bleibt?

Der RegE belässt es dabei, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – jeweils befristet auf maximal fünf Jahre. Nach Ablauf der jeweiligen Frist muss die Satzungsklausel erneuert werden. Unmittelbar auf gesetzlicher Basis kann der Vorstand das virtuelle Format nur für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres nutzen. Ebenso bleibt es dabei, dass eine virtuelle HV gewisse Mindeststandards für die Aktionäre einhalten muss, unter anderem:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • elektronische Stimmabgabe
  • ein Antrags- sowie ein „Auskunftsrecht“ (terminologisch richtig wäre: ein Fragerecht), die allerdings beide erheblich aufgewertet werden und auf die noch näher einzugehen sein wird
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sieben (statt ursprünglich sechs) Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen, insbesondere Videobotschaften, bis fünf (statt ursprünglich vier) Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Und schließlich erblickt der RegE in der virtuellen HV auch unverändert eine „vollwertige Versammlungsform“, d.h. ausdrücklich keine „Versammlung zweiter Klasse“. Eine virtuelle HV dürfe daher über sämtliche Gegenstände beschließen, die auch Gegenstand einer Präsenzversammlung sein können, insbesondere auch über Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Neu ist allein, dass die Satzung konkrete Ausnahmen bezeichnen, d.h. bestimmte Beschlussgegenstände einer Präsenzversammlung vorbehalten darf.

Anträge, immer und überall

Gravierende Änderungen finden sich hingegen beim Antragsrecht:

Wie schon der RefE sieht zwar auch der RegE vor, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge innerhalb der bekannten 14-Tagesfrist an die Gesellschaft übersandt werden können und damit als gestellt gelten. Es ist also nicht erforderlich, sie in der virtuellen HV noch mündlich zu stellen – ein wesentlicher Unterschied zur Präsenzversammlung.

Damit hat es aber kein Bewenden. Ergänzend möchte der RegE jedem elektronisch zugeschalteten Aktionär spontane Anträge noch während der virtuellen HV erlauben, und zwar im Wege elektronischer Kommunikation. Das gilt ausweislich der Begründung für „[a]lle Anträge und Wahlvorschläge“, einschließlich Geschäftsordnungs- und Sonderprüfungsanträgen. Dafür kann, muss aber nicht unbedingt Videokommunikation genutzt werden. Es soll auch denkbar sein, spontane Anträge über Textfelder des Aktionärsportals oder per E-Mail zu übermitteln. Dahinter steht das erklärte Bestreben, die virtuelle HV der Präsenzversammlung möglichst anzunähern.

Tatsächlich würde dieses Ziel jedoch weit übertroffen. Denn die prozeduralen und psychologischen Hürden zur Stellung von Anträgen, gleich welchen Inhalts oder mit welcher Begründung, würden gemessen an einer Präsenzversammlung erheblich herabgesetzt. Zum einen, weil der Antragsteller sich nicht mehr notwendig zu Wort melden und aufrufen lassen muss; sein Aktionsradius wäre also, anders als in der Präsenzversammlung, nicht mehr auf die Generaldebatte beschränkt. Zum anderen, weil die Anwesenheit anderer Aktionäre und ggf. der Presse sowie auch die Stimmung im Saal oftmals eine disziplinierende Wirkung auf einen Redner haben. Die anderen Aktionäre lassen es einen Redner durchaus spüren, wenn er einen allzu langen, aussichtslosen oder unsinnigen Antrag stellt. Ebenso, wenn er seinen Antrag erkennbar zur Unzeit vorbringt – von wiederholten oder konzertierten Aktionen ganz zu schweigen. Nötigenfalls kann auch der Versammlungsleiter präventiv eingreifen. Diese mäßigenden Faktoren entfallen, wenn der Antragsteller nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern aus seinem Wohnzimmer vorbereitete Texte per Knopfdruck einreicht.

Fragen über Fragen

Eine ähnliche Doppelung ergibt sich beim Fragerecht:

Einerseits soll der Aktionär befugt sein, seine Fragen elektronisch vorab einzureichen – ähnlich wie auch heute schon unter der Geltung des COVMG, allerdings nicht mehr mit nur einem Tag, sondern mit immerhin drei Tagen Vorlauf auf die HV. Während der HV soll er anschließend noch Nach- bzw. Rückfragen stellen können. Das gilt nicht nur für eigene, sondern ausdrücklich auch für fremde Ausgangsfragen und die dazu erteilten Antworten.

Andererseits soll der Aktionär aber berechtigt sein, erstmalige Fragen noch während der laufenden HV zu solchen Sachverhalten zu stellen, die sich erst kurzfristig ergeben haben – beispielsweise zu Geschäftszahlen oder Presseartikeln, die unmittelbar vor der HV veröffentlicht worden sind. Und mehr noch: Es sollen sogar (weitere) erstmalige Fragen zu längst bekannten Sachverhalten zulässig sein, die man auch schon im Vorfeld hätte adressieren können. Dies aber nur, sofern deren Beantwortung nach Behandlung vorrangiger Erst- und Rückfragen noch „innerhalb des angemessenen Zeitraums der Versammlung“ möglich ist.

Eine echte Filterfunktion dürfte damit aus praktischer Sicht nicht verbunden sein. Es sollte ein Leichtes für den Fragesteller sein, in der HV oder auch erst später im Beschlussmängelstreit zu behaupten, ein entscheidender Zusammenhang oder ein verstärkendes Adjektiv sei erstmals kurz vor der HV zu lesen gewesen, in der Presse, in einem Internetforum oder auch anderenorts. Denkbar ist auch, dass er sich auf den just gehaltenen Live-Redebeitrag eines Mitaktionärs mit (vermeintlich) neuen Behauptungen bezieht. Die Grenze zwischen neuen und alten Sachverhalten verschwimmt dann. Es ist somit kaum vorstellbar, dass eine auf Rechtssicherheit bedachte Gesellschaft eine Frage als verspätet zurückweist. Dies umso weniger, als selbst verspätete Fragen ja ohnehin zulässig bleiben sollen, solange nur die HV nicht zeitlich aus dem Ruder läuft.

Für all diese Erst- und Rückfragen in der HV kann der Aktionär neben Texteingaben auch seinen Live-Redebeitrag per Videokommunikation nutzen. Der Versammlungsleiter kann ihn umgekehrt auf den Weg der Videokommunikation beschränken.

Kommunikative Lufthoheit

Hinzu kommt, dass die Gesellschaft laut dem RegE vorab eingereichte Fragen auf ihrer Internetseite schriftlich beantworten muss – und zwar spätestens einen Tag vor der virtuellen HV. Davon verspricht das Bundeskabinett sich mehr Transparenz sowie straffere Abläufe am eigentlichen Versammlungstag. Denn der Vorstand soll befugt sein, die Aktionäre in der virtuellen HV auf seine schriftlichen Antworten zu verweisen; er müsste sie also nicht mehr eigens verlesen. Dieses Prozedere fasst der RegE unter die Stichworte „Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen“ sowie „Entzerrung der HV“.

Besagtes Prozedere hat aber noch ganz andere Konsequenzen:

Erstens verkürzt sich die Bearbeitungsfrist für die Gesellschaft von drei auf zwei Tage. Denn die Antworten müssen ja nicht erst am Versammlungstag bereitstehen, sondern schon einen Tag zuvor. Das ist immer noch mehr Zeit, als aktuell unter dem COVMG zur Verfügung steht. Vom komfortablen Zeithorizont des RefE (vier Tage) entfernt sich der RegE damit aber doch deutlich.

Zweitens ist absehbar, dass eine schriftliche Beantwortung die Gesellschaft auch inhaltlich vor neue Herausforderungen stellen wird. Das geschriebene Wort ist nicht nur leichter zitierbar und hat größere Verbindlichkeit. Es erhöhen sich auch die Anforderungen an Vollständigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit der Antworten. Ebenso daran, dass die Antworten auf verwandte Aktionärsfragen zusammenpassen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Und überdies wird stets zu prüfen sein, ob vorab erteilte Antworten am Tag der eigentlichen HV noch aktuell sind – widrigenfalls der Vorstand wohl auch ohne weitere Nachfrage ein Update geben müsste.

Drittens und noch viel wichtiger: Die Gesellschaft büßt mit dem neuen Prozedere in erheblichem Umfang ihre kommunikative Hoheit ein. Es gibt nämlich nicht nur rechtliche, sondern auch handfeste praktische Gründe, aus denen eine HV mit der mündlichen Vorstandsrede beginnt – nicht hingegen mit einer Fragestunde. Das zu Beginn gesprochene Wort, vorgetragen mit der Autorität und Ausstrahlung eines Vorstands, entfaltet enorme Wirkung. Es erlaubt, die Lage der Gesellschaft im Ganzen zu präsentieren, eigene Schwerpunkte zu setzen und Dinge in einen größeren Kontext zu stellen. Dabei ist gut beraten, wer auch und gerade kritische Punkte proaktiv anspricht – und auf diese Weise erwartbaren späteren Fragen und Unmutsäußerungen vorgreift.

Diese frühen, klaren Kernbotschaften sind es denn auch, die erfahrungsgemäß ihren Weg in die Presse finden. Und sie sind es, die den späteren Vortrag eines Kritikers abschwächen, bisweilen sogar im Keim ersticken. Diese Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, sollten sich schriftliche Fragen und Antworten demnächst schon vor der HV auf der Internetseite finden. Dann nämlich geben die kritische Frage und ein damit etwa verbundener Vorwurf den Ton an; die Antwort muss sie mühsam entkräften. Die Presse wird regelmäßig schon vor der HV auf dieser Basis berichten. Das kann die Gesellschaft auf einem zentralen Forum in die Defensive bringen.

Cui bono?

Es fragt sich, wem mit einer virtuellen HV dieses Zuschnitts noch gedient sein soll. Viele Aktionäre werden weiterhin die physische Bühne und den unmittelbaren Dialog schätzen; für sie ist und bleibt das virtuelle Format die zweite Wahl. Und auch die Unternehmen werden schwerlich Anlass sehen, ein virtuelles Format zu nutzen, das ihnen gemessen an einer Präsenzveranstaltung zusätzliche Klimmzüge abverlangt. Kleinere Nachbesserungen in die eine oder andere Richtung versprechen keine Abhilfe. Dies umso weniger, als der RegE leider insgesamt sehr kleinteilig und unpräzise ausfällt und den Rechtsanwender mit zahlreichen offenen Fragen zurücklässt – Rückwirkungen auf das Recht der Präsenzversammlung nicht ausgeschlossen.

Referentenentwurf zur virtuellen HV

In diesen Tagen erscheint im Otto Schmidt Verlag die Neuauflage des renommierten Handbuchs börsennotierte AG, u.a. mit einem umfassenden Kapitel zur Hauptversammlung aus meiner Feder. Behandelt wird darin selbstverständlich auch die virtuelle HV auf Basis des COVMG, die als Notstandsinstrument die Praxis der letzten beiden Jahre geprägt hat und noch bis Ende August 2022 genutzt werden kann. Unterdessen arbeitet das BMJ daran, die virtuelle HV inhaltlich aufzurüsten und dauerhaft im Aktiengesetz zu implementieren. Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften liegt seit dem 9.2.2022 offiziell vor.

Worum geht es?

Zunächst ist bemerkenswert, worum es im RefE überhaupt geht – und auch worum nicht. Der RefE behandelt allein die neue virtuelle HV und deren Mindestanforderungen, außerdem eine punktuelle Absicherung der Gesellschaften gegen Anfechtungsrisiken bei technischen Pannen. Im Übrigen bleibt das Beschlussmängelrecht jedoch unangetastet. Gleiches gilt für das Recht der Präsenzhauptversammlung, die vollständig erhalten bleibt und gegenüber dem neuen virtuellen Format den gesetzlichen und wohl auch den praktischen Regelfall bilden soll.

Wer regelt was?

Die virtuelle HV soll, außer für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres, nicht unmittelbar durch Gesetz ermöglicht werden. Der RefE sieht vielmehr vor, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – wie es bereits von der Briefwahl und der Online-Teilnahme bekannt ist. Hinzu kommt, dass die Satzungsklausel zum virtuellen Format stets eine beschränkte Laufzeit von maximal fünf Jahren haben soll. Das macht es erforderlich, die Hauptversammlung wiederkehrend mit der Frage zu befassen, ähnlich wie beim genehmigten Kapital, bei Anleiheermächtigungen oder beim Erwerb eigener Aktien. Damit verbinden sich beachtliche Hürden. Allen voran: Es bedarf im Regelfall einer Drei-Viertel-Kapitalmehrheit, außerdem der Eintragung der Satzungsänderung in das Handelsregister, die durch etwaige Anfechtungsklagen erschwert sein kann. Für Publikumsgesellschaften mit breitem Streubesitz ist beides kein triviales Unterfangen.

Was gehört zum Programm?

Die Eckpunkte der neuen virtuellen HV sehen laut RefE wie folgt aus:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • Stimmabgabe der Aktionäre im Wege elektronischer Kommunikation
  • Geschäftsordnungsanträge während der HV im Wege elektronischer Kommunikation
  • Gegenanträge i.S.v. § 126 AktG nur vorab unter Wahrung der bekannten 14-Tagesfrist, es sei denn, die Einberufung gestattet Gegenanträge auch noch in der HV
  • „Auskunftsrecht nach § 131“ (gemeint ist: Fragerecht) im Wege elektronischer Kommunikation, wobei der Vorstand eine Vorabeinreichung der Fragen bis vier Tage vor der HV anordnen kann – dann allerdings hat der Aktionär in der Versammlung noch ein thematisch beschränktes Nachfragerecht im Wege elektronischer Kommunikation
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts (d.h. des Redemanuskripts des CEO) oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sechs Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen (insbesondere Videobotschaften) zur Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation bis vier Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation – mit vorherigem Anmeldeerfordernis und Vergabe der verfügbaren Slots nach dem Prioritätsprinzip
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Was darf die HV?

Der RefE schränkt die Kompetenzen einer HV im neuen virtuellen Format in keiner Weise ein. Auch das virtuelle Format ist also geeignet, sämtliche Gegenstände zu behandeln, die in die Zuständigkeit der HV als Organ fallen – einschließlich weitreichender Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Ausdrücklich heißt es in den Materialien, die virtuelle HV sei eine vollwertige Versammlungsform, im Verhältnis zur Präsenzversammlung also keine „Versammlung zweiter Klasse“.

Wie geht es weiter?

Die Verbände haben bis zum 11.3.2022 Gelegenheit, zum RefE Stellung zu nehmen. Dabei dürfte es wenig aussichtsreich sein, auf weiterreichende Reformen, namentlich des Beschlussmängelrechts oder der Präsenzversammlung, zu drängen – denn dafür fehlt neben der Zeit augenscheinlich auch ein konsensfähiger Ansatz. Was aber zu diskutieren ist, sind die Bausteine der virtuellen HV. So fällt beispielsweise auf, dass Videobotschaften (auf freiwilliger Basis) schon bisher vielfach ermöglicht, aktionärsseitig aber kaum genutzt worden sind. Es besteht also offenbar kein nennenswertes Interesse hieran. Es sollte daher überdacht werden, ob dieses Element im Gesetz wirklich verankert sein muss – zumal neben den Live-Redebeiträgen. Auch sind einige dogmatische Fehler zu beheben: So verwechselt der RefE das Auskunftsrecht (d.h. den Anspruch auf eine Antwort) mit dem Fragerecht (d.h. dem Auskunftsverlangen), übersieht die erhebliche Schnittmenge zwischen Geschäftsordnungs- und Gegenanträgen und umschreibt die vorgelagerte Übersendung von Briefwahlstimmen und Weisungen rechtsirrig als „Abstimmung“.

Fokus statt Flickenteppich

Ein weiterer Punkt: Die Entwurfsmaterialien signalisieren, dass die virtuelle HV neuen Zuschnitts kein breites Massenphänomen mehr sein wird (vgl. die zurückhaltenden Schätzungen i.R.d. Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Begr. RefE S. 19). Genau das mag vom BMJ politisch auch durchaus gewollt sein. Dann aber fragt sich, warum sich ihre Regelung zersplittert in nahezu jeder zentralen HV-Vorschrift niederschlagen soll. Meine Anregung ist: ein eigener, in sich geschlossener Unterabschnitt zur virtuellen HV, z.B. als neue §§ 132a ff. AktG. Dort wäre dann en bloc zu lesen, dass die HV auf Satzungsgrundlage auch im virtuellen Format stattfinden kann – mit unmittelbar anschließender Regelung aller Besonderheiten gegenüber der klassischen Präsenzversammlung. Die Vorteile liegen auf der Hand: eine schlankere und klarere Regelung, keine systematischen und thematischen Sprünge im bisherigen HV-Recht sowie die Möglichkeit, das virtuelle Format im Gesetz schlicht zu überblättern, falls es denn für die eigene Praxis keine Rolle spielt.

Hinweis des Verlags:

Weitere Informationen zu Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, finden Sie hier.

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Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag der Ampel

Am Mittwoch, den 24.11.2021, haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP den Koalitionsvertrag präsentiert, der auf den Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ lautet. Bei der Lektüre des 178 Seiten langen Textes fällt auf, dass die Ampel-Koalition zwei unternehmensrechtliche Themen, die früher Gegenstand von Wahlkämpfen waren, nicht aufgreift: die Geschlechterquote in den Gesellschaftsorganen und die Managervergütung. Augenscheinlich ist das Unternehmensrecht in diesem Zusammenhang fortschrittlich genug und muss nicht angetastet werden. Im Hinblick auf die Reformen der vergangenen Jahre bleibt zu hoffen, dass sich die Koalitionäre an ihr Schweigen halten. Der Schwerpunkt der unternehmensrechtlichen Reformvorhaben liegt in anderen Bereichen, die im Folgenden dargestellt werden.

Sorgfaltspflichten in den Lieferketten

Am Ende der vergangenen Legislaturperiode hat der deutsche Gesetzgeber das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG; BGBl. I 2021, S. 2959) verabschiedet (zum Entwurf vom März 2021 Reich, AG 2021, R116; Scheffler, AG 2021, R120; zur Endfassung Scheffler, AG 2021, R199). Außerdem hat das Europäische Parlament im März 2021 einen Legislativvorschlag zur Sorgfaltspflicht und Rechenschaftspflicht von Unternehmen präsentiert. Der für Herbst 2021 erwartete Richtlinienentwurf der EU-Kommission liegt bislang nicht vor. An diese Entwicklung anknüpfend halten die Ampel-Koalitionäre auf S. 34 fest, dass sie ein wirksames EU-Lieferkettengesetz unterstützen, das kleinere und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Das deutsche LkSG werde unverändert umgesetzt und ggf. verbessert. Insgesamt wäre die Bundesregierung wohl gut beraten, zunächst die Entwicklungen auf europäischer Ebene abzuwarten und ggf. zu versuchen, sie zu beeinflussen. Erst wenn das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene ins Stocken geraten oder gar scheitern sollte, wäre es zweckmäßig, das LkSG nachzubessern.

Whistleblowing

Anders als das LkSG hat es ein Hinweisgeberschutzgesetz in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr über die Ziellinie geschafft. In dieser Legislaturperiode ist hiermit sicher zu rechnen, da die Whistleblowing-Richtlinie (EU) 2019/1937 vom 23.10.2019 den Mitgliedsstaaten Regelungen zum Whistleblowing zwingend zur Umsetzung vorgibt. Da die Umsetzungsfrist bereits am 17.12.2021 endet, wäre es nicht überraschend, wenn das Whistleblowing zu denjenigen unternehmensrechtlichen Themen zählt, die die Ampel-Koalitionäre prioritär angehen.

Die Essenz der Umsetzung deutet der Koalitionsvertrag auf S. 111 nur vage an. Zu begrüßen ist die ausdrückliche Festlegung, insofern über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinauszugehen, als das angestrebte Regime nicht auf die Meldung von Verstößen gegen EU-Recht beschränkt bleiben soll, sondern auch bestimmte Verstöße gegen nationale Vorschriften umfasst sein sollen. Abgesehen hiervon wäre es der Rechtssicherheit und Praktikabilität dienlich, wenn der Gesetzgeber Klarheit hinsichtlich der Frage schafft, ob und inwieweit Hinweisgebersysteme im Konzern einheitlich betrieben werden können (hierzu Holle, ZIP 2021, 1950). Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger stellen die Ampel-Koalitionäre unter einen Prüfvorbehalt, so dass abzuwarten bleibt, inwieweit sie sich dazu durchringen werden, Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote vorzusehen.

Verbandssanktionen

Kein unionsrechtlicher Umsetzungsdruck besteht beim Thema Verbandssanktionierung. Die gegenwärtige Rechtslage wird von vielen aus guten Gründen aber als unbefriedigend empfunden; die in der letzten Legislaturperiode anvisierte Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung ist auf der Zielgeraden gescheitert. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Koalitionsvertrag sich ihrer auf S. 111 neuerlich annimmt. Ob sich dahinter eine ähnlich weitreichende Neuaufstellung des Rechts der Verbandssanktionierung verbirgt, wie sie der in der vergangenen Legislaturperiode vorliegende Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes (VerSanG; BT-Drucks. 19/23568) bedeutet hätte, ist fraglich. Tendenziell klingt es nach einer kleinen Lösung, die sich mit einer Anhebung der Bußgeldobergrenzen, der Normierung einer Compliance-Defense sowie gewisser Regelungen zu internen Untersuchungen im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts begnügt.

GmbH mit gebundenem Vermögen

Ein klares Bekenntnis geben die Ampel-Koalitionäre auf S. 30 des Vertrags zu einer neuen Rechtsform ab, die im Schrifttum sehr umstritten ist: die Gesellschaft mit gebundenem Vermögen (für die Einführung einer solchen Gesellschaftsform Sanders/Dauner-Lieb/Kempny/Möslein/Veil, GmbHR 2021, 285; dagegen etwa Habersack, GmbHR 2020, 992). Den Einsatz dieser Rechtsform als Vehikel für Steuersparkonstruktionen will die künftige Regierung vermeiden (auf diese Gefahr hinweisend Hüttemann/Schön, DB 2021, 1356; relativierend Kempny, DB 2021, 2248). Ungeachtet der steuerrechtlichen Probleme sollte der Gesetzgeber überprüfen, ob es einer solchen Gesellschaftsform tatsächlich bedarf, um die angestrebten Ziele zu erreichen (eingehend Hüttemann/Rawert/Weitemeyer, npoR 2020, 296).

GmbH-Gründungsrecht

Darüber hinaus verpflichten sich die Koalitionäre auf S. 111 f. des Vertrags, die Gründung von Gesellschaften zu erleichtern, indem sie Beurkundungen per Videokommunikation auch bei Gründungen mit Sacheinlage und weiteren Beschlüssen erlauben. Die Ampel dürfte damit in erster Linie die GmbH im Blick gehabt haben. Auch wenn keine sachlichen Gesichtspunkte gegen eine elektronische AG-Gründung sprechen, dürfte dies trotz aller Fortschrittsbekundungen auch künftig keine Option sein.

Der Koalitionsvertrag setzt an § 2 Abs. 3 GmbHG i.d.F. des DiRUG (BGBl. I 2021, S. 3338) an, wonach nur eine elektronische GmbH-Bargründung möglich ist. Diese Einschränkung, die im Schrifttum kritisiert wurde (s. nur Drygala/Grobe, GmbHR 2020, 985 Rz. 32 ff.), soll in der Zukunft entfallen, was nachdrücklich zu begrüßen ist. Die Unternehmensgründung soll zudem durch eine umfassende Start-Up-Strategie gefördert werden, zu der u.a. die Einführung von flächendeckenden „One Stop Shops“ (Anlaufstellen für Gründungsberatung, -förderung und -anmeldung) gehört. In solchen „One Stop Shops“ sollen Unternehmensgründungen innerhalb von 24 Stunden möglich sein (S. 30 des Koalitionsvertrags).

Hauptversammlungsrecht

Auf einhellige Zustimmung dürfte die auf S. 112 des Koalitionsvertrags angekündigte dauerhafte Einführung von Online-Hauptversammlungen fallen. Die auf Corona-Sondergesetzgebung gestützte Online-Hauptversammlung (s. § 1 COVMG) hat sich im Groben und Ganzen bewährt (zur Empirie s. nur Danwerth, AG 2021, 613) und kann als Blaupause für die anstehende Aktienrechtsreform dienen.

Spannend bleibt die Frage, wie die Aktionärsrechte im künftigen Hauptversammlungsrecht ausgestaltet werden. Die Ampel-Koalition verspricht, jene uneingeschränkt zu wahren. Dies deutet darauf hin, dass die Regelungen in § 1 Abs. 1, 2 und 7 COVMG, die das Rede-, Auskunfts- und Anfechtungsrecht der Aktionäre beschränken, nicht ins Aktiengesetz überführt werden (speziell zur Aktionärskommunikation Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 und VGR, AG 2021, 380 Rz. 8 ff.). Ungeachtet der rechtspolitischen Diskussionen um die Reichweite der Aktionärsrechte sollte das BMJ zügig einen Referentenentwurf präsentieren, damit die Unternehmen nach den Erfahrungen mit § 1 COVMG in der Hauptversammlungssaison 2023 nicht wieder im vordigitalen Zeitalter landen (zu COVMG-Verlängerungen und der Zeitschiene für die Aktienrechtsreform Danwerth, AG 2021, R283 f.).

Die Ampel-Koalition sollte die Digitalisierung der Hauptversammlung dafür nutzen, auch das Beschlussmängelrecht zu reformieren. Die Große Koalition, die eine solche Reform auf S. 131 des Koalitionsvertrags für die 19. Legislaturperiode angekündigt hatte, hat ihr Versprechen trotz umfassender rechtspolitischer Vorschläge nicht umgesetzt (s. nur die Beschlüsse des 72. Deutschen Juristentags, S. 27 ff. und die Vorschläge des AK Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617).

Überdies sollte die künftige Regierung erwägen, die Möglichkeit einer digitalen Versammlung auch für die Gesellschaftsorgane und andere Gesellschaftsformen auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen. Wie die Corona-Pandemie gezeigt hat, besteht nicht nur für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ein Bedarf an virtuellen Sitzungen.

Elektronische Aktie

In der 19. Legislaturperiode hat der Gesetzgeber mit dem eWpG (BGBl. I 2021, S. 1423) die Möglichkeit geschaffen, elektronische Wertpapiere zu begeben (hierzu nur Sickinger/Thelen, AG 2020, 862; Sickinger/Thelen, AG 2021, R198). Gleichwohl beschränkt sich das Gesetz gem. § 1 eWpG auf Inhaberschuldverschreibungen; die Begebung elektronischer Aktien ist nicht möglich (s. Begr. RegE, BT-Drucks. 19/26925, 38). Dies könnte sich in der 20. Legislaturperiode ändern: Beiläufig erwähnt der Koalitionsvertrag auf S. 172 unter der Überschrift „Digitale Finanzdienstleistungen und Währungen“, die Emission elektronischer Aktien zu ermöglichen (zu den gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen Guntermann, AG 2021, 449).

Kapitalmarktrecht

Positiv ist zu würdigen, dass sich die Ampel auf den S. 169 ff. des Koalitionsvertrags zur Vertiefung der Kapitalmarktunion bekennt und die Barrieren für grenzüberschreitende Kapitalmarktgeschäfte in der EU abbauen, den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt erleichtern und die Markttransparenz stärken möchte. Auch die Schaffung eines angemessenen regulatorischen Rahmens für FinTechs und vergleichbare Unternehmen ist zu begrüßen. Gleichwohl sollte die künftige Regierung bei all der Regulierungsfreude bedenken, dass sich die enorme Regelungsdichte im Kapitalmarktrecht als ein Grund dafür erweist, den Kapitalmärkten fernzubleiben. Vor diesem Hintergrund sollte die Ampel erwägen, ob weniger (und klarer!) nicht doch mehr ist.

Mitbestimmungsrecht

Auf S. 72 kündigen die Koalitionäre an, sich für die Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung einzusetzen, so dass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Das klingt für zahlreiche Gesellschaften, die (noch) nicht der Unternehmensmitbestimmung unterliegen, wie eine Einladung zur zügigen Umwandlung in eine SE, um rechtzeitig die derzeit bestehende Möglichkeit auszunutzen, das Mitbestimmungsstatut einzufrieren.

Prozessrecht

Aus der Perspektive des Unternehmensrechts interessant sind die Aussagen auf S. 108 des Koalitionsvertrags, wonach das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) – das in der 19. Legislaturperiode ohne inhaltliche Änderungen verlängert wurde (BGBl. I 2020, S. 2186) – modernisiert werden soll und englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten ermöglicht werden sollen.

Steuer- und Geldwäscherecht

Fernwirkungen auf das Unternehmensrecht dürften manche steuer- und geldrechtlichen Pläne haben. So sprechen die Koalitionäre auf S. 167 des Vertrags davon, aufbauend auf den Maßnahmen der letzten Legislaturperiode missbräuchliche Dividendenarbitragegeschäfte zu unterbinden. Ein weiteres Reformversprechen betrifft das Transparenzregister. Auf S. 171 f. des Koalitionsvertrags kündigt die künftige Regierung an, die Qualität der Daten im Transparenzregister zu verbessern, so dass die wirtschaftlich Berechtigten in allen vorgeschriebenen Fällen tatsächlich ausgewiesen werden.

Mehr zum Unternehmensrecht im Koalitionsvertrag im AG-Report 24/2021.