Shareholder activism bei ProSiebenSat.1: Aufsichtsratsbesetzung und Abspaltung von Unternehmenssegmenten

Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein zunehmender Aktionärsaktivismus zu beobachten (aufschlussreiche aktuelle Bestandsaufnahme bei Rieckers, DB 2024, 439, 444; aus älterer Zeit etwa Graßl/Nikoleyczik, AG 2017, 49; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 299). Neben Öffentlichkeitskampagnen greifen aktivistische Investoren auch auf hauptversammlungsbezogene Aktionärsrechte zurück, um ihre Anliegen durchzusetzen (Überblick über die Möglichkeiten bei Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 11 ff.). Hierzu gehören insbesondere Gegenanträge und Wahlvorschläge nach §§ 126, 127 AktG (s. Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 31; zum Fall Brenntag in der HV-Saison 2023 Rieckers, DB 2024, 439, 444) sowie das Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 AktG (hierzu etwa Kuthe/Beck, AG 2019, 898 ff.; Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 41).

Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1

In der aktuellen Hauptversammlungssaison dürfte das Aktionärstreffen der ProSiebenSat.1 Media SE (im Folgenden: ProSiebenSat.1) das – aus rechtlicher und unternehmenspolitischer Perspektive – interessanteste Beispiel für den Aktionärsaktivismus sein. Die Besonderheit des Falles liegt zunächst darin, dass weder aktivistische Fonds noch Aktionärsvereinigungen noch Nichtregierungsorganisationen im Zentrum stehen, sondern ein Großaktionär: Die MFE-MEDIAFOREUROPE N.V. (im Folgenden: MFE) mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Cologno Monzese bei Mailand, deren CEO Pier Silvio Berlusconi – der Sohn des ehemaligen italienischen Premierministers – ist und an der die Familie Berlusconi maßgeblich beteiligt ist, hält 26,58% der Aktien der ProSiebenSat.1. Rechnet man die gem. § 71b AktG stimmrechtslosen eigenen Aktien der ProSiebenSat.1 hinweg, beläuft sich der Stimmenanteil der MFE auf 27,32%. Der zweitgrößte Aktionär, die PPF Group N.V. (im Folgenden: PPF) – ein Finanzinvestor im Familienbesitz mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Prag – ist mit 11,60% am Grundkapital der ProSiebenSat.1 beteiligt und hält 11,92% der Stimmrechte. 59,12% der Aktien bzw. 60,76% der Stimmrechte befinden sich im Streubesitz (s. die Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1).

Aktionärsvorschläge im Überblick

Die beiden Großaktionäre haben – zum Teil durchaus öffentlichkeitswirksam – für Wirbel gesorgt, indem sie die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 dazu gezwungen haben, fünf Vorschläge auf die Tagesordnung der Hauptversammlung 2024 zu setzen:

  • Zwei eigene Kandidaten zur Aufsichtsratswahl 2024 (MFE und PPF);
  • Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden (nur MFE);
  • Vorbereitung der Abspaltung der Unternehmenssegmente Commerce & Ventures und Dating & Video (nur MFE);
  • Neugestaltung des genehmigten Kapitals (nur MFE);
  • Erweiterung der statutarischen Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen.

Wahlvorschläge der Großaktionäre

In der diesjährigen Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 steht als TOP 8 die Wahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern an. Der Aufsichtsrat hat Klára Brachtlová (die eine Leitungsposition in einer Tochtergesellschaft der PPF bekleidet), Marjorie Kaplan und Pim Schmitz (der ein Director einer Holdinggesellschaft ist, deren Tochtergesellschaft im Produktionsbereich eine Geschäftsbeziehung zur ProSieben.Sat1 unterhält) zur Wahl vorgeschlagen. Die beiden Großaktionäre haben gem. § 127 AktG Wahlvorschläge für die Aufsichtsratswahl unterbreitet. Die MFE schickt Leopoldo Attolico gegen Schmitz ins Rennen. Die PPF schlägt Christoph Mainusch statt Kaplan oder Schmitz zur Wahl vor. Der Aufsichtsrat hält in seiner Stellungnahme zu den Aktionärsvorschlägen an seinem ursprünglichen Vorschlag fest.

Weil die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 virtuell i.S.d. § 118a AktG stattfindet, greift die Antragsfiktion nach § 126 Abs. 4 AktG i.V.m. § 127 Satz 1 AktG ein. Das führt gem. § 126 Abs. 4 Satz 2 AktG dazu, dass die ProSiebenSat.1 den Aktionären schon im Vorfeld der Hauptversammlung die Wahl der oppositionellen Kandidaten ermöglichen muss (s. dazu Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.2.2024, § 126 AktG Rz. 65 ff.; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21 i.V.m. § 126 AktG Rz. 72).

Die PPF will zudem sicherstellen, dass die Hauptversammlung über ihren Wahlantrag vor dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats abstimmt und die vorgezogene Abstimmung über ihren Antrag auch in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal zum Ausdruck kommt. Die Festlegung der Abstimmungspriorität kann die PPF gem. § 137 AktG durchsetzen, wenn eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des vertretenen Grundkapitals erreichen, die vorgezogene Abstimmung über den Aktionärsvorschlag verlangt. Da die PPF mit 11,60% an der ProSiebenSat.1 beteiligt ist, kann sie das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG im Alleingang erfolgreich stellen (zum Vorgehen in der virtuellen HV s. Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 9 ff.). Allerdings muss sie dies in der Hauptversammlung selbst tun: Die Antragsfiktion des § 126 Abs. 4 AktG erstreckt sich nicht auf das Minderheitsverlangen gem. § 137 AktG (Koch, 18. Aufl. 2024, § 126 AktG Rz. 18, § 137 AktG Rz. 2 a.E.; Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 5; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21).

Die hauptversammlungsbezogene Ausgestaltung des Minderheitsverlangens nach § 137 AktG ist eine Hürde, an dem das zweite Ziel der PPF scheitern könnte. Es spricht viel dafür, dass die Verwaltungsorgane nicht verpflichtet sind, die Briefwahlunterlagen und das Aktionärsportal von vornherein so auszugestalten, dass die von PPF bevorzugte Abstimmungsreihenfolge erkennbar ist. In dogmatischer Hinsicht schränkt § 137 AktG nämlich das Ermessen des Versammlungsleiters ein, die Reihenfolge der Abstimmung festzulegen (Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1); eine Bindungswirkung gegenüber den Verwaltungsorganen entfaltet § 137 AktG hingegen nicht. Dies ist im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Einbettung des § 137 AktG konsequent: Weil das Minderheitsverlangen im Vorfeld der Hauptversammlung noch nicht förmlich gestellt wurde, können die Verwaltungsorgane nicht daran gebunden sein. Freilich steht es den Verwaltungsorganen der ProSiebenSat.1 offen, schon in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal die von PPF beantragte Abstimmungsreihenfolge zu berücksichtigen.

In rechtspolitischer Hinsicht ist es erwägenswert, den Aktionären unabhängig vom Hauptversammlungsformat die Möglichkeit einzuräumen, das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG schon im Vorfeld der Hauptversammlung zu stellen, und die Verwaltungsorgane im Erfolgsfall zu verpflichten, die von den Aktionären erzwungene Abstimmungsreihenfolge in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal kenntlich zu machen (darauf abzielende Vorschläge de lege lata bei Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.; zurückhaltender M. Arnold in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 137 AktG Rz. 19; Koch, 18. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1). § 137 AktG will die Minderheitsinteressen stärken, indem er den Wahlvorschlag der Aktionäre gegenüber dem Vorschlag des Aufsichtsrats priorisiert; der oppositionelle Kandidat soll nicht hinter den Kandidaten des Aufsichtsrats versteckt werden (s. nur Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1168 f., der vom Grundsatz prozeduraler Neutralität spricht). Die Wirkung dieser verfahrensrechtlichen Vorkehrung droht zu verpuffen, wenn sie bei der – in der Praxis von Publikumsgesellschaften durchaus relevanten (s. nur Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 Rz. 4 ff.; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172) – Vorfeld-Abstimmung keine Rolle spielt. Insoweit sollte der Gesetzgeber die Verfahrensmodalitäten des § 137 AktG an die Realität der Hauptversammlung anpassen und sich auch insoweit vom Mündlichkeitsprinzip verabschieden (zur nicht mehr zeitgemäßen Ausgestaltung des § 137 AktG zutr. Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.).

Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden

Unternehmenspolitisch brisanter als die Wahlvorschläge der beiden Großaktionäre ist das auf § 122 Abs. 2 AktG gestützte Ergänzungsverlangen von MFE dahingehend, die Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds auf die Tagesordnung zu setzen. Weil die Hauptversammlung gem. § 103 Abs. 1 AktG für die Abberufung zuständig ist und die MFE mit ihrem Aktienpaket den in § 122 Abs. 2 AktG vorgeschriebene Anteil am Grundkapital deutlich überschreitet, hat die ProSiebenSat.1 ihre Tagesordnung gem. § 124 Abs. 1 AktG entsprechend ergänzt.

Abberufen werden soll Rolf Nonnenmacher, der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und der Vorsitzende des Prüfungsausschusses bei ProSiebenSat.1 sowie der ehemalige Vorsitzende der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, dessen Aufsichtsratsmandat erst mit dem Ablauf der Hauptversammlung 2025 endet. An Nonnenmachers Stelle soll nach dem Vorschlag der MFE Simone Scettri, ein italienischer Wirtschaftsprüfer, treten.

Die MFE begründet ihr Verlangen damit, dass Nonnenmacher in einem Zeitraum Aufsichtsratsmitglied und Prüfungsausschussvorsitzender war, auf den sich eine durch den Aufsichtsrat in Auftrag gegebene interne Untersuchung wegen möglicher Compliance-Vorfälle in Tochtergesellschaften erstreckt. Dadurch könne Nonnenmacher gerade als Vorsitzender des Prüfungsausschusses zumindest potenziell von der Untersuchung betroffen sein, so dass eine Interessenkollision nicht ausgeschlossen sei. Ein denkbarer Interessenkonflikt, der eine freie Amtsführung beeinträchtigen könne, sei vorsorglich zu vermeiden. Der Aufsichtsrat schlägt der Hauptversammlung vor, gegen die Abberufung von Nonnenmacher und die Wahl von Scettri zu stimmen, und verweist dabei zum einen auf die überlegende Qualifikation von Nonnenmacher, zum anderen auf mögliche Interessenkonflikte von Scettri, der in Italien für Ernst & Young (EY) tätig war; EY Deutschland habe als Abschlussprüfer der ProSiebenSat.1-Gruppe den von MFE ins Spiel gebrachten Compliance-Vorfall nicht beanstandet.

Um ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, muss die Hauptversammlung einen Beschluss fassen, der nach der gesetzlichen Grundregel in § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG einer Mehrheit von drei Viertel der abgegebenen Stimmen bedarf; sachliche Anforderungen – etwa das Vorliegen eines wichtigen Grundes – stellt § 103 Abs. 1 AktG nicht auf (s. Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 3 f.). Indes sieht § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 vor, dass Hauptversammlungsbeschlüsse mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften oder die Satzung etwas anderes vorschreiben. § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG lässt es zu, dass die Satzung eine andere Mehrheit bestimmt. Dabei kann das Mehrheitserfordernis abgesenkt werden, so dass für die Abberufung eine einfache Stimmenmehrheit des § 133 AktG genügt (Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 5; Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Ausreichend ist eine Satzungsklausel, die wie § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 generell, also für alle Hauptversammlungsbeschlüsse, gilt (s. Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Eine Satzungsregelung, die hinsichtlich der Aufsichtsratsabberufung eine von § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 abweichende Mehrheit vorschreibt, liegt nicht vor.

Aus dem Zusammenspiel zwischen § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 und § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG folgt, dass die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 die Abberufung von Nonnenmacher mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen kann. Ob diese Mehrheit erreicht wird, lässt sich freilich noch nicht sicher vorhersagen. Die Hauptversammlungspräsenzen der ProSiebenSat.1 lagen in den Jahren 2021 bis 2023 bei ca. 52% bis 57%. Wird sich die Beteiligungsquote auch 2024 in dieser Größenordnung bewegen, ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die MFE mit ihrem Stimmenanteil von ca. 27% die Abberufung von Nonnenmacher im Alleingang beschließen kann. Es kann aber auch sein, dass sie die alleinige einfache Mehrheit (knapp) verfehlt und auf die Stimmen anderer Aktionäre angewiesen sein wird. Ob die PPF den Vorstoß unterstützen wird und wie sich die Stimmrechtsberater positionieren, ist nicht überliefert. Die Hauptversammlung 2023 hat Nonnenmacher mit 95,73% der abgegebenen gültigen Stimmen bei einer Beteiligung von 54,79% des eingetragenen Grundkapitals entlastet. Es bleibt abzuwarten, wie viele Aktionäre 2024 der Argumentation von MFE folgen, Nonnenmacher im Rahmen des Abberufungsbeschlusses ihr Misstrauen aussprechen und die weitere Umbildung des Aufsichtsrats vorantreiben.

Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten

Für viel Diskussionsstoff sorgt zudem das Ergänzungsverlangen der MFE zur Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten. Auch insoweit ist die Hauptversammlung zuständig (s. § 83 Abs. 1 AktG und § 125 UmwG i.V.m. §§ 13, 63 ff. UmwG), so dass die ProSiebenSat.1 nicht umhinkam, die Tagesordnung gem. § 122 Abs. 2 AktG wie von MFE verlangt zu ergänzen und die Ergänzung gem. § 124 Abs. 1 AktG bekanntzumachen. In rechtstechnischer Hinsicht erinnert das Vorgehen der MFE an den (gescheiterten) Brownspinning-Versuch der Enkraft Capital GmbH bei der RWE AG (s. dazu Fuhrmann/Döding, AG 2022, R168). Überdies ist der Vorstoß im Lichte der Entwicklungen zu sehen, die auch in anderen Marktbereichen zu beobachten sind: So haben etwa die Volkswagen AG mit Traton SE, die Daimler AG (heute Mercedes-Benz Group AG) mit Daimler Truck Holding AG und die Siemens AG mit der Siemens Healthineers AG sowie der Siemens Energy AG die früheren Unternehmenssparten als eigenständige Unternehmen an die Börse gebracht. Ein ähnlicher Schritt steht seit längerer Zeit bei Thyssenkrupp AG in der Diskussion.

Derzeit lässt sich die Unternehmensstruktur von ProSiebenSat.1 in drei Segmente unterteilen: Entertainment, Commerce & Ventures und Dating & Video. Die Abspaltung soll sich auf die letzten beiden Segmente erstrecken, die nach dem Vorschlag von MFE von eigenständigen – bestehenden oder neu zu gründenden – Rechtsträger geführt werden sollen. Diese Rechtsträgen sollen börsennotiert sein, so dass sie als Aktiengesellschaften organisiert sein müssten. Der Aktionärskreis von ProSiebenSat.1 und der neuen Gesellschaften soll im Ausgangspunkt identisch sein; eine Konzernstruktur soll also – anders als bei Volkswagen, Daimler und Siemens – nicht entstehen. Der Beschlussvorschlag lässt dem Vorstand der ProSiebenSat.1 aber die Möglichkeit offen, von der Vorbereitung der Abspaltung abzusehen und sich von den Segmenten Commerce & Ventures und Dating & Video auf eine andere Art und Weise – etwa durch einen Verkauf – zu trennen. Begleitet wird das Ergänzungsverlangen durch den Vorschlag, das genehmigte Kapital neu zu gestalten (s. dazu auch den Vorstandsbericht) und die in der Satzung verankerten Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen ab einer gewissen Schwelle zu erweitern.

Die MFE will erreichen, dass sich die ProSiebenSat.1 künftig nur noch auf das Segment Entertainment fokussiert. Die Zusammensetzung der ProSiebenSat.1 als ein Konglomeratunternehmen bringt nach der Einschätzung der MFE zu wenige Synergievorteile mit sich; zudem ist sie mit zu vielen Nachteilen verbunden. Vor diesem Hintergrund soll es für die einzelnen Segmente vorteilhafter sein, als selbständige Unternehmen mit einer eigenen „Equity Story“ am Markt zu agieren. Die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 weisen diese Argumente zurück. Sie empfehlen keine Abspaltung und wollen sich auf eine wertmaximierende Veräußerung der beiden Segmente fokussieren, die vorbehaltlich der Marktbedingungen über die nächsten 12 bis 18 Monate erfolgen soll.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass sich die MFE und die Verwaltungsorgane in der Sache einig sind: Die ProSiebenSat.1 soll sich über kurz oder lang von den Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video trennen. Während eine Einigkeit über das „Ob“ herrscht, gehen die Meinungen über das „Wie“ auseinander: Die Verwaltungsorgane setzen allein auf einen Verkauf der beiden Segmente, der (liquide) Mittel in die Unternehmenskasse spülen würden. Die MFE hält eine solche Maßnahme an sich für sinnvoll, will aber die Trennung auch dann auf umwandlungsrechtlichem Wege vollziehen, wenn der Verkauf nicht gelingen sollte. Für den Großaktionär steht demnach nicht die Verbesserung der Kassenlage, sondern die strategische Neuausrichtung von ProSiebenSat.1 im Vordergrund: Die Abspaltung führt – anders als der Verkauf – nicht zu einem Mittelzufluss bei ProSiebenSat.1. Beschließt die Hauptversammlung 2024 wie von der MFE vorgeschlagen, wächst der Druck auf den Vorstand der ProSiebenSat.1, den Verkauf möglichst zeitnah abzuwickeln, um seine Vorstellungen von den Trennungsmodalitäten durchzusetzen.

Allerdings sind die aktienrechtlichen Hürden für die Beschlussfassung hoch: Nach § 83 Abs. 1 Satz 3 AktG bedarf der Beschluss der Mehrheit, die für die Maßnahme – also für die Abspaltung – erforderlich ist, also gem. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG „einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt.“ Wie bei der Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hängt der Erfolg der Maßnahme vom Abstimmungsverhalten der PPF und der Streubesitzaktionäre ab; eine bedeutende Rolle dürfte die Positionierung der Stimmrechtsberater spielen. In inhaltlicher Hinsicht sind die Aktionäre in ihrem Abstimmungsverhalten weitgehend frei: Die Festlegung der Trennungsmodalitäten ist eine unternehmerische Entscheidung, so dass die Hauptversammlung einen breiten Ermessensspielraum genießt. Ihre Entscheidung dürfte kaum wegen Inhaltsfehler angreifbar sein.

Fasst die Hauptversammlung den Beschluss mit der qualifizierten Mehrheit des § 83 Abs. 1 AktG i.V.m. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG, ist die Abspaltung noch nicht ausgemacht. Der Vorstand der ProSiebenSat.1 hätte nach wie vor die Option, die Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video zu verkaufen. Auch wenn der Verkauf misslingt, ist die Abspaltung nicht sicher. In einem solchen Fall muss der Vorstand „lediglich“ den Spaltungs- und Übernahmevertrag vorbereiten, über den die Hauptversammlung 2025 nach Maßgabe der §§ 125, 13, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG zu beschließen hat; erforderlich ist wiederum eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit. Der Weg zur Spaltung ist also noch weit.

Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes? (Teil 2 – Deep Dive)

In einem Blog-Beitrag v. 13.2.2024 haben sich die Autoren zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes geäußert. In diesem Beitrag gehen die Autoren noch näher auf die Entscheidungsgrundlage und -möglichkeiten der betroffenen Unternehmen ein – insbesondere warum der „Vorratsbeschluss“ das Mittel der Wahl sein kann.

Nichtstun und hoffen oder Vorratsbeschluss? – das ist die Frage, die sich derzeit zahlreiche große börsennotierte Unternehmen im Hinblick auf ihre diesjährige Hauptversammlung stellen. Große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern, die in den nächsten Wochen – und damit noch vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes – ihre Hauptversammlung einberufen werden, stehen vor der Frage, ob sie die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch auf die Tagesordnung ihrer Hauptversammlung setzen oder später eine entsprechende gerichtliche Bestellung beantragen sollten (siehe hierzu den Blog-Beitrag v. 13.2.2024).

1. Die Krux und die Vertrauensfrage für Unternehmen

Die Krux für die betroffenen Unternehmen ist wie folgt:

  • Wenn die Hauptversammlung keinen (Vorrats-)Beschluss über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts fasst und der Gesetzgeber keine taugliche Übergangsregelung schafft, dann müsste der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts gerichtlich bestellt werden. Ein solcher Antrag könnte – de lege lata und so wie es auch die derzeitige unveröffentlichte Fassung des Referentenentwurfs des CSRD-Umsetzungsgesetzes vorsieht – erst nach dem Ablauf des Geschäftsjahres 2024 gestellt werden (vgl. § 318 Abs. 4 HGB, § 324d HGB-E) und es wäre möglich, dass das Gericht sehr spät etwa erst im März 2025 hierüber entscheidet und ggf. sogar nicht dem Kandidatenvorschlag des Vorstands folgt, sondern einen anderen WP oder eine andere WPG zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts bestellt. Da der (Konzern-)Nachhaltigkeitsbericht Bestandteil des (Konzern-)Lageberichts sein wird, bestünde auch das Risiko, dass die Rechnungslegungsunterlagen nicht mehr innerhalb der 90-Tagesfrist (vgl. Empfehlung F.2 DCGK) offengelegt werden können und ggf. sogar die 4-Monatsfrist zur Übermittlung an das Unternehmensregister (vgl. § 325 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 und Abs. 1a HGB) nicht eingehalten werden kann.
  • Bei einem Vorratsbeschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts wäre hingegen – wie bei allen HV-Beschlüssen – nicht ausgeschlossen, dass ein Aktionär diesen mit einer Nichtigkeits- und/oder Anfechtungsklage angreift. Bei der im Blog-Beitrag v. 13.2.2024 vorgeschlagenen Ausgestaltung des Hauptversammlungsbeschusses dürften allerdings sowohl das Risiko einer solchen Klageerhebung als auch die Erfolgsaussichten einer Beschlussmängelklage sehr gering sein. Sollte tatsächlich eine Beschlussmängelklage gegen den Hauptversammlungsbeschluss erhoben werden, dann wäre zudem nach der Gerichtspraxis und der h.M. eine gerichtliche Bestellung des Prüfers während der anhängigen Beschlussmängelklage möglich. Eine solche (absichernde) gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts könnte sich aber auch erübrigen, falls der Gesetzgeber (noch) eine Übergangsregelung vorsehen sollte, wonach der Abschlussprüfer als der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 gilt, soweit die Hauptversammlung bei diesem Bestellungsbeschluss nichts Abweichendes beschließt. Sollte eine dann noch anhängige Beschlussmängelklage wider (jegliches) Erwarten durchgreifen und den Hauptversammlungsbeschluss rückwirkend beseitigen, so hätte dies (wenn überhaupt) wohl nur geringe Folgen für die Reputation der Gesellschaft, da der Vorratsbeschluss und die Bestellung eines Nachhaltigkeitsprüfers im wohlverstandenen Unternehmensinteresse und ganz im Sinne der Aktionärsdemokratie erfolgten. Und schließlich bestünde zudem die Möglichkeit, den Tagesordnungspunkt betreffend die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Beginn der Hauptversammlung noch abzusetzen, wenn das Gesetzgebungsverfahren eine Übergangsregelung erwarten lässt, die eine entsprechende Beschlussfassung der Hauptversammlung obsolet werden ließe. Mit einem Vorratsbeschluss auf der Tagesordnung würde die Gesellschaft also auch Zeit gewinnen, um dann hoffentlich in der komfortableren Situation zu sein, nicht blind auf eine taugliche Übergangsregelung des Gesetzgebers zu hoffen.

Wie sich betroffene Unternehmen entscheiden, ist daher letzten Endes auch eine gewisse Frage des Vertrauens in die Arbeit des Gesetzgebers und der Registergerichte, nämlich zum einen ob der Gesetzgeber eine taugliche Übergangsregelung für die (erstmalige) Bestellung des Prüfers in Bezug auf den Nachhaltigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 2024 schafft und, falls nicht, ob das jeweils zuständige Registergericht den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zügig und gemäß dem Antrag des Vorstands bestellt. Bei Zweifeln und entsprechender Folgenabschätzung kann auch ein sorgfältig zu gestaltender Vorratsbeschluss das Mittel der Wahl sein (siehe hierzu den Formulierungsvorschlag im Blog-Beitrag v. 13.2.2024) – zumal man sich anderenfalls ggf. der Frage von Aktionären, Stimmrechtsberatern und institutionellen Investoren stellen muss, warum man die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts gerade nicht auf die Tagesordnung gesetzt hat und nicht die Aktionäre hierüber entscheiden lässt.

2. Warum der „Vorratsbeschluss“ das Mittel der Wahl sein kann

Die Nichtigkeitsgründe für Hauptversammlungsbeschlüsse sind im Interesse der Rechtssicherheit im Gesetz abschließend geregelt (vgl. § 241 AktG: „nur dann nichtig, wenn“). Ungeschriebene Nichtigkeitsgründe gibt es nicht (Ehmann in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 241 AktG Rz. 10). Die Nichtigkeitsfolge ist damit im Beschlussmängelrecht die Ausnahme.

Gemäß § 241 Nr. 3 AktG ist ein Hauptversammlungsbeschluss nur dann nichtig, wenn er mit dem Wesen der Aktiengesellschaft nicht zu vereinbaren ist oder durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutze der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind. Der Tatbestand des § 241 Nr. 3 AktG ist von einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe geprägt und es gibt insbesondere keine allgemein akzeptierte Definition dessen, was das „Wesen der Aktiengesellschaft“ ausmacht (vgl. Austmann in MünchHdb/AG, 5. Aufl. 2020, § 42 Rz. 12). Der BGH spricht von den „Grundprinzipien des Aktienrechts“, ohne allerdings erkennen zu lassen, welche der drei Tatbestandsvarianten des § 241 Nr. 3 AktG er dabei im Blick hat (BGH. 20.9.2004 – II ZR 288/02, NJW 2004, 3561, 3562 = AG 2004, 673). Nach dem OLG München liegt ein Verstoß gegen das Wesen der AG vor, „wenn gegen einen fundamentalen Grundsatz des aktuell geltenden Aktienrechts verstoßen wird, der nicht bereits durch eine speziellere Regelung geschützt bzw. sanktioniert wird und dieser Verstoß auch unter Berücksichtigung der Wertung des Gesetzgebers, wonach die Nichtigkeit die Ausnahme eines Rechtsverstoßes darstellt, die Nichtigkeit nach sich ziehen soll“ (OLG München v. 14.11.2012 – 7 AktG 2/12, NZG 2013, 459, 461 = AG 2013, 173).

Nichtig wegen Verstoßes gegen das Wesen der Aktiengesellschaft sind nach h.M. kompetenzüberschreitende Hauptversammlungsbeschlüsse, die in die Zuständigkeit eines anderen Gesellschaftsorgans eingreifen (vgl. Englisch in Hölters/Weber, 4. Aufl. 2022, § 241 AktG Rz. 66: „Angelegenheit ausschließlich der Kompetenz eines anderen Organs zugeordnet“; Ehmann in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 241 AktG Rz. 16: „Verletzung der aktienrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen den Organen“; Drescher in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 241 AktG Rz. 238: „Beschluss fällt in die ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Organs“; Koch, ZHR 182 [2018], 378, 389 f.: „Kompetenzverletzungen zu Lasten anderer Gesellschaftsorgane“; hingegen weniger deutlich, aber i.E. auch Koch, 17. Aufl. 2023, § 241 AktG Rz. 17; Schäfer in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 241 AktG Rz. 62).

Unseres Erachtens greift ein Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes nicht in die Kompetenz eines anderen Gesellschaftsorgans ein. Der Aufsichtsrat ist weder nach derzeitiger Rechtslage noch nach Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes dafür zuständig, den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu bestellen. De lege lata ist der Aufsichtsrat zwar befugt, eine (freiwillige) externe inhaltliche Überprüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. §§ 289b, 315b HGB zu beauftragen (vgl. § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG) – eine Befugnis, über die der Aufsichtsrat im Übrigen (nur) verfügt, weil der von der Hauptversammlung zu bestellende Abschlussprüfer keine (verpflichtende) inhaltliche Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung vornimmt (vgl. § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB). Um den Prüfer der nichtfinanziellen Berichterstattung geht es aber vorliegend nicht, sondern um den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts im Sinne der CSRD, für den die CSRD eine externe Prüfung durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen sog. unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen vorsieht.

Wenn man die Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses – abseits eines Eingriffs in die Kompetenz eines anderen Gesellschaftsorgans – allein damit begründen wollte, dass die Hauptversammlung zum Zeitpunkt der Beschlussfassung (noch) nicht über die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts verfügt, weil sie ihr im Gesetz (bislang) nicht (ausdrücklich) zugeordnet ist (vgl. § 119 Abs. 1 AktG), wäre dies wegen des Ausnahmecharakters der Nichtigkeit sehr fraglich und unseres Erachtens nicht ausreichend.

Damit käme allenfalls eine Anfechtungsklage wegen vermeintlicher Unzuständigkeit der Hauptversammlung für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes infrage.

Dagegen könnte allerdings argumentiert werden, dass die für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständige Hauptversammlung (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG) erst recht auch für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zuständig sein muss (argumentum a maiore ad minus). Denn wenn die Hauptversammlung bereits für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständig ist und der Abschlussprüfer auch den Lagebericht prüfen muss (vgl. § 316 Abs. 1 HGB), der zukünftig um den Nachhaltigkeitsbericht als weiteren prüfungspflichtigen Gegenstand zu erweitern ist, dann muss – in dem (starren) Organisationsgefüge bestehend aus Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung – dieser Hauptversammlungsbefugnis auch die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts immanent sein.

Darüber hinaus kann das Risiko einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage dadurch minimiert werden, dass der Hauptversammlungsbeschluss über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts (i) mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gefasst wird und (ii) seine Durchführung nur für den Fall angeordnet wird, dass ein für das Geschäftsjahr 2024 zu erstellender Nachhaltigkeitsbericht extern durch einen von der Hauptversammlung zu bestellenden Prüfer zu prüfen ist (siehe hierzu den Formulierungsvorschlag im Blog-Beitrag v. 13.2.2024).

Der Beschluss wird also nur wirksam, wenn das CSRD-Umsetzungsgesetz in Kraft tritt und die entsprechende Bestellungskompetenz der Hauptversammlung ausdrücklich zuweist; ansonsten entfaltet der Beschluss keinerlei Rechtswirkungen. Eine Kompetenzüberschreitung durch die Hauptversammlung wäre daher unseres Erachtens fernliegend. Zudem ist mit einer solchen Ausgestaltung des Beschlusses auch dessen Vereinbarkeit mit der Rechtslage nach dem CSRD-Umsetzungsgesetz sichergestellt.

Darüber hinaus kann der Beschluss während der Schwebezeit bis zum Eintritt der Wirksamkeitsvoraussetzung auch nicht mit einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage angegriffen werden (Schäfer in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 241 AktG Rz. 16; Austmann in MünchHdb/AG, 5. Aufl. 2020, § 42 Rz. 13).

Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die Hauptversammlung 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes? (Teil 1 – Intro)

Der Beitrag wurde am 15.2.2024 aktualisiert und ergänzt. In einem weiteren Blog-Beitrag v. 15.2.2024 (Deep Dive) gehen die Autoren noch näher auf die Entscheidungsgrundlage und -möglichkeiten der betroffenen Unternehmen ein – insbesondere warum der Vorratsbeschluss das Mittel der Wahl sein kann.

Nach der am 5.1.2023 in Kraft getretenen Corporate Sustainability Reporting Directive („CSRD“) müssen große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern bereits für nach dem 31.12.2023 beginnende Geschäftsjahre ihren Lagebericht um einen Nachhaltigkeitsbericht erweitern, der extern durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen sog. unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen zu prüfen ist. Damit müssen also Unternehmen, die bereits heute der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. § 289b Abs. 1, § 315b Abs. 1 HGB unterliegen, erstmals für das Geschäftsjahr 2024 einen Nachhaltigkeitsbericht aufstellen und extern prüfen lassen. Im ersten Quartal 2025 werden somit die ersten Nachhaltigkeitsberichte veröffentlicht. Die Mitgliedstaaten haben die CSRD bis zum 6.7.2024 in nationales Recht umzusetzen.

I. Gesetzgebungsverfahren und seine Folgen für die HV-Saison 2024

Mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der CSRD in deutsches Recht („RefE“) ist in Kürze zu rechnen. Die derzeit in der Ressortabstimmung befindliche (unveröffentlichte) Fassung des RefE vom 11.12.2023 sieht vor, dass der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts nicht zwingend der Abschlussprüfer des Jahres- bzw. Konzernabschlusses sein muss, sondern auch ein anderer Wirtschaftsprüfer („WP“) bzw. eine andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaft („WPG“) sein kann. Eine Übergangsregelung für die (erstmalige) Bestellung des Prüfers in Bezug auf den Nachhaltigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 2024 sieht die Entwurfsfassung des RefE nicht vor.

Zahlreiche Unternehmen, die in den nächsten Wochen – und damit noch vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes – ihre Hauptversammlung einberufen werden, stehen daher vor der Frage, ob sie die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch auf die Tagesordnung ihrer Hauptversammlung setzen sollten. Eine spätere Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch eine weitere (außerordentliche) Hauptversammlung nach Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes scheidet schon aus Kostengründen aus, so dass der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts gerichtlich bestellt werden müsste.

1. Gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts

Wird der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 nicht durch die Hauptversammlung gewählt, müsste er auf Antrag durch das zuständige Gericht bestellt werden. Falls das CSRD-Umsetzungsgesetz die für die gerichtliche Bestellung des Abschlussprüfers geltende Regelung des § 318 Abs. 4 HGB für entsprechend anwendbar erklärt (wie in der derzeitigen Entwurfsfassung des RefE vorgesehen), würde dies insbesondere zweierlei bedeuten:

a) Der Antrag auf gerichtliche Bestellung könnte erst nach dem Ablauf des Geschäftsjahres 2024 gestellt werden – und zwar selbst dann, wenn bereits vorher abzusehen ist, dass die Hauptversammlung den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts nicht mehr vor dem Geschäftsjahresende wählen wird (h.M., z.B. Justenhoven/Heinz in BeckBilanzKomm, 13. Aufl. 2022, § 318 HGB Rz. 111 m.w.N.; a.A. etwa Mylich in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, 4. Aufl. 2024, § 318 HGB Rz. 156). Bis das zuständige Registergericht am Sitz der Gesellschaft über den Antrag entscheidet, können ggf. mehrere Wochen vergehen (s.u. b)), so dass eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts etwa auch erst im März 2025 nicht ausgeschlossen wäre.

b) Neben dem zur Antragstellung berechtigten und verpflichten Vorstand und dem antragsbefugten Aufsichtsrat könnte auch jeder Aktionär beim zuständigen Registergericht am Sitz der Gesellschaft einen Antrag auf Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts stellen und für den WP bzw. die WPG entsprechende Vorschläge unterbreiten. Solche Aktionärsanträge würden nicht nur das gerichtliche Bestellungsverfahren in die Länge ziehen, sondern hätten aus Sicht des Vorstands zudem das Risiko, dass das Gericht bei der Auswahl des Prüfers nicht seinem Vorschlag folgt. Denn das Gericht ist auch an die Vorschläge der Verwaltungsorgane nicht gebunden, und zwar selbst dann, wenn beantragt wird, dass die WPG, welche die Abschlussprüfung bereits durchführt, auch die Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung übernimmt.

Vor diesem Hintergrund wäre für das CSRD-Umsetzungsgesetz eine Übergangsregelung wünschenswert, die eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsbericht 2024 bereits vor dem Ende des Geschäftsjahrs 2024 gestattet und die Aktionäre von den Antragsberechtigten ausnimmt, etwa wie folgt:

„Ist der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das zum 31.12.2024 endende Geschäftsjahr bis zum Ablauf des 31.8.2024 noch nicht gewählt worden, so hat das Gericht auf Antrag des Vorstands oder Aufsichtsrats den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu bestellen.“

Noch vorzugswürdiger wäre eine Übergangsregelung, wonach der Abschlussprüfer als der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 gilt, soweit die Hauptversammlung bei diesem Bestellungsbeschluss nichts Abweichendes beschließt.

Da sich Unternehmen kaum auf die Einführung einer solchen Übergangsregelung werden verlassen können, gilt es folgende Handlungsoption zu erwägen:

2. Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes

Sollten also die betroffenen Unternehmen die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bereits vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes von ihrer Hauptversammlung beschließen lassen und damit schon vor Abschluss des erst noch einzuleitenden Gesetzgebungsverfahrens auf die Tagesordnung ihrer HV-Einberufung setzen?

Gegen die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die Hauptversammlung vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes könnte vorgebracht werden, dass die Hauptversammlung zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts verfügt. Denn nach § 119 Abs. 1 AktG beschließt die Hauptversammlung (nur) in den im Gesetz und in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen; bis zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gehört aber die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch nicht zu den (ausdrücklichen) Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung, sondern (lediglich) die Bestellung des Abschlussprüfers (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG).

Dieser Argumentation könnte jedoch wiederum entgegengehalten werden, dass die für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständige Hauptversammlung erst recht auch für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zuständig sein muss (argumentum a maiore ad minus). Denn wenn die Hauptversammlung bereits für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständig ist und der Abschlussprüfer auch den Lagebericht prüfen muss (vgl. § 316 Abs. 1 HGB), der zukünftig um den Nachhaltigkeitsbericht als weiteren prüfungspflichtigen Gegenstand zu erweitern ist, dann muss – in dem (starren) Organisationsgefüge bestehend aus Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung – dieser Hauptversammlungsbefugnis auch die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts immanent sein.

Darüber hinaus würde eine vermeintliche Unzuständigkeit der Hauptversammlung für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes (lediglich) zur Anfechtbarkeit des Beschlusses führen, also nicht seine Nichtigkeit begründen (vgl. § 241, § 243 Abs. 1 AktG). Und falls dann überhaupt eine Anfechtungsklage innerhalb der Einmonatsfrist erhoben werden sollte, dürfte hier die Gerichtspraxis in der Weise helfen, dass bei einer anhängigen Anfechtungsklage analog § 318 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 HGB eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zulässig wäre, und zwar auch schon vor Abschluss des Geschäftsjahres (OLG Karlsruhe v. 27.10.2015 – 11 Wx 87/15, AG 2016, 42 ff.; Koch, 17. Aufl. 2023, § 243 AktG Rz. 44f m.w.N.).

Schließlich könnte dem möglichen Vorbringen der (einstweiligen) Unzulässigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses, mit dem die den Jahresabschluss zum 31.12.2024 prüfende WPG auch zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 bestellt wird, dadurch begegnet werden, dass der Hauptversammlungsbeschluss mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gefasst wird.

Vor dem Hintergrund aber, dass sich das Risiko einer Anfechtungsklage nicht vollständig ausschließen lässt, sollte die Beschlussfassung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 aus Vorsichtsgründen als separater Tagesordnungspunkt mit Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats aufgenommen werden. Denn dann dürften sogar Berufskläger kaum geneigt sein, eine Anfechtungsklage wegen vermeintlicher Unzuständigkeit der Hauptversammlung zu erheben, weil der gesonderte (Standard-)Hauptversammlungsbeschluss über die Bestellung des Abschlussprüfers davon unberührt bliebe. Wenn dem nicht so wäre, d.h. bei einer einheitlichen Beschlussfassung über die Bestellung des Abschlussprüfers und des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts, hätten die Kläger ein höheres Drohpotenzial, da die möglichen Folgen einer erfolgreichen Wahlanfechtung von der Nichtigkeit des Jahresabschlusses bis zur drohenden Rückabwicklung von Dividendenzahlungen reichen.

Im Falle eines – zu empfehlenden – gesonderten Tagesordnungspunkts bestünde zudem die Möglichkeit, den Tagesordnungspunkt betreffend die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Beginn der Hauptversammlung wieder abzusetzen. Eine Absetzung des Tagesordnungspunkts könnte z.B. in Betracht kommen, wenn das Gesetzgebungsverfahren eine Übergangsregelung erwarten lässt, die eine entsprechende Beschlussfassung der Hauptversammlung obsolet werden ließe.

II. Vorschlag für den Tagesordnungspunkt und Beschlussvorschlag zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts in der HV-Einberufung vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes

[•]. Beschlussfassung über die Wahl des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024

Nach der am 5.1.2023 in Kraft getretenen Corporate Sustainability Reporting Directive  („CSRD“) müssen große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern bereits für nach dem 31.12.2023 beginnende Geschäftsjahre ihren (Konzern-)Lagebericht um einen (Konzern-)Nachhaltigkeitsbericht erweitern, der extern durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen zu prüfen ist. Damit müssen also Unternehmen, die wie die [Firma der Gesellschaft] bereits heute der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. § 289b Abs. 1, § 315b Abs. 1 HGB unterliegen, erstmals für das Geschäftsjahr 2024 einen Nachhaltigkeitsbericht für die Gesellschaft und den Konzern aufstellen und extern prüfen lassen.

Die EU-Mitgliedstaaten haben die CSRD bis zum 6.7.2024 in nationales Recht umzusetzen. Es ist somit davon auszugehen, dass der deutsche Gesetzgeber ein Gesetz zur Umsetzung der CSRD in deutsches Recht („CSRD-Umsetzungsgesetz“) verabschieden und das CSRD-Umsetzungsgesetz bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist in Kraft treten wird. [ggf. Ausführungen zum aktuellen Stand des Gesetzgebungsverfahren ergänzen]

Der Aufsichtsrat der Gesellschaft schlägt daher – gestützt auf die Empfehlung seines Prüfungsausschusses – vor, die [Wirtschaftsprüfungsgesellschaft], [Sitz], Zweigniederlassung [Ort], mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 zu wählen. Der Beschluss kommt nur zur Durchführung, wenn nach dem CSRD-Umsetzungsgesetz ein für das Geschäftsjahr 2024 zu erstellender Nachhaltigkeitsbericht extern durch einen von der Hauptversammlung zu bestellenden Prüfer zu prüfen ist.

Der Prüfungsausschuss hat in seiner Empfehlung gemäß Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 3 der EU-Abschlussprüferverordnung (Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission) erklärt, dass diese frei von ungebührlicher Einflussnahme durch Dritte ist und ihm keine die Auswahlmöglichkeiten der Hauptversammlung beschränkende Klausel der in Art. 16 Abs. 6 der EU-Abschlussprüfungsverordnung genannten Art auferlegt wurde.

Abschließend noch ein Hinweis zur Vorbereitung eines solchen „Vorratsbeschlusses“: Der Prüfungsausschuss ist nicht verpflichtet (etwa abgeleitet aus Art. 16 Abs. 2 UAbs. 2 Abschlussprüferverordnung – „AP-VO“), dem Aufsichtsrat zwei Vorschläge für den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu unterbreiten. Die AP-VO gilt (nur) für Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften, die bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (PIEs) Abschlussprüfungen durchführen. Mit der CSRD ist die AP-VO nur marginal dahingehend angepasst worden, dass auch bestimmte Nichtprüfungsleistungen verboten sind, wenn der Abschlussprüfer die Prüfung des Nachhaltigkeitsberichts durchführt. In der CSRD ist insbesondere auch keine Vorgabe vorgesehen, dass für den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts eine vorherige Ausschreibung erforderlich ist, welche gewissermaßen die Grundlage für zwei Vorschläge des Prüfungsausschusses an den Aufsichtsrat bilden würde.

EU-Lieferkettengesetz – Einigung im Trilog zwischen Rat und Parlament über die Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung (Corporate Sustainabilty Due Diligence Directive – CSDDD)

Nach dem Vorbild einzelner Mitgliedstaaten (Frankreich, Niederlande, Bundesrepublik Deutschland) hat die EU-Kommission bereits am 23.2.2022 einen Vorschlag für eine große, sektorübergreifende Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit vorgelegt (Vorschlag für eine Richtlinie des Parlaments und des Rates über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, COM(2022) 71 final), der einerseits deutlich über die nationalen Vorbilder wie das deutsche Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (LkSG) hinausging und deshalb auf ein überaus kritisches Echo aus den Reihen der Wirtschaft gestoßen ist, andererseits aber großen Teilen des Europäischen Parlaments und den in Brüssel durchaus einflussreichen „Akteuren der Zivilgesellschaft“ zu unambitioniert erschien. Die damit notwendigen Trilog-Verhandlungen zwischen Europäischem Rat, Kommission und Parlament, die sich zunächst durchaus zäh gestalteten, sind nunmehr am 14.12.2023 mit einer vorläufigen Einigung erfolgreich abgeschlossen worden (knappe Pressemitteilung des Rates „Corporate Sustainability Due Diligence: Council and Parliament strike deal to protect environment and human rights“; zusätzliche Informationen in der gemeinsamen Pressekonferenz von Lara Wolters, Berichterstatterin für das Parlament, Justizkommissar Didier Reynders, und dem Spanischen Staatssekretär Gonzalo García Andrés).

Im Folgenden werden nach einem kurzen Überblick über Ziele und Mechanik der CSDDD die wesentlichen Parameter der Trilog-Einigung vorgestellt.

Gegenstand

Wie französisches loi de vigilance und deutsches LkSG zielt auch die CSDDD darauf ab, nachhaltiges und verantwortungsbewusstes unternehmerisches Verhalten zu fördern und Menschenrechts- und Umweltaspekte in der Geschäftstätigkeit und Unternehmensführung von Unternehmen (stärker) zu verankern. Unternehmen sollen potenzielle negative Auswirkungen ihres Handelns berücksichtigen, insbesondere auch in ihren Lieferketten innerhalb und außerhalb Europas. Wie in den nationalen Lieferkettengesetzen liegt der Schwerpunkt der CSDDD damit in der Inpflichtnahme von Unternehmen für die Sicherstellung menschenrechtskonformen und umweltverträglichen Handelns nicht nur innerhalb ihres eigenen unmittelbaren Verantwortungsbereichs, sondern auch auf Ebene ihrer Lieferanten. Der ordnungspolitische Gleichlauf von Haftung und Herrschaft wird also bewusst suspendiert. Hierzu legt die CSDDD Pflichten großer Unternehmen hinsichtlich tatsächlicher und potenzieller negativer Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschenrechte für ihre Lieferkette fest. Auf Drängen des Parlaments erstrecken sich die Sorgfaltspflichten dabei nicht allein auf die Lieferkette (supply chain) im engeren Sinne, also praktisch die Beschaffungsseite, sondern teilweise auch auf nachgelagerte Aktivitäten des Unternehmens, etwa Recycling sowie auch vor allem den Vertrieb. Die Instrumente, mit denen diese Zielsetzungen umgesetzt werden (sollen), entsprechen im Ausgangspunkt denen des deutschen LkSG, also die Statuierung von Sorgfaltspflichten, deren Einhaltung insbesondere durch Risikoanalyse und Lieferketten-Risikomanagement realisiert werden soll.

Erfasste Unternehmen, Ausklammerung des Finanzsektors

Zu den zwischen Rat und Parlament, aber auch in der allgemeinen politischen Debatte besonders kontrovers diskutierten Punkten gehörte von Beginn an die Reichweite bzw. der Anwendungsbereich der anspruchsvollen Richtlinie. Nach dem Trilog-Kompromiss sind die neuen Pflichten grundsätzlich von EU/EWR-Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern und einem Umsatz von über 150 Mio. € zu beachten, womit der allgemeine Schwellenwert des ursprünglichen Kommissionsentwurfs übernommen wird (Art. 2 Abs. 1 lit. a) CSDDD-E). Unternehmen aus Drittstaaten unterliegen den Vorgaben hingegen (nur) dann, wenn sie EU/EWR-weite Umsätze von 300 Mio. € realisiert haben. Noch weitergehenden Forderungen nach einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der CSDDD, der bereits in der Kompromissfassung deutlich über den des LkSG hinausreicht, haben sich Kommission und Rat mit der Erwägung verschlossen, kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) von den voraussichtlich nicht unerheblichen Bürokratiekosten einer Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Richtlinie freizuhalten. Soweit KMU mittelbar – d.h. als Teile der Lieferkette CSDDD-verpflichteter großer Unternehmen – mit den weitreichenden Sorgfaltspflichten konfrontiert sind, hat die Kommission zudem angekündigt, durch Guidance – etwa in Form von Technical Standards – unterstützen zu wollen.

Nach der allerdings etwas uneinheitlichen Kommunikation von Rat und Parlament bis auf Weiteres ausgeklammert bleiben soll der Finanzsektor. Dies bedarf der Konkretisierung. Für die eigene, typischerweise wirtschaftlich nicht zentrale Lieferkette im eigentlichen Sinne („upstream“) haben auch Unternehmen des Finanzsektors bei Überschreiten der Größenkriterien die entsprechenden Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Womit sich das Parlament hingegen vorläufig nicht durchzusetzen vermocht hat, ist die „Wertschöpfungskette“ (value chain) des Finanzsektors insgesamt, d.h. auch „downstream“ zu erfassen, also praktisch Kredit- und Portfolioentscheidungen gleichfalls dem Pflichtenregime der CSDDD zu unterstellen. Das Parlament betont in diesem Zusammenhang allerdings, dass auch für den Finanzsektor die Verpflichtung gilt, einen Emissionsreduktionsplan aufzustellen und umzusetzen, wovon man sich ersichtlich zumindest mittelbare Effekte für Kreditvergabe und Asset Management erhofft.

Schädliche Umweltauswirkungen

Nach Art. 7 Abs. 1 CSDDD i.d.F. des Kommissionsentwurfes haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die erfassten Unternehmen geeignete Maßnahmen ergreifen, um potenzielle negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu vermeiden oder, falls sie nicht oder nicht unmittelbar vermieden werden können, zumindest angemessen abzuschwächen. Hinsichtlich des bis zuletzt umstrittenen Begriffs der schädlichen Umweltauswirkungen sieht die Einigung nunmehr vor, dass unter Umweltauswirkung in diesem Sinne jede messbare Umweltverschlechterung wie schädliche Bodenveränderungen, Wasser- oder Luftverschmutzung, schädliche Emissionen oder übermäßiger Wasserverbrauch oder andere Auswirkungen auf die natürlichen Ressourcen zu verstehen ist.

Emissionsreduktionsplan (Climate Transition Plan)

Ersichtlich ein Alleinstellungsmerkmal der CSDDD ist die weitere Verpflichtung erfasster Unternehmen, einen Emissionsreduktionsplan aufzustellen und umzusetzen, der sicherstellen soll, dass Geschäftsmodell und Unternehmensstrategie mit dem Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft und der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius gemäß dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind (Art. 15 Abs. 1 CSDDD-E). In diesem Zusammenhang soll auch die Vergütung der Mitglieder der Geschäftsleitungsorgane u.a. davon abhängen, ob ein entsprechender Emissionsreduzierungsplan aufgestellt und umgesetzt wird.

Sanktionen

Praktisch nach dem mittlerweile bekannten Sanktionsmodell der Europäischen Union sieht die Trilog-Einigung für Verstöße gegen die Richtlinie zunächst am Umsatz orientierte Bußgelder vor, die eine Höhe von maximal 5% des Nettoumsatzes des Unternehmens erreichen können. Wie der Rekurs auf den Begriff des Unternehmens offenbart, ist Berechnungsgrundlage dabei der Umsatz der Gruppe und nicht etwa der Einzelgesellschaft, die für einen bußgeldbewährten Verstoß verantwortlich zeichnet. Mit 5% des Nettoumsatzes geht die Richtlinie deutlich über die umsatzbezogenen Bußgelder gem. § 24 Abs. 3 LkSG (bis zu 2%) hinaus.

Anders als das LkSG sieht die CSDDD zudem ausdrücklich zivilrechtliche Ansprüche gegen Unternehmen vor. „Betroffene“ können innerhalb einer Frist von fünf Jahren zivilrechtliche Ansprüche geltend machen. Einigermaßen fragwürdig ist, dass als Betroffene nicht nur Gewerkschaften, sondern – hinreichend unspezifisch – auch „Organisationen der Zivilgesellschaft“ klagebefugt sein sollen. Die traditionellen und durchaus nicht unbegründeten Vorbehalte gegen Popularklagen scheint man in Brüssel ersichtlich nicht (mehr) zu teilen. Auch bei der Darlegungs- und Beweislast will der Trilog-Kompromiss „Anwälten der Öffentlichkeit“ deutlich entgegenkommen.

Als weitere Sanktion können Verstöße gegen die Sorgfaltspflichten gemäß CSDDD schließlich mit einem Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren geahndet werden. Dies spiegelt letztlich § 22 LkSG, der gleichfalls bei Verstößen einen Ausschluss bei der Berücksichtigung öffentlicher Aufträge vorsieht.

Stakeholder-Beteiligung

Von der CSDDD erfasste Unternehmen sollen zudem verpflichtet werden, als Bestandteil des Due-Diligence-Prozesses eine sinnvolle Beteiligung (meaningful engagement), einschließlich eines Dialogs und einer Konsultation mit den „betroffenen Interessengruppen“ durchzuführen. Dies dürfte in der Praxis darauf hinauslaufen, dass Unternehmen neben ihren Arbeitnehmern im Einzelfall auch mehr oder weniger legitimierte NGO – wie etwa „environmental defenders“ (Lara Wolters) – konsultieren müssen.

Ausblick

Da die Trilog-Verhandlungen als informelles Verständigungsverfahren keine unmittelbare Bindungswirkung entfalten, müssen die Institutionen im nächsten Schritt die Ergebnisse des Kompromisses formell annehmen. Im Anschluss sind die Mitgliedstaaten zur Überführung in nationales Recht verpflichtet, wobei der Kommissionsentwurf hierfür zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der CSDDD einräumt (vgl. Art. 30 CSDDD-E). Ob das europäische Lieferkettenregime den großen Erwartungen seiner Befürworter gerecht zu werden vermag oder sich in einer schematisch ablaufenden Auditierungsübung („check the box“ mittels Länder-Clustern etc.) erschöpfen wird, wird erst die Zukunft zeigen. Der Vorschlag der Kommission ist insoweit recht großzügig und sieht eine Evaluierung des neuen Regimes erst sieben Jahre nach Inkrafttreten und damit fünf Jahre nach Umsetzung in nationales Recht vor.

Die Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktien: Nachbesserungsbedarf beim Regierungsentwurf des ZuFinG

Dieser Blog-Beitrag basiert auf dem Vortrag, den der Autor am 26.9.2023 auf dem Hamburger Forum zum Gesellschafts- und Kapitalmarktecht gehalten hat. Die vollständige Schriftfassung ist hier verfügbar.

Im Fahrwasser der Initiative für einen EU Listing Act sieht der Regierungsentwurf für das Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG) vor, die vor 25 Jahren abgeschafften Mehrstimmrechtsaktien wieder zuzulassen – allerdings nicht uneingeschränkt, sondern ergänzt um ein Regime zum Schutz der übrigen Aktionäre. Die Abkehr vom bislang in § 12 Abs. 2 AktG statuierten Verbot der Mehrstimmrechte kommt nicht überraschend, sondern war bereits im Koalitionsvertrag angekündigt worden. Dass es sich bei der Einführung eigentlich um eine Wiedereinführung handelt (Nicolussi, AG 2022, 753), verschweigt der Entwurf nicht, sieht sich aber durch „Erfahrungen aus dem Ausland“ bekräftigt. In der Sache liegt der Wiederzulassung durch § 12 Satz 2, § 135a AktG-E eine heterogene Konzeption zu Grunde.

In der nichtbörsennotierten Gesellschaft geht es im Kern um eine Lockerung der Satzungsstrenge, die mit der Begrenzung auf das Zehnfache des Stimmrechts durch § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG-E und den Ausnahmen vom Mehrstimmrecht bei der Bestellung von Abschluss- und Sonderprüfer durch § 135a Abs. 4 AktG-E lediglich grob eingehegt ist.

In der börsennotierten Gesellschaft konzipiert der Entwurf die Mehrstimmrechte hingegen als personalisierte Übergangsstruktur für Wachstumsunternehmen. Das verdeutlichen die Begründungen sowohl zum Erlöschen der Mehrstimmrechte im Falle der Aktienübertragung nach § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG-E als auch zu ihrer gesetzlichen Befristung nach § 135a Abs. 2 Satz 2 AktG-E.

I. Rechtspolitische Fragezeichen

So klar der Entwurf auf den ersten Blick erscheint, verbleiben eine Reihe rechtspolitischer Fragezeichen. So erscheinen die Regelungen zum Erlöschen der Mehrstimmrechte in Teilen inkonsistent (1., 2.). Gleichzeitig lassen die Hürden für ihre Einführung und Verlängerung Zweifel an der Praktikabilität aufkommen (dazu 3., 4.). Schließlich adressieren die vorgesehenen Regelungen die Risiken von Mehrstimmrechten nur unvollständig (dazu 5.).

1. Erlöschen im Übertragungsfall bei Zulassung des Haltens durch juristische Personen?

Das Erlöschen im Übertragungsfall gründet nach dem Entwurf auf der Einsicht, „dass die bisherigen Inhaber im Umfang der Übertragung nicht mehr an der Entwicklung des Unternehmens teilnehmen. Der Zweck der Mehrstimmrechte, ihnen auch nach dem Börsengang in der Wachstumsphase eine Kontrolle über die Unternehmensstrategie zu ermöglichen, entfällt.“ Dementsprechend will der Entwurf den Begriff der Übertragung weit verstehen. Gleichwohl lässt er es zu, dass Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften auch von juristischen Personen gehalten werden. Das führt nicht nur zu erheblichen Anwendungsproblemen bei der Übertragung von Anteilen an der Beteiligungsgesellschaft (unten II.2.). Versteht man Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften als personalisierte Übergangsstruktur, wäre es konsequent, sie auf natürliche Personen – zumal solche in Organfunktion – zu begrenzen.

2. Nur einmalige Fristverlängerung?

Mit der Befristung der Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften greift der Entwurf die verbreiteten Vorbehalte gegenüber einem dauerhaften Auseinanderfallen von Kontrolle und Kapitalbeteiligung auf. Dass § 135a Abs. 2 Satz 3 AktG-E den übrigen Aktionären die Möglichkeit einräumt, die Mehrstimmrechte zu verlängern, setzt hingegen einen Anreiz für den Mehrstimmrechtsaktionär, im Interesse der übrigen Aktionäre zu handeln. Es ist daher unverständlich, dass der Entwurf die Möglichkeit auf eine einmalige Verlängerung beschränken will.

3. Zu hohe Hürden für die Einführung?

Der Entwurf will die Einführung von Mehrstimmrechten nach § 135 Abs. 1 Satz 3 AktG-E nur mit „Zustimmung aller betroffenen Aktionäre“ zulassen. Das ist praktisch bedenklich, da auch gewachsene Start-ups eine breite Investorenbasis haben können. Jedenfalls besteht keine Veranlassung für ein Einstimmigkeitserfordernis, solange alle Aktionäre gleichbehandelt werden – sei es bei Ausstattung aller Aktien mit Mehrstimmrechten oder bei Ausgabe von Mehrstimmrechtsaktien unter Aufrechterhaltung des Bezugsrechts aller Aktionäre. So ließe sich ein Börsengang auch dann praktikabel vorbereiten, wenn man in den übrigen Fällen am Einstimmigkeitserfordernis festhalten wollte.

4. Zu hohe Hürden für die Verlängerung?

Die Entwurfsbegründung konzediert, dass die Befristung der Mehrstimmrechte „von Gründern […] als erneutes Hindernis für einen Börsengang wahrgenommen“ werden könnte. Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass der Entwurf nach § 135a Abs. 2 Satz 4 AktG-E für die Verlängerung der Mehrstimmrechte abweichend von ihrer Einführung einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit genügen lässt. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass Gründern damit ein aussichtsreicher Weg eröffnet ist, langfristig die Zügel in der Hand zu behalten. Insofern wäre eine Absenkung des Quorums auf die einfache Mehrheit der außenstehenden Aktionäre erwägenswert, zumal auch eine solche nicht ohne die Unterstützung von institutionellen Investoren zu erreichen wäre.

5. Hinreichende Erfassung der Risiken?

Der Regierungsentwurf begründet die Notwendigkeit gesetzlicher Schutzvorkehrungen damit, dass die Inhaber von Mehrstimmrechten „ein verhältnismäßig geringeres Risiko beim Scheitern des Unternehmens [tragen], zudem sind Missbräuche und Interessenkonflikte denkbar“. Diese Problemanalyse trifft zu. Sie bringt indes nicht deutlich genug zum Ausdruck, dass (a) die Governance-Risiken zunehmen, je geringer der Kapitalanteil des kontrollierenden Aktionärs ist, und (b) die Zunahme jener Risiken umgekehrt proportional zur Abnahme des Kapitalanteils verläuft.

Das illustriert der Unterschied einer Kontrolle mit verschiedenen Kapitalanteilen bei der Verfolgung einer Geschäftsstrategie mit negativem Erwartungswert, aber privaten Vorteilen – z.B. in Form der Verfolgung von politischen Überzeugungen à la Twitter / Elon Musk: Ist der kontrollierende Minderheitsaktionär für diese Überzeugung bereit, einen Wertverlust seiner Beteiligung in Höhe von EUR 1 Mio. in Kauf zu nehmen, so impliziert das bei 20 Prozent Kapitalbeteiligung die Inkaufnahme einer Verminderung des Gesellschaftswerts in Höhe von EUR 5 Mio., bei 10 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 10 Mio., bei 5 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 20 Mio., bei 3 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 33 Mio. und bei 2 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 50 Mio.

Hieraus folgt zugleich, dass sich das klassische Missbrauchsrisiko der Vermögensverschiebung auf den kontrollierenden Aktionär (sog. tunneling) durch Mehrstimmrechte potenziert, weil der Mehrstimmrechtsinhaber den Kapitalabfluss auf Seiten der Gesellschaft nur im Umfang seines Kapitalanteils finanziert.

a) Deckelung auf das Zehnfache des Stimmrechts

Dieses Risikoprofil adressiert der Entwurf unzureichend, indem er mit § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG-E Mehrstimmrechte auf das zehnfache Stimmrecht deckelt. Diese Deckelung soll zwar sicherstellen, dass „die Inhaber der Mehrstimmrechte für die Kontrolle zumindest einen relevanten Anteil am Grundkapital halten müssen.“ Tatsächlich kann bei einem zehnfachen Stimmgewicht bereits ein Kapitalanteil von knapp über 9 Prozent genügen. Zudem steht der Entwurf einer Verbindung von Mehrstimmrechten mit der Ausgabe stimmrechtsloser Vorzugsaktien nicht entgegen, sodass die Mehrstimmrechte bereits bei unter 5 Prozent Kapitalanteil eine Mehrheit der Stimmrechte vermitteln. Und dabei bleibt noch unberücksichtigt, dass angesichts der Hauptversammlungspräsenzen bereits ein deutlich niedrigerer Kapitalanteil genügen dürfte.

Es liegt freilich in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, in welchem Umfang das Auseinanderfallen von Kapitalbeteiligung und Stimmrecht hingenommen werden kann. Es erscheint gleichwohl erwägenswert, zu regeln, dass Vorzugsaktien ohne Stimmrecht nicht ausgegeben werden dürfen, wenn die Satzung bereits Mehrstimmrechtsaktien vorsieht.

b) Minderheitskontrolle ohne unabhängige Aufsichtsratsmitglieder

Selbst wenn man davon ausgeht, dass das geltende Aktienrecht die Governance-Risiken materiell aufzufangen vermag, erscheint es doch bedenklich, auf die Kontrolle durch jene Aufsichtsratsmitglieder zu vertrauen, die der Mehrstimmrechtsaktionär selbst bestellt hat. Es erscheint daher erwägenswert, den übrigen Aktionären die Bestellung zumindest eines Aufsichtsratsmitglieds anheimzustellen.

c) Unveränderte Aufgreifschwelle für Related Party Transactions

Da Mehrstimmrechte die Anreize für tunneling erhöhen, rückt bei ihrer Zulassung das Regelungsregime für related party transactions in den Fokus. Dieses erweist sich zwar insofern als gewappnet, als § 111b Abs. 2 AktG bereits vorsieht, dass bei der Beschlussfassung des Aufsichtsrats konfliktbefangene Mitglieder ihr Stimmrecht nicht ausüben können. Da kontrollierende Minderheitsaktionäre jedoch bereits aus geringen Wertverschiebungen erhebliche Vorteile ziehen können, erscheint erwägenswert, die in § 111b Abs. 1 AktG definierte Aufgreifschwelle für Geschäfte mit Mehrstimmrechtsaktionären niedriger anzusetzen – jedenfalls, wenn man es dabei belassen wollte, dass diese die Gesellschaft mit einer Kapitalbeteiligung von unter 10 Prozent beherrschen könnten.

d) Kein Dispens der Mehrstimmrechte für Say on Pay, Disposition über Ersatzansprüche

Dieselben Erwägungen streiten dafür, vergütungsbezogene Hauptversammlungsbeschlüsse in den Katalog des § 135a Abs. 4 AktG-E aufzunehmen und die Mehrstimmrechte insoweit zu dispensieren. Denn ein kontrollierender Minderheitsaktionär beschließt insoweit über die Vergütung von ihm strukturell nahestehenden Personen, während die hierfür anfallenden Kosten von den übrigen Aktionären getragen werden. Aus denselben Gründen sollten Beschlüsse über den Verzicht auf Ersatzansprüche gegen Organmitglieder vom Mehrstimmrecht ausgenommen werden. Eine solche Ausdehnung wäre – ebenso wie die Erstreckung auf Beschlüsse zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gemäß § 147 AktG – außerdem nur konsequent, nachdem der Entwurf mit § 135a Abs. 4 AktG-E die Mehrstimmrechte bereits für die Bestellung von Sonderprüfern dispensiert.

II. Ausgewählte Anwendungsprobleme

Unabhängig von den vorstehend diskutierten rechtspolitischen Fragen wirft der Entwurf eine Reihe von Anwendungsproblemen auf, die im Gesetzgebungsverfahren noch geklärt werden sollten.

1. Mehrstimmrechte und künftige Kapitalmaßnahmen

a) Notwendigkeit von Sonderbeschlüssen?

Nach der Entwurfsbegründung bilden Mehrstimmrechtsaktien eine eigene Gattung. Mit Blick auf § 11 Satz 2 AktG kann daran kein Zweifel bestehen. Zweifelhaft erscheint demgegenüber, ob der Entwurf auch die Konsequenzen im Blick hat. Denn der Gattungsbegriff macht bei künftigen Kapitalmaßnahmen Sonderbeschlüsse gemäß § 182 Abs. 2, § 222 Abs. 2 AktG notwendig – und das verschiebt wiederum das Machtgefüge zwischen mehr- und einfachstimmberechtigten Aktionären. So erhält einerseits der Mehrstimmrechtsaktionär ein noch stärkeres Vetorecht. Vor allem aber stärkt die Notwendigkeit von Sonderbeschlüssen die Position der übrigen Aktionäre gegenüber dem Mehrstimmrechtsinhaber. Denn ebenso wie die Mehrstimmrechtsaktien bilden dann auch die einfachstimmberechtigten Aktien eine separate Gattung, von deren Zustimmung der Erfolg der Kapitalmaßnahme abhängt. Und bei dieser Beschlussfassung ist der Mehrstimmrechtsaktionär gänzlich außen vor: Er gehört nicht zur Gattung und ist deshalb nicht stimmberechtigt.

b) Bezugsrecht auf Mehrstimmrechtsaktien?

Nimmt man § 135a Abs. 1 Satz 3 AktG-E beim Wort, bedarf die Ausgabe von Aktien mit Mehrstimmrechten stets der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre. Die dahinterstehende Sorge vor einer Verschiebung der Stimmrechtsverhältnisse hat ihre Berechtigung. Im Rahmen von Kapitalerhöhungen ist die Ausgabe neuer Mehrstimmrechtsaktien jedoch für die Wahrung der Stimmrechtsverhältnisse erforderlich. Denn die überproportionale Stimmkraft des Mehrstimmrechtsaktionärs verwässerte, würde er mit den übrigen Aktionären lediglich einfachstimmberechtigte Aktien beziehen. Selbst wenn man mit der herrschenden Lehre annimmt, dass § 186 Abs. 1 Satz 1 AktG ein verhältniswahrendes Gattungsbezugsrecht gewährt, wirft § 135a Abs. 1 Satz 3 AktG-E die Frage auf, ob eine verhältniswahrende Kapitalerhöhung dann trotzdem die Zustimmung aller betroffenen Aktionäre verlangt.

2. Anwendungsprobleme der Erlöschenstatbestände

a) Kontrollwechsel bei juristischer Person als Übertragungsfall?

Die wichtigste Frage bei der Anwendung der Erlöschenstatbestände betrifft den Übertragungsfall. Die Entwurfsbegründung will den Begriff weit verstehen, weil damit „[d]er Zweck der Mehrstimmrechte, ihnen auch nach dem Börsengang in der Wachstumsphase eine Kontrolle über die Unternehmensstrategie zu ermöglichen, entfällt“. Dass der Entwurf es gleichwohl zulässt, dass Mehrstimmrechte von juristischen Personen gehalten werden, ist rechtspolitisch schwer verständlich (oben I.1.). Sollte daran festgehalten werden, wäre es dringend erforderlich, die Kriterien festzulegen, nach denen die Übertragung von Anteilen an der Beteiligungsgesellschaft als Übertragung im Sinne des § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG-E zu qualifizieren ist. Insoweit gälte es insbesondere, das Verhältnis zum Zurechnungsregime des WpÜG zu klären.

b) Einbeziehung in den Freiverkehr ohne Zustimmung der Gesellschaft?

Die Erlöschenstatbestände gelten nicht nur für börsennotierte Gesellschaften, sondern auch für Gesellschaften, deren Aktien in den Handel im Freiverkehr einbezogen sind. Diese Einbeziehung erfordert indessen kein Einverständnis des Emittenten. Damit unterliegen Mehrstimmrechtsaktionäre in der nichtbörsennotierten Gesellschaft dem Risiko, gegen ihren Willen dem Minderheitenschutzregime börsennotierter Gesellschaften unterworfen zu werden. Dadurch wird die Erweiterung der Gestaltungsfreiheit in der nichtbörsennotierten Gesellschaft untergraben. Auch dieser Weg ist freilich gangbar, nicht zuletzt aus Anlegerschutzerwägungen. Jedoch bestehen auch insoweit Zweifel, wie bewusst er eingeschlagen wurde. Die Alternative bestünde darin, § 135a Abs. 1 Satz 1 AktG-E auf Gesellschaften zu beschränken, deren Aktien mit Zustimmung des Emittenten in den Handel im Freiverkehr einbezogen sind.

3. Pflichtangebot nach Erlöschen der Mehrstimmrechte?

Aus Sicht der Übernahmepraxis wirft der Entwurf eine Reihe von Detailfragen auf (siehe nur Denninger/von Bülow, AG 2023, 417). Explizit adressiert die Entwurfsbegründung indessen die Folgen des passiven Kontrollerwerbs infolge des Erlöschens von Mehrstimmrechten. Sie verweist darauf, dass „in derartigen Fällen eine Befreiung von den übernahmerechtlichen Pflichten […] gemäß § 37 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 1 Nummer 5 WpÜG-Angebots-VO möglich [ist]“. Sie ist indes regelmäßig nicht gerechtfertigt: Das Erlöschen der Mehrstimmrechte und der damit verbundene relative Stimmzuwachs der einfachstimmberechtigten Aktionäre ist nach der Konzeption des Entwurfs sehr wohl erwartbar. Unsicherheiten bestehen allein über den Zeitpunkt.

4. Verhältnis zum Konzernrecht

Das Konzernrecht ist gleichsam der Elefant im Raum der Diskussion über eine Minderheitskontrolle qua Mehrstimmrecht. Denn es steht zu vermuten, dass die Anwendung des Konzernrechts gerade jene Gründer abschrecken dürfte, die der Entwurf durch die Bereitstellung von Mehrstimmrechten gerade zum Börsengang ermutigen möchte. Für die Annahme eines beherrschenden Einflusses genügt allerdings die Möglichkeit, „für einen längeren Zeitraum Beschlüsse mit einfacher Mehrheit durchzusetzen“ (BGHZ 135, 107). Die entscheidende Frage lautet daher, ob ein kontrollierender Mehrstimmrechtsaktionär dem konzernrechtlichen Begriff des „Unternehmens“ im Sinne der §§ 15 ff. AktG unterfällt. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH „ist ein Aktionär dann Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne, wenn er neben der Beteiligung an der Aktiengesellschaft anderweitige wirtschaftliche Interessenbindungen hat, die nach Art und Intensität die ernsthafte Sorge begründen, er könne wegen dieser Bindung seinen aus der Mitgliedschaft folgenden Einfluss auf die Aktiengesellschaft zu deren Nachteil ausüben.“ (BGHZ 148, 123). Zugleich geht die herrschende Meinung davon aus, dass der Unternehmensbegriff jene Privataktionäre privilegiert, deren unternehmerische Interessen sich in der Wahrnehmung der Beteiligung an einer Aktiengesellschaft beschränken. Danach wären zumindest kontrollierende Mehrstimmrechtsaktionäre, die (i) ihre Aktien persönlich halten und (ii) neben der Beteiligung an der Gesellschaft über keine wesentlichen anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindungen verfügen, nicht als herrschende Unternehmen zu qualifizieren. Zuletzt ist dieser Unternehmensbegriff allerdings wieder unter Druck geraten (siehe nur J. Vetter, 50 Jahre Aktienkonzernrecht, 2015, S. 231, 239).

Will der Gesetzgeber Mehrstimmrechtsaktionäre mit Blick auf die Schutzmechanismen des § 135a AktG-E von den konzernrechtlichen Vorschriften ausnehmen, sollte er dies zumindest in den Gesetzgebungsmaterialen klarstellen. Rechtspolitisch ließe sich ein safe harbor jedenfalls für jene Personen rechtfertigen, die auch im Fokus des Entwurfs stehen: Maßgebliche Ideengeber, die in der Wachstumsphase nach dem Börsengang die Kontrolle über die Strategie „ihres“ Unternehmens behalten wollen und deshalb neben der Beteiligung an der Gesellschaft über keine wesentlichen anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindungen verfügen. Ein solcher Ansatz würde noch an Überzeugungskraft gewinnen, wenn der Entwurf noch stärker auf die Governance-Risiken der Mehrstimmrechtsaktien reagierte (oben I.5.).

Ende gut, alles gut? Bundestag und Bundesrat finden Kompromiss zum Hinweisgeberschutzgesetz

Nachdem am 10.2.2023 das vom Deutschen Bundestag am 16.12.2022 beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) im Bundesrat nicht die notwendige Mehrheit erhielt (hierzu Rempp, Blog-Beitrag v. 14.2.2023, GESRBLOG0001360), erreichte das politische Taktieren um die Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie (2019/1937) seinen vorläufigen Höhepunkt. Am 13.3.2023 wurde bekannt, dass die Ampelkoalition einen Coup durch Griff in die parlamentarische Trickkiste landen wollte (hierzu Rempp, Blog-Beitrag v. 31.3.2023, GESRBLOG0001412).

Gescheiterte Zauberformel der Ampel-Koalitionäre

Die Zauberformel lautete: Aus eins mach zwei! Das bedeutete im Ergebnis: Aus dem Regierungsentwurf zum HinSchG wurden zwei Fraktionsentwürfe (vgl. BT-Drucks. 20/5992 und BT-Drucks. 20/5591). Der erste Entwurf entsprach weitestgehend dem im Bundesrat gescheiterten Regierungsentwurf. Der zweite Entwurf enthielt Regelungen zur Anwendung des HinSchG auf Landesbeamte und Landesbehörden, die der Zustimmung des Bundesrats bedurften und von den übrigen Regelungen getrennt werden sollten, um den ersten Entwurf ohne Zustimmung des Bundesrats beschließen zu können.

Nach erster Lesung im Bundestag am 17.3.2023 und Anhörung von Sachverständigen im Rechtsausschuss am 27.3.2023 zeigte sich aber schnell, dass die Aufteilung des HinSchG in zwei Gesetzesentwürfe – auch wenn in anderen Fällen nicht unüblich – Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens aufkommen ließ. Die Begründung der vom Rechtsausschuss angehörten Sachverständigen Prof. Dr. Winfried Kluth und Prof. Dr. Gregor Thüsing war im Wesentlichen, dass für die Aufspaltung des HinSchG in zwei Teile kein sachlicher Grund bestehe, weil es sich hierbei ausschließlich um eine Reaktion auf die vom Bundesrat verweigerte Zustimmung zum Regierungsentwurf handele. Das HinSchG würde durch die zwei Fraktionsentwürfe daher nur „künstlich“ aufgespalten werden.

Im Eiltempo durch Vermittlungsausschuss, Bundestag und Bundesrat

Nach vielen überraschenden Kehrtwenden kam es also zu einer weiteren, aufgrund der Kritik nicht ganz überraschenden Kehrtwende im Gesetzgebungsverfahren. Am 30.3.2023, dem Tag, an dem die beiden Fraktionsentwürfe zum HinSchG in zweiter und dritter Lesung vom Bundestag beschlossen werden sollten, wurde das HinSchG kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Stattdessen entschied die Bundesregierung am 5.4.2023, doch noch den Vermittlungsausschluss zum HinSchG anzurufen. Aus den Medien war zuletzt zu hören, dass eine von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und dem hessischen Justizminister Roman Poseck (CDU) geführte Arbeitsgruppe bis auf wenige Detailfragen einen Durchbruch für einen Kompromiss zum HinSchG erzielt hatte.

Am 9.5.2023 hat sich nun auch offiziell der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat mit dem HinSchG befasst und einen Kompromiss zum HinSchG beschlossen. Danach lief alles ganz schnell: Bereits am 11.5.2023 hat der Bundestag ohne vorherige Aussprache über den geänderten Gesetzesentwurf Beschluss gefasst. Bereits einen Tag später hat der Bundesrat dem Gesetzentwurf in der neuen Fassung zugestimmt, damit das Gesetz schnellstmöglich in Kraft treten kann. Die neue Regelung sieht nun vor, dass das Gesetz einen Monat nach seiner Verkündung in Kraft treten soll, also möglicherweise schon im Laufe des Juni 2023.

Lösung im Vermittlungsausschuss

Doch auf welche Lösung haben sich die Parteien im Vermittlungsausschuss nun verständigt? Das Ergebnis kurz und knapp: Der gefundene Kompromiss zum HinSchG enthält nur vereinzelte Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf HinSchG.

Für die Ampel war der weitgefasste Anwendungsbereich nicht verhandelbar, so dass dieser unverändert beibehalten wurde. Eine kleine Einschränkung soll es lediglich dahingehend geben, dass Meldungen nur dann geschützt sein sollen, wenn sie sich auf Verstöße beziehen, von denen Hinweisgeber im beruflichen Kontext erfahren haben – seien es Verstöße beim eigenen Arbeitgeber oder Verstöße bei anderen Stellen, mit denen Hinweisgeber beruflich in Kontakt stand, § 3 Abs. 3 HinSchG-E.

Eine wesentliche, von der Union durchgesetzte Änderung liegt darin, dass Unternehmen nun doch nicht verpflichtet werden, Meldekanäle zur Entgegennahme anonymer Meldungen einzurichten und anonyme Meldungen zu bearbeiten (§ 16 Abs. 1 HinSchG-E). Stattdessen wird lediglich vorgesehen, dass anonym eingehende Meldungen bearbeitet werden „sollten„. Im Übrigen bleibt es dabei, dass Unternehmen mit 50 oder mehr Beschäftigten interne Meldekanäle einrichten müssen, die Hinweisgebenden eine geschützte und vertrauliche Abgabe von Meldungen ermöglichen (für Unternehmen mit 50 bis 249 Beschäftigten gilt diese Verpflichtung ab dem 17.12.2023). Mangels gegenläufiger Verlautbarungen dürften konzernangehörige Unternehmen (jedenfalls in Deutschland) wohl auch weiterhin die Möglichkeit haben, auf einen Konzern-Meldekanal zuzugreifen, ohne bei sich einen eigenen Meldekanal einrichten zu müssen (sog. Konzernlösung). In manch anderen EU-Mitgliedsstaaten ist dies hingegen nicht möglich.

Eine weitere wesentliche Änderung aus Sicht von potenziellen Hinweisgebenden ist die Streichung des Ersatzes von immateriellen Schäden im Fall von Repressalien, § 37 Abs. 1 HinSchG-E. Die gesetzlich vorgesehene Beweislastumkehr zugunsten hinweisgebender Personen im Fall von Benachteiligungen soll ferner nur dann greifen, wenn die hinweisgebende Person geltend macht, dass die Benachteiligungen auf der abgegebenen Meldung beruhen.

Schließlich wurde der Bußgeldrahmen bei Verstößen gegen das Gesetz auf den Höchstbetrag von 50.000 € reduziert, § 40 Abs. 6 HinSchG-E. Zudem soll die Verpflichtung von Unternehmen, eine interne Meldestelle einzurichten, erst sechs Monate nach Verkündung des Gesetzes bußgeldbewehrt sein, voraussichtlich also erst gegen Ende des Jahres 2023 (Art. 10).

Ausblick: laufendes EU-Vertragsverletzungsverfahren

Somit ist nun wirklich mit der Umsetzung der EU-Hinweisgeberrichtlinie zu rechnen. Deutschland zählt damit zu den letzten EU-Mitgliedsstaaten, die ein Umsetzungsgesetz verabschieden. Ob sich diese Verzögerung angesichts des nun erzielten Kompromisses gelohnt hat, bleibt allerdings fraglich. Denn das unsäglich lange Tauziehen hat seinen stolzen Preis: Die EU-Kommission hat Deutschland bereits am 15.2.2023 vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der verspäteten Umsetzung der Hinweisgeberrichtlinie verklagt und für jeden Tag des Verzugs eine Strafe von 61.600 €, insgesamt jedoch mindestens 17.248.000 € verlangt. Auch wenn es Deutschland nun wohl gelingen wird, die EU-Hinweisgeberrichtlinie noch während des laufenden Vertragsverletzungsverfahrens umzusetzen, ist nicht damit zu rechnen, dass die EU-Kommission ihre Klage vollständig zurücknehmen wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie zumindest an ihrem Antrag auf Verhängung eines Pauschalbetrags festhalten wird, der die Dauer des Verstoßes gegen die Umsetzungsfrist bis zum Zeitpunkt seiner Behebung abdeckt.

Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Am 12.4.2023 haben das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz den Referenzenentwurf eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG) veröffentlicht, dessen Eckpunkte bereits am 29.6.2022 präsentiert wurden (dazu etwa Kuthe, AG 2022, R208). Das Gesetz verfolgt das Ziel, den Kapitalmarkt moderner und leistungsfähiger werden zu lassen, um mehr privates Kapital für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren und den privaten Vermögensaufbau zu unterstützen (s. RefE ZuFunG, S. 1, 53 ff.). Im Folgenden finden Sie einen ersten Überblick über die Inhalte des Gesetzes.

Aktienrecht

Zahlreiche Vorschläge im Entwurf haben das Aktienrecht zum Gegenstand (s. dazu ausführlich Harnos, AG0054414):

  • Wie im Koalitionsvertrag der „Ampel“ angekündigt, soll die elektronische Aktie eingeführt werden. Dabei soll nicht nur der Anwendungsbereich des eWpG erweitert werden (s. § 1 eWpG-E und RefE ZuFinG, S. 106 ff., auch zu weiteren Änderungen des eWpG). Vielmehr sollen die Neuregelungen im eWpG durch Änderungen des Aktiengesetzes und des Depotgesetzes flankiert werden (s. § 10 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, Abs. 6 AktG-E, § 13 Satz 4 AktG-E, § 67 Abs. 1 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 91 ff.; zum Depotrecht Art. 14 ZuFinG-E und RefE ZuFinG, S. 106).
  • Ebenfalls im Koalitionsvertrag wurzeln die Regelungen zur Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktie (hierzu aus neuerer Zeit etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 17 ff.; Nicolussi, AG 2022, 753 ff.): Einerseits soll § 12 Abs. 2 AktG gestrichen werden. Andererseits sollen im neuen § 134 Abs. 2 AktG-E die Rahmenbedingungen für die Emission von Mehrstimmrechtsaktien geschaffen werden. Ergänzt werden die Vorschläge, die im Kontext des Entwurfs einer Mehrstimmrechtsaktien-RL zu lesen sind (dazu etwa Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Harnos, Blog-Beitrag vom 1.3.2023; Kuthe, AG 2023, R28, R29), durch Anpassungen des § 129 Abs. 1 Satz 2 AktG (Angaben im HV-Teilnehmerverzeichnis), § 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AktG (Feststellung über die Beschlussfassung in börsennotierten Gesellschaften) und § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG (Transparenz in Bezug auf Mehrstimmrechtsaktien). Schließlich sollen Mehrstimmrechtsaktien auch ins eWpG Eingang finden (vgl. RefE ZuFinG, S. 107).
  • Im Kapitalerhöhungsrecht sollen zum einen die Regelungen über den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss und das genehmigte Kapital liberalisiert werden: Die in § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG vorgesehene Kapitalgrenze und die Höchstbeträge in § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG sollen angehoben werden (im Einzelnen RefE ZuFinG, S. 100 ff.). Zum anderen schlägt der Entwurf eine Neukonzeption des Wertverwässerungsschutzes in § 255 AktG vor. Die derzeit geltende Anfechtungslösung in § 255 Abs. 2 AktG soll durch eine Ausgleichslösung ersetzt und durch eine Erweiterung des SpruchG flankiert werden (s. § 255 Abs. 2–6 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 103 ff.). Dabei soll der Unternehmenswert bei börsennotierten Gesellschaften anhand des durchschnittlichen Börsenkurses bemessen werden (s. § 255 Abs. 4 AktG-E, der sich an die Delisting-Regelung in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG anlehnt; vgl. dazu RefE ZuFinG, S. 104 f.).
  • Im neuen Abschnitt 4a des Börsengesetzes sollen Regelungen über Börsenmantelgesellschaften (SPACs) geschaffen werden (s. §§ 44 ff. BörsG und RefE ZuFinG, S. 85 ff.), die das – nach § 44 Abs. 7 BörsG-E BörsG subsidiär geltende – Aktienrecht in vielerlei Hinsicht modifizieren.
  • Schließlich soll die Regelung zum Nachweisstichtag in § 123 AktG präzisiert werden (s. RefE ZuFinG, S. 96).

Kapitalmarktrecht

Auch das Kapitalmarktrecht soll an einigen Stellen angepasst werden:

  • Die Voraussetzungen für die Börsenzulassung sollen durch eine Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 BörsZulVO moderat erleichtert werden: Der voraussichtliche Kurswert der zuzulassenden Aktien soll von mindestens 1,25 Mio. € auf mindestens 1 Mio. € herabgesetzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 78).
  • Um die Senkung der Zulassungskosten für die Emittenten zu ermöglichen, soll der neue § 32 Abs. 2a BörsG den Börsen mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Zulassungsvoraussetzungen in Teilbereichen des regulierten Marktes gewähren (s. RefE ZuFinG, S. 85); flankiert wird diese Änderung durch eine Anpassung des § 8 Satz 3 WpPG (s. RefE ZuFinG, S. 84).
  • Die Haftungsvorschriften für Schwarmfinanzierungsdienstleister in §§ 32c, 32d, 32e WpHG sollen an die Parallelregelungen in §§ 11, 13 WpPG, § 22 VermAnlG angeglichen werden (s. RefE ZuFinG, S. 80).
  • Sicherlich zur Freude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sollen die Möglichkeiten der offenen Immobilienfonds, Infrastrukturfonds und Spezialfonds mit festen Anlagebedingungen, im Bereich des Grundstückserwerbs und des Betriebs von Energieanlagen zu investieren, erweitert werden, um die Energiewende mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zu flankieren (s. die Änderungen der §§ 231, 260b KAGB und RefE ZuFinG, S. 56, 137 ff.).
  • Im Blickfeld des Referentenentwurfs liegt auch WpÜG, das an einigen Stellen geändert werden soll (s. RefE ZuFinG, S. 80 ff.). Insbesondere soll die Kommunikation mit der BaFin künftig ausschließlich elektronisch erfolgen (s. §§ 36, 37, 45 WpÜG-E).

Recht der Finanzmarktaufsicht

  • Elektronische Behördenkommunikation ist ferner Gegenstand der § 16m FinDAG-E, § 5 KWG-E, § 310a VAG-E, §§ 7b, 53, 223 KAGB-E, §§ 4a, 10, 11, 19, 25, 26, 34, 38, 39, 60, 61 ZAG-E und § 42a SAG-E.
  • Die Kommunikation mit der BaFin soll künftig auch in englischer Sprache geführt werden dürfen (s. § 4j FinDAG-E, § 19 Abs. 5a KAGB-E, § 10 Markzugangsangaben-VO-E, § 41 Abs. 1a SAG-E, § 2 Abs. 3 Inhaberkontroll-VO-E).
  • Im KWG sollen Vorgaben zur Kryptoverwahrung (schon mit Blick auf die MiCAR, s. RefE ZuFinG, S. 55 und 119 f.) und Regelungen zur DLT-Pilotregelung nach der Verordnung (EU) 2022/858 eingeführt werden (s. RefE ZuFinG, S. 121 f.). Die DLT-Pilotenregelung ist auch Gegenstand der §§ 78a ff. WpIG (s. RefE ZuFinG, S. 135 f.).

Zahlungsdiensterecht

  • Um die Vorgaben des Art. 106 PSD II eindeutig umzusetzen, soll der neue § 62a ZAG die Regelungen über die kollektive Verbraucherinformation gesetzlich verankern (s. RefE ZuFinG, S. 135).
  • Die Vorschriften über den Betrieb von Vergleichswebsites für Zahlungskonten in §§ 16 ff. ZKG sollen ergänzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 128 ff.).

Steuerrecht

  • Die Änderungen des Einkommensteuerrechts und des Vermögensbildungsgesetzes sollen Anreize für die Investition in Aktien verbessert werden (s. RefE ZuFinG, S. 109 ff. und S. 142).
  • Um eine Wettbewerbsgleichheit mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sollen die deutsche Kreditwirtschaft und die Investmentfonds durch Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes entlastet werden (s. RefE ZuFinG, S. 113 f.).

AGB-Recht

Last but not least: Ein neuer § 310 Abs. 1a BGB soll die AGB-Inhaltskontrolle der Geschäfte im bank- und kapitalmarktrechtlichen Bereich einschränken (s. dazu RefE ZuFinG, S. 76 ff.; im Vorfeld des Entwurfs etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 8 ff.).

Ausblick

Für die diskussionsfreudige unternehmensrechtliche Community ist der Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes ein verspätetes Ostergeschenk. Die „Aktiengesellschaft“ wird die Debatte um das Zukunftsfinanzierungsgesetz aktiv begleiten.

Country by Country Reporting im Aufsichtsrat?

Bisher hatte die internationale Ertragsteuerstransparenz – das so genannte Country bei Country Reporting – im Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats großer Unternehmen ebenso wenig einen besondere Platz wie die generelle Erfüllung der Steuerpflichten des Unternehmens. Nach dem im Dezember 2022 vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2021/2101 (BT-Drucks. 20/5653 – Vorabfassung), der am 15.3.2023 in der ersten Lesung im Bundestag behandelt werden soll, soll sich dies ändern. Auf die Geschäftsleitung von international tätigen Unternehmen mit Sitz in Deutschland, die über ausländische Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften einem Umsatz von über 750 Mio. € erzielen, kommt die Pflicht zur öffentlichen Berichterstattung im Sinne eines public Country bei Country Reporting zu. Durch die offengelegte Information über die in den einzelnen Ländern, in denen das Unternehmen durch Zweigniederlassungen oder durch seine Tochtergesellschaften tätig ist, gezahlten Steuern soll eine öffentliche Kontrolle dieser Steuerinformationen ermöglicht und letztlich die Steuerflucht bekämpft werden. Der neue von den Unternehmen jährlich zu erstellende Ertragsteuerinformationsbericht geht über die bereits heute bestehende steuerliche Angabepflicht dieser Unternehmen gegenüber der Finanzbehörde nach § 138a AO zum Country bei Country Reporting hinaus.

Der entsprechende Bericht soll von der Geschäftsleitung (Vorstand/Geschäftsführung) dem Aufsichtsrat unverzüglich nach der Erstellung ebenso zur Prüfung vorgelegt werden wie der Jahresabschluss und der Lagebericht bzw. bei Mutterunternehmen auch der Konzernabschluss und der Konzernlagebericht (s. §§ 170, 171, 283 AktG-E und Begr. RegE, BT-Drucks. 20/5653, 66 – Vorabfassung). Die neue Prüfungspflicht des Aufsichtsrats lässt seine generelle Überwachungsaufgabe hinsichtlich der Geschäftsführung nach in § 111 Abs. 1 AktG außer Betracht, die die Überwachung der Beachtung der einschlägigen Gesetze durch das Unternehmen (Legalitätspflicht) einschließt. Soweit über den allgemeinen Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats hinaus neue besondere Kontroll- und Überwachungspflichten begründet werden sollen, bedarf es dazu eines sachlichen Grundes. Dieser ist hinsichtlich des Ertragsteuerinformationsberichts nicht erkennbar. Ebenso wenig ist ersichtlich, weshalb die Prüfung des Berichts zwingend im Aufsichtsratsplenum stattfinden soll und nicht an einen Aufsichtsratsausschuss zur Erledigung delegiert werden darf. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, welchen besonderen Beitrag die Aufsichtsratsmitglieder, die in der Regel über keine besondere Kompetenz in Steuerfragen verfügen (und auch nicht verfügen müssen), bei der Prüfung des Ertragsteuerinformationsberichts beisteuern können, zumal sowohl in der Richtlinie wie auch im Gesetzentwurf eine inhaltliche Prüfung des Berichts durch den Abschlussprüfer, auf die der Aufsichtsrat zur Erledigung seiner Prüfung zurückgreifen könnte, ausdrücklich nicht vorgesehen ist. In der EU-Richtlinie 2021/2104 ist eine ausdrückliche Anordnung zur speziellen Prüfung des Berichts durch den Aufsichtsrat nicht enthalten. Vielmehr reicht es danach aus, dass die Erstellung und Offenlegung des Berichts durch den Vorstand der allgemeinen Überwachungspflicht des Aufsichtsrats im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeiten unterliegt.

Die Aufgaben des Aufsichtsrats sind in den letzten Jahrzehnten sowohl durch die tatsächliche Entwicklung aber auch durch Entscheidungen des europäischen oder nationalen Gesetzgebers stetig gewachsen. Vor diesem Hintergrund ist im Sinne einer schonenden Richtlinienumsetzung Zurückhaltung geboten, dem Aufsichtsrat zusätzliche, besondere obligatorische Prüfungsaufgaben zuzuweisen, die in der EU-Richtlinie so nicht vorgesehen sind. Erst recht erscheint es nicht nachvollziehbar, wenn stillschweigend erwartet würde, dass der Aufsichtsrat aus eigner Initiative und Verantwortung die vom Gesetzgeber nicht für erforderlich gehaltene inhaltliche Prüfung des Ertragsteuerinformationsberichts durch den Abschlussprüfer zusätzlich in Auftrag gibt, um seiner Prüfungspflicht nachkommen zu können. Im Sinne guter Corporate Governance muss es vielmehr gerade das Ziel sein, den Aufsichtsrat vor Überlastung durch ein überbordendes Programm von Pflichtaufgaben zu bewahren, um ihm die effektive Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe hinsichtlich der grundlegenden Fragen der Unternehmensführung durch den Vorstand sowie der strategischen Fragen zu ermöglichen. Hinsichtlich des public Country bei Country Reporting genügt es, wenn die Pflicht zur Erstellung des Ertragsteuerinformationsberichts der allgemeinen Überwachung des Aufsichtsrats unterliegt, was durch die Vorschrift von § 111 Abs. 1 AktG bereits heute gewährleistet ist.

Stellungnahme des DAV-Handelsrechtsausschusses zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Die Diskussion über die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien im Zuge des Listing Acts ist im vollen Gange (zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL s. etwa Casper, ZHR 187 (2023), 5, 29 f.; Gumpp, BKR 2023, 82, 88 f.; Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Kuthe, AG 2023, R28, R29; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193; Schlitt/Ries, NZG 2023, 145). Am 27.2.2023 hat der Ausschuss Handelsrecht des Deutschen Anwaltvereins eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er den Vorstoß der Europäischen Kommission zwar grundsätzlich begrüßt, aber eine Reihe von Änderungsvorschlägen unterbreitet. Zahlreiche Anregungen des Ausschusses sind durchaus erwägenswert: eine ausdrückliche Regelung zur KGaA und SE, eine Klarstellung hinsichtlich der Zulässigkeit von Sonderbeschlüssen benachteiligter Aktionäre, eine weitere Klarstellung, dass die Schaffung der Mehrstimmrechtsaktien durch Ausübung genehmigten Kapitals unzulässig ist, und die Konkretisierung der Obergrenzen für die Stimmrechtsmacht in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Überzeugend sind zudem die Überlegungen zur Ausgestaltung der sunset clauses, zur Erweiterung der gegenständlichen Beschränkungen in Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sowie zu den Transparenzvorgaben in Art. 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Zwei Vorschläge des DAV-Handelsausschusses sind dagegen bedenklich: die erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrstimmrechtsaktien-RL und die Streichung der „Klimaschutz-Regelung“ in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL zwischen Mindest- oder Vollharmonisierung

Nach dem bisherigen Konzept der EU-Kommission soll die Mehrstimmrechtsaktien-RL nur insoweit einen Harmonisierungsdruck erzeugen, als Mehrstimmrechtsaktienstrukturen lediglich für Aktiengesellschaften geöffnet werden sollen, die eine Notierung auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben (vgl. Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Werden die Aktien bereits auf einem KMU-Wachstumsmarkt oder einem anderen Handelsplatz gehandelt oder will der (künftige) Emittent die Aktien von vornherein in einem anderen Marktsegment als KMU-Wachstumsmarkt – etwa im geregelten Markt – platzieren, können die Mitgliedstaaten die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gem. Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E zulassen, müssen es aber nicht. Kein Zwang zur Zulassung der Mehrstimmrechtsaktien gilt ferner für geschlossene Aktiengesellschaften; auch insoweit folgt der Richtlinienentwurf dem Konzept der Mindestharmonisierung (vgl. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30: große Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten).

Dagegen schwebt dem DAV-Handelsrechtsausschuss eine Vollharmonisierung dahingehend vor, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für alle Aktiengesellschaften zu öffnen – und zwar unabhängig davon, ob die Aktien bereits auf einem geregelten Markt oder in einem multilateralen Handelssystem (MTF), das kein KMU-Wachstumsmarkt ist, gehandelt werden oder ob die Eigentümer der Gesellschaft überhaupt den das Börsenparkett betreten möchten (vgl. S. 9 ff. der Stellungnahme; für Erstreckung auf alle MTF Gumpp, BKR 2023, 82, 89). Dabei vermisst der Ausschuss eine tragfähige Begründung für die Ausklammerung der Gesellschaften, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL fallen.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in allen Kapitalmarktsegmenten

Der Vorschlag des DAV-Handelsrechtsausschusses, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften in allen Kapitalmarktsegmenten zu öffnen, klingt bei unbefangener Betrachtung verlockend, weil er einer weiteren Fragmentierung des – ohnehin unübersichtlichen – Aktien- und Kapitalmarktrechts in der Europäischen Union entgegenwirkt. Zudem will der Ausschuss offenbar erreichen, dass die Kapitalmarktteilnehmer mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie Unternehmen mit einer „one share, one vote“-Kultur oder mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur für vorzugswürdig halten (zur Einstellung der Investoren und Stimmrechtsberater vgl. Denninger, DB 2022, 2329, 2334; Kuthe, AG 2023, R28, R29; Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193). In Zeiten eines übergreifenden Paternalismus wirkt die damit verbundene Liberalisierungsbrise erfrischend.

Dennoch geht die Kritik an der Harmonisierungskonzeption der EU-Kommission zu weit. Die Kommission versteht die Zulassung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen augenscheinlich als ein Instrument, um kleine und mittlere Unternehmen an den öffentlichen Kapitalmarkt zu locken und damit ihre Finanzierungsbasis zu stärken: Die Investoren der ersten Stunde können einerseits den externen Anlegern die Beteiligung am Unternehmen ermöglichen, müssen aber andererseits keinen Machtverlust befürchten, wenn sie sich ausreichend Mehrstimmrechtsaktien sichern. Ist ein KMU bereits auf einem Handelsplatz notiert, bedarf es der Mehrstimmrechtsaktien als Lockmittel nicht mehr; insoweit ist das Konzept der EU-Kommission durchaus in sich schlüssig.

Will die Gesellschaft von vornherein ins kalte Wasser springen und eine Notierung auf einem „höherwertigen“ Marktsegment anstreben, kann die Zurückhaltung der EU-Kommission mit einem Verweis auf die kritischen Stimmen begründet werden, die vor einer allzu breiten Öffnung des Gesellschaftsrechts für Mehrstimmrechtsaktienstrukturen warnen: Die Mehrstimmrechtsaktien schaffen das Risiko, die Kontrollfunktion der Kapitalmärkte auszuhebeln und die Governance-Strukturen zu schwächen (s. nur Casper, ZHR 187 (2023), 5, 24 ff.; Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Dies relativiert die Zwangsläufigkeit, die der DAV-Handelsrechtsausschuss im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Marktsegmente vorspiegelt.

Namentlich ist die Schaffung eines level playing field, auf das der DAV-Handelsrechtsausschuss mehrfach Bezug nimmt, bei Lichte besehen nicht zwingend. Wieso sollte der Richtliniengeber den Wettbewerb zwischen den nationalen Aktienrechtsordnungen durch eine zwingende Vorgabe unterbinden, deren Daseinsberechtigung nicht unumstritten ist? Das bisherige Konzept der EU-Kommission hat – auch im Lichte des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) – den Charme, im Zeitalter der Mobilitäts-RL die Bedingungen für einen Systemwettbewerb zu schaffen, in dem beobachtet werden kann, welche Anziehungskraft Mehrstimmrechtsaktien für notierungswillige Gründer haben (s. dazu bereits Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 17; zur Competition of Policy Makers jüngst auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 27 ff.). Erweisen sich Rechtsordnungen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen generell zulassen, als überlegen, kann die EU-Kommission diesen Umstand im Rahmen der ohnehin vorgeschriebenen Überprüfung berücksichtigen und den Anwendungsbereich der Richtlinie erweitern (vgl. Gumpp, BKR 2023, 82, 89: Test; trial and error).

Nebenbei: Entscheidet sich der Richtliniengeber dafür, von der ursprünglichen Konzeption der EU-Kommission abzurücken und die Vorschläge des DAV-Handelsrechtsausschusses umzusetzen, sollte er über den Standort der Regelung nachdenken, die die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften aller Kapitalmarktsegmente öffnet. Jedenfalls für börsennotierte Aktiengesellschaften spricht viel dafür, insoweit die Aktionärsrechte-RL zu ändern, statt die Zulässigkeit der Mehrstimmrechtsaktien in einer separaten Richtlinie zu regeln.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in geschlossenen Gesellschaften

In der Sache überzeugend sind die Ausführungen des DAV-Handelsrechtsausschusses zu Mehrstimmrechtsaktiensystemen in geschlossenen Gesellschaften. Es ist in der Tat kein Grund ersichtlich, solchen Unternehmen die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien zu verbieten (s. bereits Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; s. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30). Nur: Ist eine EU-Richtlinie der richtige Ort, um die Governance-Vorgaben für Unternehmen jenseits des Kapitalmarkts zu lockern?

Die EU-Kommission stützt ihren Vorschlag auf Art. 50 AEUV und Art. 114 AEUV. Wieso das Verbot der Mehrstimmrechtsaktien in kapitalmarktfernen Gesellschaften die Niederlassungsfreiheit einschränkt und deshalb qua Richtlinie abgeschafft werden muss, liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Auch ein Binnenmarktmarktbezug drängt sich bei geschlossenen Unternehmen nicht auf. Insoweit sollte der Richtliniengeber – ggf. mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip – an der bisherigen Konzeption festhalten und die Entscheidung den Mitgliedstaaten überlassen.

Streichung des „ESG-Artikels“

Auf S. 20 f. der Stellungnahme beschäftigt sich der DAV-Handelsrechtsausschuss mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Diese Vorschrift enthält eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Dass der „ESG-Artikel“ überrascht, wurde bereits im Blog-Beitrag v. 13.12.2022 näher erläutert – eine Streichung erscheint aber dennoch vorschnell.

Insbesondere verstößt Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nicht zwingend gegen das aktienrechtliche Kompetenzsystem. Wenn der DAV-Handelsrechtsausschuss auf § 119 AktG verweist, blendet er aus, dass die deutsche Organisationsverfassung nicht alternativlos ist und die EU-Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung flexibel sind. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht verpflichtet wäre, Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E umzusetzen. Vielmehr enthält Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E lediglich eine Liste mit optionalen Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten (ggf. in modifizierter Form) erlassen können. Im Hinblick darauf und die derzeitige Diskussion um „Say on ESG“ wirkt der Vorschlag des Ausschusses wie ein (nicht zeitgemäßer) Versuch, jeglichen Gedanken an eine Erweiterung der HV-Kompetenzen im Keim zu ersticken.

Listing Act: Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Ende 2021 kündigte die Europäische Kommission an, im Rahmen eines sog. „Listing Act“ Regelungen vorzuschlagen, die die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts steigern sollten. Der Ankündigung folgte eine öffentliche Konsultation, die bis Februar 2022 dauerte (zu den Stellungnahmen Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 18 ff.). Nach einer längeren Funkstille präsentierte die EU-Kommission am 7.12.2022 ein umfangreiches Regelungspaket mit mehreren Entwürfen, die das Insolvenzrecht, das Clearing (u.a. Anpassung der EMIR und weiterer Verordnungen sowie der OGAW-RL und weiterer Richtlinien), die Mehrstimmrechte, die Änderung der EU-ProspektVO, der MAR und der MiFIR sowie die Änderung der MiFID II und die Abschaffung der Wertpapierzulassungs-RL 2001/34/EG betreffen.

Im Gesellschaftsrechts-Blog werden wir die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Pläne der EU-Kommission darstellen; das Vorhaben wird auch Gegenstand eines Beitrags im AG-Report sein.

Die (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie

Da aus einer gesellschaftsrechtlichen Perspektive der Entwurf einer Mehrstimmrechtsaktien-RL (s. COM(2022) 761 final) im Zentrum des Interesses stehen dürfte, konzentrieren wir uns im ersten Teil auf die Mehrstimmrechtsaktien, die in Deutschland bekanntlich seit 1998 nach § 12 Abs. 2 AktG unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Ankündigung ihrer Wiedereinführung durch die EU-Kommission – und durch das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (s. dazu Kuthe, AG 2022, R208 und meinen Zwischenruf) – eine Flut von Beiträgen auslöste, die sich mit den Vor- und Nachteilen dieses Governance-Instruments auseinandersetzen (vgl. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275; Nicolussi, AG 2022, 753).

Nun macht die EU-Kommission einen ersten Aufschlag und will die Emission von Mehrstimmrechtsaktien europaweit ermöglichen. Dabei definiert sie die Mehrstimmrechtsaktien in Art. 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als Aktien, die zu einer gesonderten und separaten Gattung gehören und mit höherem Stimmgewicht ausgestattet sind als eine andere Gattung von Aktien, die ein Stimmrecht in Angelegenheiten gewähren, die im Rahmen der Hauptversammlungskompetenzen liegen. Emittiert eine Gesellschaft solche Mehrstimmrechtsaktien, verfügt sie nach Art. 2 lit. c Mehrstimmrechtsaktien-RL-E über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur.

Überdies legt Art. 2 lit. f Mehrstimmrechtsaktien-RL-E fest, dass unter gewichtetem Stimmverhältnis das Verhältnis der mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Stimmen zu den Stimmen, die mit den „regulären“ Aktien verbunden sind, zu verstehen ist (lit. f). Ansonsten erschöpft sich der Katalog des Art. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E in Verweisungen auf Definitionen der Gesellschaft (erfasst ist nach lit. a nur die AG, nicht aber die GmbH), des Handelsplatzes (lit. d) und des KMU-Wachstumsmarktes (lit. e) in anderen Regelwerken.

Was die Zulässigkeit und Ausgestaltung der Mehrstimmrechtsaktien angeht, verfolgt die EU-Kommission das Konzept der Mindestharmonisierung: Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, Regelungen über die Zulässigkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen beizubehalten und/oder neu einzuführen (zur Verbreitung der Mehrstimmrechtsaktie in der EU Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 16; zur Ausgestaltung s. Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277). Zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soll Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E beitragen, der eine Pflicht zur Gestattung der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert:

  • Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt den Mitgliedstaaten vor, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen durch Unternehmen zu gestatten, deren Aktien nicht zum Handel an einem Handelsplatz zugelassen sind und die eine Zulassung von Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt (s. § 76 WpHG) in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten beantragen wollen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E untersagt, die Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt mit der Begründung zu verweigern, dass ein Unternehmen über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur verfügt.
  • Den Unternehmen soll nach Art. 4 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit offenstehen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen rechtzeitig vor der Beantragung der Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einzuführen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 4 Abs. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E gestattet, die Ausübung der mit den Mehrstimmrechtsaktien verbundenen erweiterten Stimmrechte an die tatsächliche Zulassung der Aktien zu knüpfen.

Mehrstimmrechtsaktie als Instrument der Machtsicherung

Die Ausgestaltung des Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E und die Erwägungsgründe machen deutlich, dass die EU-Kommission die Mehrstimmrechtsaktie nicht nur als eine gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption, sondern als ein Instrument begreift, das die Attraktivität des Kapitalmarkts für kleine und mittlere Unternehmen steigern soll. Die wirtschaftlichen Eigentümer solcher Unternehmer – häufig dürfte es sich um Start-ups oder Familiengesellschaften handeln – sollen die Möglichkeit haben, den öffentlichen Kapitalmarkt zu betreten, ohne dabei das Risiko einzugehen, die Macht in der Hauptversammlung zu verlieren; die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sollen also der Machterhaltung und -sicherung dienen.

Ob sich die Geldgeber auf solche Machtverhältnisse einlassen und tatsächlich in die Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen investieren, steht auf einem anderen Blatt (zur Skepsis der Investoren und Stimmrechtsberater im angelsächsischen Rechtsraum Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen; zu den Erwartungen des Kapitalmarkts ferner Denninger, DB 2022, 2329, 2334).

Aktionärsschutz durch Verfahrensrecht

Im Hinblick auf die Machtungleichgewichte, die mit Mehrstimmrechtsaktien einhergehen, überrascht es nicht, dass die EU-Kommission dem Schutz der Aktionäre, die „reguläre“ Aktien halten, Sorge tragen will (vgl. Erwägungsgrund 10 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E; generell zum Minderheitenschutz Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 32 ff.; vgl. ferner Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277 f.). Dabei ist zum einen zwischen zwei Anlässen zu differenzieren, aus denen der Aktionärsschutz geboten sein kann: erstens, wenn ein Unternehmen eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur einführt, und zweitens, wenn die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien diese nutzen, um einen Beschluss zu fassen. Zum anderen kommen unterschiedliche Schutzinstrumente in Betracht, und zwar Verfahrensregelungen einerseits, materiell-rechtliche Regelungen andererseits.

Blickt man auf das Richtlinienkonzept, soll der Aktionärsschutz in erster Linie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen im Zusammenhang mit der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sichergestellt werden:

  • Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt vor, dass der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer qualifizierten Mehrheit bedarf; in Deutschland handelt es sich um die ¾-Kapitalmehrheit des § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.
  • Überdies müssen die Inhaber der Aktien besonderer Gattungen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit haben, einen Sonderbeschluss zu fassen, soweit ihre Rechte durch die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien betroffen sind (vgl. dazu §§ 138, 179 Abs. 3 AktG und Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 37).
  • Ferner muss das Stimmgewicht der Mehrstimmrechtsaktien nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E der Höhe nach begrenzt werden (hierzu generell Denninger, DB 2022, 2329, 2335).
  • Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sieht eine Öffnungsklausel für weitere nationalen Schutzmaßnahmen zugunsten der Aktionäre und der Gesellschaft vor. Die in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E genannten Bestimmungen – zum einen Verfallsklauseln, zum anderen Auflösungsklauseln – haben wie Art. 5 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einen eher verfahrensrechtlichen Charakter.

Aktionärsschutz durch materielles Recht

Ein Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen ist im Richtlinienentwurf zwar nicht vorgesehen, indes dürfte die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E den Mitgliedstaaten erlauben, die Minderheit durch inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und der Ausübung der Mehrstimmrechte zu schützen. Dafür spricht auch Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E, der das Ermessen der Mitgliedstaaten betont.

Im Lichte von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E dürfte in Deutschland eine Diskussion darüber entflammen, ob ein Beschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer sachlichen Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Kali+Salz-Rechtsprechung bedarf (BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40). Die Antwort ist kurz und einfach: nein. Es ist absehbar, dass die Erforderlichkeit der sachlichen Rechtfertigung mit dem Standardargument abgelehnt wird, die gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen trage den sachlichen Grund in sich (so der Sache nach bereits für die Einführung der Höchststimmrechte BGH v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, BGHZ 70, 117).

Sollte die Diskussion den BGH erreichen, wäre es ein willkommener Anlass, das Konzept der materiellen Beschlusskontrolle generell zu überdenken, sich dabei vom Grundsatz sachlicher Rechtfertigung – der bei Lichte besehen nur für die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung eine Rolle spielt, in diesem Kontext aber wegen der Möglichkeit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle obsolet ist – zu verabschieden und auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht als das maßgebliche Schutzinstrument zu verweisen. Freilich wird ein Treuepflichtverstoß bei Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen tendenziell fernliegen.

Eine Treuepflichtverletzung dürfte hingegen eher in Betracht kommen, wenn sich die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen der Stimmrechtsausübung hinsichtlich anderer Beschlussgegenstände allzu opportunistisch verhalten und die Interessen der Minderheitsaktionäre missachten. Wer wegen der Mehrstimmrechtsaktienstruktur über eine besondere Machtposition verfügt, muss auf die beweglichen Schranken der Stimmrechtsmacht achten. Anderenfalls kann der auf Mehrstimmen beruhende Hauptversammlungsbeschluss wegen eines Inhaltsfehlers nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein. Überdies kommt es in Betracht, den Aktionärsschutz mit Hilfe konzernrechtlicher Instrumente sicherzustellen (s. nur Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 40). Es dürfte im Lichte des Erwägungsgrundes 12 und des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E unbedenklich sein, auf diese tradierten Grundsätze des deutschen Aktienrechts zurückzugreifen, auch wenn sich die Richtlinie dazu nicht explizit äußert.

Mehrstimmrechtsaktie im ESG-Zeitalter

Während der Richtlinienentwurf den Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen weitgehend vernachlässigt, wird in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d deutlich, dass der Vorschlag im ESG-Zeitalter entwickelt wurde. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E enthält nämlich eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (vgl. ferner Erwägungsgrund 11 Satz 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Ausübung der Mehrstimmrechte mit einer solchen Zielrichtung unzulässig ist.

Gegen eine solche Vorschrift ist im Ausgangspunkt nichts einzuwenden, die mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einhergehende Übergewichtung der Umwelt- und Sozialaspekte zulasten der Governance-Probleme – die im Zusammenhang mit Mehrstimmrechtsaktien auf der Hand liegen (s. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Nicolussi, AG 2022, 753) – ist aber doch nicht unbedenklich. Es ist verblüffend, dass der europäische Richtliniengeber der Verfolgung exogener Ziele mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Lösung herkömmlicher aktienrechtlicher Regelungsaufgaben. Gleichwohl dürfte dieser Fokus jedenfalls in Deutschland im Ergebnis hinnehmbar sein, wenn man den Aktionärsschutz qua Treuepflicht und Konzernrecht nicht aus den Augen verliert.

Zugleich könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E eine Diskussion um das Zusammenspiel zwischen dem Menschenrechts- und Umweltschutz und der materiellen Beschlusskontrolle auslösen. Aus der Perspektive der deutschen Beschlussdogmatik könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als eine Regelung gedeutet werden, die es erlaubt, die Hauptversammlung dem interessenpluralistischen Zielkonzept zu unterwerfen. Ein solches Verständnis führte dazu, dass ein Anfechtungsgrund wegen eines Inhaltsfehlers angenommen werden könnte, wenn die Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung Umwelt- und Sozialbelange missachtet – und zwar unabhängig davon, ob der fragliche Beschluss durch Mehrstimmrechtsaktien getragen wird oder in Gesellschaften ohne Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gefasst wird. Dieser Ansatz ist bei unbefangener Betrachtung kontraintuitiv, weil er die shareholder dazu zwingt, im Rahmen der Beschlussfassung die Interessen der stakeholder in ihre Abwägung einzubeziehen. Berücksichtigt man indes die aktuelle Debatte zum „Say on ESG“ und die ESG-bezogenen Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich des Unternehmens- und Wirtschaftsrechts, erscheint die Idee der Hauptversammlung als Agenten der Menschenrechte und der Umwelt nicht gänzlich unplausibel.

Anlegerschutz durch Transparenzpflichten

Dem kapitalmarktrechtlichen Charakter des Richtlinienentwurfs trägt dessen Art. 6 Rechnung, der – im Einklang mit dem Informationsmodell des europäischen Kapitalmarktrechts – Transparenzpflichten für Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert. Solche Unternehmen müssen gem. Art. 6 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E im Wachstumsemissionsdokument i.S.d. Art. 15a EU-ProspektVO-E oder im Zulassungsdokument i.S.d. Art. 33 Abs. 3 lit. c MiFID II sowie im Jahresfinanzbericht eine Reihe von Umständen offenlegen. Hierzu zählen die Kapitalstruktur des Unternehmens (lit. a), die Beschränkungen hinsichtlich der Wertpapierübertragung (lit. b), die Sonderrechte und ihre Inhaber (lit. c), die Stimmbindungen (lit. d) und die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien (lit. e sowie Art. 6 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Die Erfüllung der Transparenzpflichten soll den Anlegern einen Einblick in die Unternehmensstrukturen ermöglichen und damit eine Grundlage für eine informierte Investitionsentscheidung schaffen (vgl. auch Erwägungsgrund 13 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Umsetzungsoptionen des deutschen Gesetzgebers

Wird die Mehrstimmrechte-RL wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen, ist § 12 Abs. 2 AktG in seiner aktuellen Fassung hinfällig. Gleichwohl stehen dem deutschen Gesetzgeber mehrere Umsetzungsoptionen offen (generell zur Umsetzung Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 23 ff.). Namentlich wird er im Rahmen der Umsetzung die Frage beantworten müssen, ob er die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in enger Anlehnung an Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nur für Unternehmen öffnet, deren Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt zugelassen sind, oder ob er darüber hinaus – und im Einklang mit Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E – das Aktienrecht weitergehend dereguliert und das Verbot der Mehrstimmrechte generell aufhebt. Die Aussagen im Eckpunktepapier für das Zukunftsfinanzierungsgesetz deuten darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber die Mehrstimmrechte in erster Linie als ein Instrument für Wachstumsunternehmen und Start-ups ansieht. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn das Verbot der Mehrstimmrechte nur insoweit entfällt, als Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E es erfordert.

Zwingend ist eine solche minimalinvasive Umsetzung freilich nicht. Da Mehrstimmrechte in Publikumsgesellschaften größeren Bedenken ausgesetzt sind als in geschlossenen Gesellschaften und die Zulässigkeit der Mehrstimmrechte in der GmbH konsentiert ist, spricht viel dafür, von der Gestaltungsoption des Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E jedenfalls für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften Gebrauch zu machen (dafür etwa Habersack, AG 2009, 1, 10 f.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1898 f.).

Für börsennotierte Unternehmen, deren Aktien nicht nur an einem KMU-Wachstumsmarkt gehandelt werden und die deshalb nicht von Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E erfasst sind, dürfte ein Abschied von § 12 Abs. 2 AktG schwieriger zu rechtfertigen sein (zu den Bedenken wegen der Ausschaltung des externen Effizienzdrucks am Kapitalmarkt Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Ein solcher Schritt wäre jedenfalls nur dann rechtspolitisch haltbar, wenn der Gesetzgeber für ein mit Art. 5 und 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E vergleichbares Schutzniveau sorgt. Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftsrechtlichen Schutzvorkehrungen und kapitalmarktrechtlichen Transparenzpflichten würde es erlauben, die Entscheidung über die Investition in ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur dem privatautonomen Urteil der Kapitalmarktakteure zu überlassen, statt diese zu bevormunden.

Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Stimmrechtsberater den Mehrstimmrechten kritisch gegenüberstehen und ihre Skepsis zum einen den Investoren bei der Entscheidungsfindung behilflich sein könnte, zum anderen einen externen Druck auf Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und die bevorzugten Aktionäre erzeugen würde (zur Position der Stimmrechtsberater vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen).