Online-Dossier: Listing Act und Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG)

Mit dem Listing Act und dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG I) wollen der europäische und deutsche Gesetzgeber das Aktien-, Kapitalmarkt- und Finanzaufsichtsrecht grundlegend modernisieren, um den Kapitalmarkt attraktiver zu gestalten und mehr private Finanzmittel für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren. Während das ZuFinG I bereits in Kraft getreten ist, wartet der Listing Act auf die förmliche Verabschiedung. Zudem hat das Bundesministerium der Finanzen am 27.8.2024 den Referentenentwurf eines Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) veröffentlicht.

Mit unserem stetig anwachsenden Online-Dossier liefern wir Ihnen einen umfassenden Überblick über die Reformvorhaben. Sechs Beiträge zum ZuFinG I finden Sie in der Sonderbeilage zu AG 6/2024, die Sie kostenlos herunterladen können.

Aus der AG:

  • Hoppe/Knop, Kapitalerhöhungen nach dem ZuFinG, AG 2024, 807
  • Mock, Der Anwendungsbereich des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG – ein unlösbares Puzzle?, AG 2024, 797
  • Gaffron/Cramer, Vorschläge zur Änderungen des Investment- und Investmentsteuerrechts durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz II, AG 2024, R323
  • Kuthe/de Boer, Aktien- und kapitalmarktrechtliche Vorschläge im Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Finanzierung von zukunftssichernden Investitionen, AG 2024, R305
  • Joser, Wettbewerb der Finanzstandorte – Eine rechtsvergleichende Analyse der Eigenkapitalfinanzierung in den USA, in Deutschland und im UK, AG0069726
  • Schlitt/Ries/Lepke, Auswirkungen des EU Listing Acts und des Zukunftsfinanzierungsgesetzes auf Aktien- und Equity-linked Emissionen, AG 2024, 466
  • Kümpel, Mehrstimmrechtsaktien im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen, AG 2024, 426
  • Heidel, Anmerkungen zum Eigentumsschutz der AG und ihrer Aktionäre nach den §§ 255–255b AktG, AG 2024, 310
  • Verse, Wertverwässerungsschutz bei Sachkapitalerhöhungen nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 297
  • Ceesay, Mehrstimmrechtsaktien nach § 135a AktG im Blickfeld von Aktien‑, Übernahme‑, Konzernrecht und DCGK, AG 2024, S2
  • Guntermann, Krypto-Aktie & Co., AG 2024, S13
  • von der Linden, Neuerungen im Kapitalerhöhungsrecht, AG 2024, S23
  • Schwarz, Auswirkungen der Reform des § 255 AktG auf das Recht der Unternehmensbewertung, AG 2024, S31
  • Harnos, Börsenmantelaktiengesellschaft, AG 2024, S53
  • Linardatos, Ausschluss der AGB-Kontrolle bei Finanzgeschäften, AG 2024, S72
  • Denga, Die e-Aktie, AG 2024, 137
  • Hellgardt, Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Sachverhalten – de lege lata und nach Inkrafttreten des Listing Acts, AG 2024, 57
  • Mutter, Zum Umgang mit dem “neuen“ Record Date nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz in der Hauptversammlungssaison 2024, AG 2024, R29
  • Jaspers/Thoma, Mehr als nur Kosmetik – Frischzellenkur für das WpÜG durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 3
  • Koch, § 255 AktG nach dem ZuFinG – Was wird aus den Rechten des Aktionärs?, AG 2024, 1
  • Harnos, Zukunftsfinanzierungsgesetz im Bundestag – mehr Rückschritt wagen, AG 2023, 873
  • Kuthe, Ziel erreicht? – Das Zukunftsfinanzierungsgesetz ist beschlossen, AG 2023, R356
  • Wasmann, Neuere Rechtsprechung zur Kompensation bei Strukturmaßnahmen und Gesetzesvorhaben sind sich einig: Es ist der Börsenkurs!, AG 2023, 810
  • Kuthe/Reiff, Aktienrechtliche Änderungen im Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R308
  • Widany/Weil, Neuerungen im AGB-Recht: Bereichsausnahme für den Finanzdienstleistungssektor im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R215
  • Denninger/von Bülow, Mehrstimmrechtsaktien im Recht der öffentlichen Übernahmen, AG 2023, 417
  • Guntermann, RefE ZuFinG: Vorhang auf für die e‑Aktie, AG 2023, 426
  • Lay/Neubauer/Schäfer, Verbesserung der Rahmenbedingungen für Mitarbeiterbeteiligungen im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R156
  • Harnos, Unternehmensrechtliche Regelungsvorschläge im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungs­gesetzes, AG 2023, 348
  • Veil/Wiesner/Reichert, Ad Hoc Disclosure under the EU Listing Act, AG 2023, 57
  • Kuthe, Kommissionsvorschlag für den EU Listing Act, AG 2023, R28
  • Nicolussi, Mehrstimmrechtsaktie – Renaissance auf europäischer und nationaler Ebene, AG 2022, 753
  • Kuthe, Eckpunkte für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2022, R208

Aus DER BETRIEB:

  • Wasmann, Der RefE des Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) – Neues zum Delisting, DB 2024, 2482
  • Martin, Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung durch den EU Listing Act, DB 2024, 1393
  • Sauer/Buchta, EU Listing Act: (K)ein großer Wurf für das EU-Prospektrecht?, DB 2024, 1327
  • Bungert/Strothotte, Neue Ära im Kapitalerhöhungsrecht – Die §§ 255 bis 255b AktG n.F. in der finalen Fassung des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2024, 36
  • Romba/Grimm, Die elektronische Aktie im ZuFinG: Eine Bestandsaufnahme, DB 2023, 2868
  • Bungert/Strothotte, Kapitalerhöhungen ohne Blockaderisiko – Die Neuerungen der §§ 255 bis 255b AktG im RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2023, 2422
  • von der Linden/Schäfer, Der RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes: Neues zu Mehrstimmrechten, Kapitalerhöhungen und SPACs, DB 2023, 2292
  • Hertel, Mitarbeiterbeteiligung als neues Zukunftsmodell?, DB 2023, 2085
  • Niermann, Steuerliche Neuregelungen im Bereich der Mitarbeiterbeteiligung durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, DB 2023, 1239
  • Graßl/Krohn, Attraktivere europäische Kapitalmärkte: Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Marktmissbrauchsverordnung, DB 2023, 1142
  • von der Linden/Schäfer, Der RefE eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes – die wichtigsten Punkte aus aktienrechtlicher Perspektive, DB 2023, 1077
  • Denninger, Mehrstimmrechte in der Aktiengesellschaft – ein Wiedergänger in der deutschen und europäischen Reformdebatte, DB 2022, 2329

Aus der WM:

  • Wedemann, Der Aufschub der Veröffentlichung von Insiderinformationen nach der Neufassung des Art. 17 MAR, WM 2024, 2121
  • Wilhelm, Zwischen Meilenstein und Bärendienst: Die AGB-Bereichsausnahme für Finanzverträge nach § 310 Abs. 1a BGB n.F., WM 2024, 1289
  • Mock/Herzog, Mehrstimmrechtsaktien im Kapitalmarktrecht, WM 2024, 1005
  • Schmoll, Unbeschränkte Teilnahme von Privatanlegern an Kleinemissionen handelbarer Aktien – Ein Vorschlag zur Anpassung von §§ 6 WpPG, 65a WpHG, WM 2024, 631
  • Kropf, Die neue Bereichsausnahme von der AGB-Inhaltskontrolle im Zukunftsfinanzierungsgesetz – enttäuschte Erwartungen?, WM 2024, 377
  • Wittig/Hummelmeier, Back to the Future: Mehrstimmrechtsaktien nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, WM 2024, 332
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil II, WM 2023, 2073
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil I, WM 2023, 2035
  • le Dandeck/Nies, Das Zukunftsfinanzierungsgesetz – ein kohärentes Gesamtsystem? – Eine Untersuchung anhand der Auswirkungen des § 255 AktG-RegE auf das Übernahmerecht, WM  2023, 1947
  • Hippeli, Reformen im öffentlichen Übernahmerecht in Deutschland, WM 2023, 1769
  • Brauneck, Kryptowertpapiere: DLT-Pilotregime und CSDR contra eWpG?, WM 2023, 860

Aus der ZIP:

  • Gebhard, Pennystocks made in Germany? Die Neuregelung des aktienrechtlichen Mindestnennbetrags, ZIP 2024, 2617
  • Wedemann, Gestreckte Sachverhalte nach der Neufassung von Art. 17 MAR, ZIP 2024, 2373
  • Mock, Der eigenkapitalreduzierende Effekt des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG, ZIP 2024, 2173
  • Piller/Klusmann/Döding, Die Bewertungsrüge gegen die Aktienabfindung im Beherrschungsvertrag, ZIP 2024, 1701
  • Schulz, Börsennotierung und Ad-hoc-Publizität im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren, ZIP 2024, 1110
  • Kahle, Der erleichterte Bezugsrechtsausschluss im Aktienrecht nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG), ZIP 2024, 855
  • Segna, Die elektronische Aktie nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2024, 593
  • Brünkmans, Die Einbettung eines Pre-Pack-Verfahrens in die deutsche Insolvenzordnung, ZIP 2024, 265
  • Brünkmans, Das Pre-Pack-Verfahren nach dem EU‑Richtlinienentwurf, ZIP 2023, 2547
  • Herresthal, Die Problematik sog. negativer Zinsen bei Schuldscheindarlehen mit Zinsgleitklausel, ZIP 2023, 1873
  • Gebhard/Herzog, Die Wiederzulassung von Mehrstimmrechten – zurück in die Zukunft?, ZIP 2023, 1161
  • Joser, Der Referentenentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2023, 1006
  • Haring/Laqua, Pre-pack-Verfahren nach der EU-Richtlinie vs. Prepacked Plan, ZIP 2023, 899
  • Kuthe, Die Änderungen des EU Listing Acts aus Emittentensicht im Prospektrecht, Aktienrecht und Marktmissbrauchsrecht, ZIP 2023, 773
  • Frind, Der „EU-harmonisierte“ Gläubigerausschuss – Aliud oder Entsprechung zum deutschen Recht?, ZIP 2023, 449
  • Misterek, Die Insiderinformation im Spannungsverhältnis von Ad-hoc-Publizität und Insiderhandelsverbot, ZIP 2023, 400
  • Thole, Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM (2022) 702, ZIP 2023, 389
  • Herzog/Gebhard, Mehrstimmrechte im Aktienrecht, ZIP 2022, 1893

Aus dem Blog Gesellschaftsrecht:

Aus dem K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024:

Materialien zum Listing Act:

  • Vorschlag eines Listing Acts v. 7.12.2022
  • Verordnung (EU) 2024/2809 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1129, (EU) Nr. 596/2014 und (EU) Nr. 600/2014 zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehme
  • Richtlinie (EU) 2024/2810 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem multilateralen Handelssystem beantragen
  • Richtlinie (EU) 2024/2811 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2024 zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/34/EG

Materialien zum ZuFinG II:

Materialien zum ZuFinG I:

Seminare, Webinare und Fortbildungen:

Shareholder activism bei ProSiebenSat.1: Aufsichtsratsbesetzung und Abspaltung von Unternehmenssegmenten

Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein zunehmender Aktionärsaktivismus zu beobachten (aufschlussreiche aktuelle Bestandsaufnahme bei Rieckers, DB 2024, 439, 444; aus älterer Zeit etwa Graßl/Nikoleyczik, AG 2017, 49; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 299). Neben Öffentlichkeitskampagnen greifen aktivistische Investoren auch auf hauptversammlungsbezogene Aktionärsrechte zurück, um ihre Anliegen durchzusetzen (Überblick über die Möglichkeiten bei Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 11 ff.). Hierzu gehören insbesondere Gegenanträge und Wahlvorschläge nach §§ 126, 127 AktG (s. Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 31; zum Fall Brenntag in der HV-Saison 2023 Rieckers, DB 2024, 439, 444) sowie das Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 AktG (hierzu etwa Kuthe/Beck, AG 2019, 898 ff.; Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 41).

Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1

In der aktuellen Hauptversammlungssaison dürfte das Aktionärstreffen der ProSiebenSat.1 Media SE (im Folgenden: ProSiebenSat.1) das – aus rechtlicher und unternehmenspolitischer Perspektive – interessanteste Beispiel für den Aktionärsaktivismus sein. Die Besonderheit des Falles liegt zunächst darin, dass weder aktivistische Fonds noch Aktionärsvereinigungen noch Nichtregierungsorganisationen im Zentrum stehen, sondern ein Großaktionär: Die MFE-MEDIAFOREUROPE N.V. (im Folgenden: MFE) mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Cologno Monzese bei Mailand, deren CEO Pier Silvio Berlusconi – der Sohn des ehemaligen italienischen Premierministers – ist und an der die Familie Berlusconi maßgeblich beteiligt ist, hält 26,58% der Aktien der ProSiebenSat.1. Rechnet man die gem. § 71b AktG stimmrechtslosen eigenen Aktien der ProSiebenSat.1 hinweg, beläuft sich der Stimmenanteil der MFE auf 27,32%. Der zweitgrößte Aktionär, die PPF Group N.V. (im Folgenden: PPF) – ein Finanzinvestor im Familienbesitz mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Prag – ist mit 11,60% am Grundkapital der ProSiebenSat.1 beteiligt und hält 11,92% der Stimmrechte. 59,12% der Aktien bzw. 60,76% der Stimmrechte befinden sich im Streubesitz (s. die Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1).

Aktionärsvorschläge im Überblick

Die beiden Großaktionäre haben – zum Teil durchaus öffentlichkeitswirksam – für Wirbel gesorgt, indem sie die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 dazu gezwungen haben, fünf Vorschläge auf die Tagesordnung der Hauptversammlung 2024 zu setzen:

  • Zwei eigene Kandidaten zur Aufsichtsratswahl 2024 (MFE und PPF);
  • Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden (nur MFE);
  • Vorbereitung der Abspaltung der Unternehmenssegmente Commerce & Ventures und Dating & Video (nur MFE);
  • Neugestaltung des genehmigten Kapitals (nur MFE);
  • Erweiterung der statutarischen Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen.

Wahlvorschläge der Großaktionäre

In der diesjährigen Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 steht als TOP 8 die Wahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern an. Der Aufsichtsrat hat Klára Brachtlová (die eine Leitungsposition in einer Tochtergesellschaft der PPF bekleidet), Marjorie Kaplan und Pim Schmitz (der ein Director einer Holdinggesellschaft ist, deren Tochtergesellschaft im Produktionsbereich eine Geschäftsbeziehung zur ProSieben.Sat1 unterhält) zur Wahl vorgeschlagen. Die beiden Großaktionäre haben gem. § 127 AktG Wahlvorschläge für die Aufsichtsratswahl unterbreitet. Die MFE schickt Leopoldo Attolico gegen Schmitz ins Rennen. Die PPF schlägt Christoph Mainusch statt Kaplan oder Schmitz zur Wahl vor. Der Aufsichtsrat hält in seiner Stellungnahme zu den Aktionärsvorschlägen an seinem ursprünglichen Vorschlag fest.

Weil die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 virtuell i.S.d. § 118a AktG stattfindet, greift die Antragsfiktion nach § 126 Abs. 4 AktG i.V.m. § 127 Satz 1 AktG ein. Das führt gem. § 126 Abs. 4 Satz 2 AktG dazu, dass die ProSiebenSat.1 den Aktionären schon im Vorfeld der Hauptversammlung die Wahl der oppositionellen Kandidaten ermöglichen muss (s. dazu Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.2.2024, § 126 AktG Rz. 65 ff.; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21 i.V.m. § 126 AktG Rz. 72).

Die PPF will zudem sicherstellen, dass die Hauptversammlung über ihren Wahlantrag vor dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats abstimmt und die vorgezogene Abstimmung über ihren Antrag auch in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal zum Ausdruck kommt. Die Festlegung der Abstimmungspriorität kann die PPF gem. § 137 AktG durchsetzen, wenn eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des vertretenen Grundkapitals erreichen, die vorgezogene Abstimmung über den Aktionärsvorschlag verlangt. Da die PPF mit 11,60% an der ProSiebenSat.1 beteiligt ist, kann sie das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG im Alleingang erfolgreich stellen (zum Vorgehen in der virtuellen HV s. Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 9 ff.). Allerdings muss sie dies in der Hauptversammlung selbst tun: Die Antragsfiktion des § 126 Abs. 4 AktG erstreckt sich nicht auf das Minderheitsverlangen gem. § 137 AktG (Koch, 18. Aufl. 2024, § 126 AktG Rz. 18, § 137 AktG Rz. 2 a.E.; Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 5; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21).

Die hauptversammlungsbezogene Ausgestaltung des Minderheitsverlangens nach § 137 AktG ist eine Hürde, an dem das zweite Ziel der PPF scheitern könnte. Es spricht viel dafür, dass die Verwaltungsorgane nicht verpflichtet sind, die Briefwahlunterlagen und das Aktionärsportal von vornherein so auszugestalten, dass die von PPF bevorzugte Abstimmungsreihenfolge erkennbar ist. In dogmatischer Hinsicht schränkt § 137 AktG nämlich das Ermessen des Versammlungsleiters ein, die Reihenfolge der Abstimmung festzulegen (Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1); eine Bindungswirkung gegenüber den Verwaltungsorganen entfaltet § 137 AktG hingegen nicht. Dies ist im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Einbettung des § 137 AktG konsequent: Weil das Minderheitsverlangen im Vorfeld der Hauptversammlung noch nicht förmlich gestellt wurde, können die Verwaltungsorgane nicht daran gebunden sein. Freilich steht es den Verwaltungsorganen der ProSiebenSat.1 offen, schon in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal die von PPF beantragte Abstimmungsreihenfolge zu berücksichtigen.

In rechtspolitischer Hinsicht ist es erwägenswert, den Aktionären unabhängig vom Hauptversammlungsformat die Möglichkeit einzuräumen, das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG schon im Vorfeld der Hauptversammlung zu stellen, und die Verwaltungsorgane im Erfolgsfall zu verpflichten, die von den Aktionären erzwungene Abstimmungsreihenfolge in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal kenntlich zu machen (darauf abzielende Vorschläge de lege lata bei Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.; zurückhaltender M. Arnold in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 137 AktG Rz. 19; Koch, 18. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1). § 137 AktG will die Minderheitsinteressen stärken, indem er den Wahlvorschlag der Aktionäre gegenüber dem Vorschlag des Aufsichtsrats priorisiert; der oppositionelle Kandidat soll nicht hinter den Kandidaten des Aufsichtsrats versteckt werden (s. nur Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1168 f., der vom Grundsatz prozeduraler Neutralität spricht). Die Wirkung dieser verfahrensrechtlichen Vorkehrung droht zu verpuffen, wenn sie bei der – in der Praxis von Publikumsgesellschaften durchaus relevanten (s. nur Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 Rz. 4 ff.; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172) – Vorfeld-Abstimmung keine Rolle spielt. Insoweit sollte der Gesetzgeber die Verfahrensmodalitäten des § 137 AktG an die Realität der Hauptversammlung anpassen und sich auch insoweit vom Mündlichkeitsprinzip verabschieden (zur nicht mehr zeitgemäßen Ausgestaltung des § 137 AktG zutr. Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.).

Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden

Unternehmenspolitisch brisanter als die Wahlvorschläge der beiden Großaktionäre ist das auf § 122 Abs. 2 AktG gestützte Ergänzungsverlangen von MFE dahingehend, die Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds auf die Tagesordnung zu setzen. Weil die Hauptversammlung gem. § 103 Abs. 1 AktG für die Abberufung zuständig ist und die MFE mit ihrem Aktienpaket den in § 122 Abs. 2 AktG vorgeschriebene Anteil am Grundkapital deutlich überschreitet, hat die ProSiebenSat.1 ihre Tagesordnung gem. § 124 Abs. 1 AktG entsprechend ergänzt.

Abberufen werden soll Rolf Nonnenmacher, der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und der Vorsitzende des Prüfungsausschusses bei ProSiebenSat.1 sowie der ehemalige Vorsitzende der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, dessen Aufsichtsratsmandat erst mit dem Ablauf der Hauptversammlung 2025 endet. An Nonnenmachers Stelle soll nach dem Vorschlag der MFE Simone Scettri, ein italienischer Wirtschaftsprüfer, treten.

Die MFE begründet ihr Verlangen damit, dass Nonnenmacher in einem Zeitraum Aufsichtsratsmitglied und Prüfungsausschussvorsitzender war, auf den sich eine durch den Aufsichtsrat in Auftrag gegebene interne Untersuchung wegen möglicher Compliance-Vorfälle in Tochtergesellschaften erstreckt. Dadurch könne Nonnenmacher gerade als Vorsitzender des Prüfungsausschusses zumindest potenziell von der Untersuchung betroffen sein, so dass eine Interessenkollision nicht ausgeschlossen sei. Ein denkbarer Interessenkonflikt, der eine freie Amtsführung beeinträchtigen könne, sei vorsorglich zu vermeiden. Der Aufsichtsrat schlägt der Hauptversammlung vor, gegen die Abberufung von Nonnenmacher und die Wahl von Scettri zu stimmen, und verweist dabei zum einen auf die überlegende Qualifikation von Nonnenmacher, zum anderen auf mögliche Interessenkonflikte von Scettri, der in Italien für Ernst & Young (EY) tätig war; EY Deutschland habe als Abschlussprüfer der ProSiebenSat.1-Gruppe den von MFE ins Spiel gebrachten Compliance-Vorfall nicht beanstandet.

Um ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, muss die Hauptversammlung einen Beschluss fassen, der nach der gesetzlichen Grundregel in § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG einer Mehrheit von drei Viertel der abgegebenen Stimmen bedarf; sachliche Anforderungen – etwa das Vorliegen eines wichtigen Grundes – stellt § 103 Abs. 1 AktG nicht auf (s. Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 3 f.). Indes sieht § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 vor, dass Hauptversammlungsbeschlüsse mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften oder die Satzung etwas anderes vorschreiben. § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG lässt es zu, dass die Satzung eine andere Mehrheit bestimmt. Dabei kann das Mehrheitserfordernis abgesenkt werden, so dass für die Abberufung eine einfache Stimmenmehrheit des § 133 AktG genügt (Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 5; Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Ausreichend ist eine Satzungsklausel, die wie § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 generell, also für alle Hauptversammlungsbeschlüsse, gilt (s. Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Eine Satzungsregelung, die hinsichtlich der Aufsichtsratsabberufung eine von § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 abweichende Mehrheit vorschreibt, liegt nicht vor.

Aus dem Zusammenspiel zwischen § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 und § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG folgt, dass die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 die Abberufung von Nonnenmacher mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen kann. Ob diese Mehrheit erreicht wird, lässt sich freilich noch nicht sicher vorhersagen. Die Hauptversammlungspräsenzen der ProSiebenSat.1 lagen in den Jahren 2021 bis 2023 bei ca. 52% bis 57%. Wird sich die Beteiligungsquote auch 2024 in dieser Größenordnung bewegen, ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die MFE mit ihrem Stimmenanteil von ca. 27% die Abberufung von Nonnenmacher im Alleingang beschließen kann. Es kann aber auch sein, dass sie die alleinige einfache Mehrheit (knapp) verfehlt und auf die Stimmen anderer Aktionäre angewiesen sein wird. Ob die PPF den Vorstoß unterstützen wird und wie sich die Stimmrechtsberater positionieren, ist nicht überliefert. Die Hauptversammlung 2023 hat Nonnenmacher mit 95,73% der abgegebenen gültigen Stimmen bei einer Beteiligung von 54,79% des eingetragenen Grundkapitals entlastet. Es bleibt abzuwarten, wie viele Aktionäre 2024 der Argumentation von MFE folgen, Nonnenmacher im Rahmen des Abberufungsbeschlusses ihr Misstrauen aussprechen und die weitere Umbildung des Aufsichtsrats vorantreiben.

Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten

Für viel Diskussionsstoff sorgt zudem das Ergänzungsverlangen der MFE zur Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten. Auch insoweit ist die Hauptversammlung zuständig (s. § 83 Abs. 1 AktG und § 125 UmwG i.V.m. §§ 13, 63 ff. UmwG), so dass die ProSiebenSat.1 nicht umhinkam, die Tagesordnung gem. § 122 Abs. 2 AktG wie von MFE verlangt zu ergänzen und die Ergänzung gem. § 124 Abs. 1 AktG bekanntzumachen. In rechtstechnischer Hinsicht erinnert das Vorgehen der MFE an den (gescheiterten) Brownspinning-Versuch der Enkraft Capital GmbH bei der RWE AG (s. dazu Fuhrmann/Döding, AG 2022, R168). Überdies ist der Vorstoß im Lichte der Entwicklungen zu sehen, die auch in anderen Marktbereichen zu beobachten sind: So haben etwa die Volkswagen AG mit Traton SE, die Daimler AG (heute Mercedes-Benz Group AG) mit Daimler Truck Holding AG und die Siemens AG mit der Siemens Healthineers AG sowie der Siemens Energy AG die früheren Unternehmenssparten als eigenständige Unternehmen an die Börse gebracht. Ein ähnlicher Schritt steht seit längerer Zeit bei Thyssenkrupp AG in der Diskussion.

Derzeit lässt sich die Unternehmensstruktur von ProSiebenSat.1 in drei Segmente unterteilen: Entertainment, Commerce & Ventures und Dating & Video. Die Abspaltung soll sich auf die letzten beiden Segmente erstrecken, die nach dem Vorschlag von MFE von eigenständigen – bestehenden oder neu zu gründenden – Rechtsträger geführt werden sollen. Diese Rechtsträgen sollen börsennotiert sein, so dass sie als Aktiengesellschaften organisiert sein müssten. Der Aktionärskreis von ProSiebenSat.1 und der neuen Gesellschaften soll im Ausgangspunkt identisch sein; eine Konzernstruktur soll also – anders als bei Volkswagen, Daimler und Siemens – nicht entstehen. Der Beschlussvorschlag lässt dem Vorstand der ProSiebenSat.1 aber die Möglichkeit offen, von der Vorbereitung der Abspaltung abzusehen und sich von den Segmenten Commerce & Ventures und Dating & Video auf eine andere Art und Weise – etwa durch einen Verkauf – zu trennen. Begleitet wird das Ergänzungsverlangen durch den Vorschlag, das genehmigte Kapital neu zu gestalten (s. dazu auch den Vorstandsbericht) und die in der Satzung verankerten Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen ab einer gewissen Schwelle zu erweitern.

Die MFE will erreichen, dass sich die ProSiebenSat.1 künftig nur noch auf das Segment Entertainment fokussiert. Die Zusammensetzung der ProSiebenSat.1 als ein Konglomeratunternehmen bringt nach der Einschätzung der MFE zu wenige Synergievorteile mit sich; zudem ist sie mit zu vielen Nachteilen verbunden. Vor diesem Hintergrund soll es für die einzelnen Segmente vorteilhafter sein, als selbständige Unternehmen mit einer eigenen „Equity Story“ am Markt zu agieren. Die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 weisen diese Argumente zurück. Sie empfehlen keine Abspaltung und wollen sich auf eine wertmaximierende Veräußerung der beiden Segmente fokussieren, die vorbehaltlich der Marktbedingungen über die nächsten 12 bis 18 Monate erfolgen soll.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass sich die MFE und die Verwaltungsorgane in der Sache einig sind: Die ProSiebenSat.1 soll sich über kurz oder lang von den Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video trennen. Während eine Einigkeit über das „Ob“ herrscht, gehen die Meinungen über das „Wie“ auseinander: Die Verwaltungsorgane setzen allein auf einen Verkauf der beiden Segmente, der (liquide) Mittel in die Unternehmenskasse spülen würden. Die MFE hält eine solche Maßnahme an sich für sinnvoll, will aber die Trennung auch dann auf umwandlungsrechtlichem Wege vollziehen, wenn der Verkauf nicht gelingen sollte. Für den Großaktionär steht demnach nicht die Verbesserung der Kassenlage, sondern die strategische Neuausrichtung von ProSiebenSat.1 im Vordergrund: Die Abspaltung führt – anders als der Verkauf – nicht zu einem Mittelzufluss bei ProSiebenSat.1. Beschließt die Hauptversammlung 2024 wie von der MFE vorgeschlagen, wächst der Druck auf den Vorstand der ProSiebenSat.1, den Verkauf möglichst zeitnah abzuwickeln, um seine Vorstellungen von den Trennungsmodalitäten durchzusetzen.

Allerdings sind die aktienrechtlichen Hürden für die Beschlussfassung hoch: Nach § 83 Abs. 1 Satz 3 AktG bedarf der Beschluss der Mehrheit, die für die Maßnahme – also für die Abspaltung – erforderlich ist, also gem. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG „einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt.“ Wie bei der Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hängt der Erfolg der Maßnahme vom Abstimmungsverhalten der PPF und der Streubesitzaktionäre ab; eine bedeutende Rolle dürfte die Positionierung der Stimmrechtsberater spielen. In inhaltlicher Hinsicht sind die Aktionäre in ihrem Abstimmungsverhalten weitgehend frei: Die Festlegung der Trennungsmodalitäten ist eine unternehmerische Entscheidung, so dass die Hauptversammlung einen breiten Ermessensspielraum genießt. Ihre Entscheidung dürfte kaum wegen Inhaltsfehler angreifbar sein.

Fasst die Hauptversammlung den Beschluss mit der qualifizierten Mehrheit des § 83 Abs. 1 AktG i.V.m. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG, ist die Abspaltung noch nicht ausgemacht. Der Vorstand der ProSiebenSat.1 hätte nach wie vor die Option, die Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video zu verkaufen. Auch wenn der Verkauf misslingt, ist die Abspaltung nicht sicher. In einem solchen Fall muss der Vorstand „lediglich“ den Spaltungs- und Übernahmevertrag vorbereiten, über den die Hauptversammlung 2025 nach Maßgabe der §§ 125, 13, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG zu beschließen hat; erforderlich ist wiederum eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit. Der Weg zur Spaltung ist also noch weit.

Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes? (Teil 2 – Deep Dive)

In einem Blog-Beitrag v. 13.2.2024 haben sich die Autoren zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes geäußert. In diesem Beitrag gehen die Autoren noch näher auf die Entscheidungsgrundlage und -möglichkeiten der betroffenen Unternehmen ein – insbesondere warum der „Vorratsbeschluss“ das Mittel der Wahl sein kann.

Nichtstun und hoffen oder Vorratsbeschluss? – das ist die Frage, die sich derzeit zahlreiche große börsennotierte Unternehmen im Hinblick auf ihre diesjährige Hauptversammlung stellen. Große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern, die in den nächsten Wochen – und damit noch vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes – ihre Hauptversammlung einberufen werden, stehen vor der Frage, ob sie die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch auf die Tagesordnung ihrer Hauptversammlung setzen oder später eine entsprechende gerichtliche Bestellung beantragen sollten (siehe hierzu den Blog-Beitrag v. 13.2.2024).

1. Die Krux und die Vertrauensfrage für Unternehmen

Die Krux für die betroffenen Unternehmen ist wie folgt:

  • Wenn die Hauptversammlung keinen (Vorrats-)Beschluss über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts fasst und der Gesetzgeber keine taugliche Übergangsregelung schafft, dann müsste der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts gerichtlich bestellt werden. Ein solcher Antrag könnte – de lege lata und so wie es auch die derzeitige unveröffentlichte Fassung des Referentenentwurfs des CSRD-Umsetzungsgesetzes vorsieht – erst nach dem Ablauf des Geschäftsjahres 2024 gestellt werden (vgl. § 318 Abs. 4 HGB, § 324d HGB-E) und es wäre möglich, dass das Gericht sehr spät etwa erst im März 2025 hierüber entscheidet und ggf. sogar nicht dem Kandidatenvorschlag des Vorstands folgt, sondern einen anderen WP oder eine andere WPG zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts bestellt. Da der (Konzern-)Nachhaltigkeitsbericht Bestandteil des (Konzern-)Lageberichts sein wird, bestünde auch das Risiko, dass die Rechnungslegungsunterlagen nicht mehr innerhalb der 90-Tagesfrist (vgl. Empfehlung F.2 DCGK) offengelegt werden können und ggf. sogar die 4-Monatsfrist zur Übermittlung an das Unternehmensregister (vgl. § 325 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 und Abs. 1a HGB) nicht eingehalten werden kann.
  • Bei einem Vorratsbeschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts wäre hingegen – wie bei allen HV-Beschlüssen – nicht ausgeschlossen, dass ein Aktionär diesen mit einer Nichtigkeits- und/oder Anfechtungsklage angreift. Bei der im Blog-Beitrag v. 13.2.2024 vorgeschlagenen Ausgestaltung des Hauptversammlungsbeschusses dürften allerdings sowohl das Risiko einer solchen Klageerhebung als auch die Erfolgsaussichten einer Beschlussmängelklage sehr gering sein. Sollte tatsächlich eine Beschlussmängelklage gegen den Hauptversammlungsbeschluss erhoben werden, dann wäre zudem nach der Gerichtspraxis und der h.M. eine gerichtliche Bestellung des Prüfers während der anhängigen Beschlussmängelklage möglich. Eine solche (absichernde) gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts könnte sich aber auch erübrigen, falls der Gesetzgeber (noch) eine Übergangsregelung vorsehen sollte, wonach der Abschlussprüfer als der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 gilt, soweit die Hauptversammlung bei diesem Bestellungsbeschluss nichts Abweichendes beschließt. Sollte eine dann noch anhängige Beschlussmängelklage wider (jegliches) Erwarten durchgreifen und den Hauptversammlungsbeschluss rückwirkend beseitigen, so hätte dies (wenn überhaupt) wohl nur geringe Folgen für die Reputation der Gesellschaft, da der Vorratsbeschluss und die Bestellung eines Nachhaltigkeitsprüfers im wohlverstandenen Unternehmensinteresse und ganz im Sinne der Aktionärsdemokratie erfolgten. Und schließlich bestünde zudem die Möglichkeit, den Tagesordnungspunkt betreffend die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Beginn der Hauptversammlung noch abzusetzen, wenn das Gesetzgebungsverfahren eine Übergangsregelung erwarten lässt, die eine entsprechende Beschlussfassung der Hauptversammlung obsolet werden ließe. Mit einem Vorratsbeschluss auf der Tagesordnung würde die Gesellschaft also auch Zeit gewinnen, um dann hoffentlich in der komfortableren Situation zu sein, nicht blind auf eine taugliche Übergangsregelung des Gesetzgebers zu hoffen.

Wie sich betroffene Unternehmen entscheiden, ist daher letzten Endes auch eine gewisse Frage des Vertrauens in die Arbeit des Gesetzgebers und der Registergerichte, nämlich zum einen ob der Gesetzgeber eine taugliche Übergangsregelung für die (erstmalige) Bestellung des Prüfers in Bezug auf den Nachhaltigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 2024 schafft und, falls nicht, ob das jeweils zuständige Registergericht den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zügig und gemäß dem Antrag des Vorstands bestellt. Bei Zweifeln und entsprechender Folgenabschätzung kann auch ein sorgfältig zu gestaltender Vorratsbeschluss das Mittel der Wahl sein (siehe hierzu den Formulierungsvorschlag im Blog-Beitrag v. 13.2.2024) – zumal man sich anderenfalls ggf. der Frage von Aktionären, Stimmrechtsberatern und institutionellen Investoren stellen muss, warum man die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts gerade nicht auf die Tagesordnung gesetzt hat und nicht die Aktionäre hierüber entscheiden lässt.

2. Warum der „Vorratsbeschluss“ das Mittel der Wahl sein kann

Die Nichtigkeitsgründe für Hauptversammlungsbeschlüsse sind im Interesse der Rechtssicherheit im Gesetz abschließend geregelt (vgl. § 241 AktG: „nur dann nichtig, wenn“). Ungeschriebene Nichtigkeitsgründe gibt es nicht (Ehmann in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 241 AktG Rz. 10). Die Nichtigkeitsfolge ist damit im Beschlussmängelrecht die Ausnahme.

Gemäß § 241 Nr. 3 AktG ist ein Hauptversammlungsbeschluss nur dann nichtig, wenn er mit dem Wesen der Aktiengesellschaft nicht zu vereinbaren ist oder durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutze der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind. Der Tatbestand des § 241 Nr. 3 AktG ist von einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe geprägt und es gibt insbesondere keine allgemein akzeptierte Definition dessen, was das „Wesen der Aktiengesellschaft“ ausmacht (vgl. Austmann in MünchHdb/AG, 5. Aufl. 2020, § 42 Rz. 12). Der BGH spricht von den „Grundprinzipien des Aktienrechts“, ohne allerdings erkennen zu lassen, welche der drei Tatbestandsvarianten des § 241 Nr. 3 AktG er dabei im Blick hat (BGH. 20.9.2004 – II ZR 288/02, NJW 2004, 3561, 3562 = AG 2004, 673). Nach dem OLG München liegt ein Verstoß gegen das Wesen der AG vor, „wenn gegen einen fundamentalen Grundsatz des aktuell geltenden Aktienrechts verstoßen wird, der nicht bereits durch eine speziellere Regelung geschützt bzw. sanktioniert wird und dieser Verstoß auch unter Berücksichtigung der Wertung des Gesetzgebers, wonach die Nichtigkeit die Ausnahme eines Rechtsverstoßes darstellt, die Nichtigkeit nach sich ziehen soll“ (OLG München v. 14.11.2012 – 7 AktG 2/12, NZG 2013, 459, 461 = AG 2013, 173).

Nichtig wegen Verstoßes gegen das Wesen der Aktiengesellschaft sind nach h.M. kompetenzüberschreitende Hauptversammlungsbeschlüsse, die in die Zuständigkeit eines anderen Gesellschaftsorgans eingreifen (vgl. Englisch in Hölters/Weber, 4. Aufl. 2022, § 241 AktG Rz. 66: „Angelegenheit ausschließlich der Kompetenz eines anderen Organs zugeordnet“; Ehmann in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 241 AktG Rz. 16: „Verletzung der aktienrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen den Organen“; Drescher in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 241 AktG Rz. 238: „Beschluss fällt in die ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Organs“; Koch, ZHR 182 [2018], 378, 389 f.: „Kompetenzverletzungen zu Lasten anderer Gesellschaftsorgane“; hingegen weniger deutlich, aber i.E. auch Koch, 17. Aufl. 2023, § 241 AktG Rz. 17; Schäfer in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 241 AktG Rz. 62).

Unseres Erachtens greift ein Beschluss der Hauptversammlung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes nicht in die Kompetenz eines anderen Gesellschaftsorgans ein. Der Aufsichtsrat ist weder nach derzeitiger Rechtslage noch nach Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes dafür zuständig, den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu bestellen. De lege lata ist der Aufsichtsrat zwar befugt, eine (freiwillige) externe inhaltliche Überprüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. §§ 289b, 315b HGB zu beauftragen (vgl. § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG) – eine Befugnis, über die der Aufsichtsrat im Übrigen (nur) verfügt, weil der von der Hauptversammlung zu bestellende Abschlussprüfer keine (verpflichtende) inhaltliche Prüfung der nichtfinanziellen Berichterstattung vornimmt (vgl. § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB). Um den Prüfer der nichtfinanziellen Berichterstattung geht es aber vorliegend nicht, sondern um den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts im Sinne der CSRD, für den die CSRD eine externe Prüfung durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen sog. unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen vorsieht.

Wenn man die Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses – abseits eines Eingriffs in die Kompetenz eines anderen Gesellschaftsorgans – allein damit begründen wollte, dass die Hauptversammlung zum Zeitpunkt der Beschlussfassung (noch) nicht über die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts verfügt, weil sie ihr im Gesetz (bislang) nicht (ausdrücklich) zugeordnet ist (vgl. § 119 Abs. 1 AktG), wäre dies wegen des Ausnahmecharakters der Nichtigkeit sehr fraglich und unseres Erachtens nicht ausreichend.

Damit käme allenfalls eine Anfechtungsklage wegen vermeintlicher Unzuständigkeit der Hauptversammlung für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes infrage.

Dagegen könnte allerdings argumentiert werden, dass die für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständige Hauptversammlung (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG) erst recht auch für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zuständig sein muss (argumentum a maiore ad minus). Denn wenn die Hauptversammlung bereits für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständig ist und der Abschlussprüfer auch den Lagebericht prüfen muss (vgl. § 316 Abs. 1 HGB), der zukünftig um den Nachhaltigkeitsbericht als weiteren prüfungspflichtigen Gegenstand zu erweitern ist, dann muss – in dem (starren) Organisationsgefüge bestehend aus Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung – dieser Hauptversammlungsbefugnis auch die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts immanent sein.

Darüber hinaus kann das Risiko einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage dadurch minimiert werden, dass der Hauptversammlungsbeschluss über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts (i) mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gefasst wird und (ii) seine Durchführung nur für den Fall angeordnet wird, dass ein für das Geschäftsjahr 2024 zu erstellender Nachhaltigkeitsbericht extern durch einen von der Hauptversammlung zu bestellenden Prüfer zu prüfen ist (siehe hierzu den Formulierungsvorschlag im Blog-Beitrag v. 13.2.2024).

Der Beschluss wird also nur wirksam, wenn das CSRD-Umsetzungsgesetz in Kraft tritt und die entsprechende Bestellungskompetenz der Hauptversammlung ausdrücklich zuweist; ansonsten entfaltet der Beschluss keinerlei Rechtswirkungen. Eine Kompetenzüberschreitung durch die Hauptversammlung wäre daher unseres Erachtens fernliegend. Zudem ist mit einer solchen Ausgestaltung des Beschlusses auch dessen Vereinbarkeit mit der Rechtslage nach dem CSRD-Umsetzungsgesetz sichergestellt.

Darüber hinaus kann der Beschluss während der Schwebezeit bis zum Eintritt der Wirksamkeitsvoraussetzung auch nicht mit einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage angegriffen werden (Schäfer in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 241 AktG Rz. 16; Austmann in MünchHdb/AG, 5. Aufl. 2020, § 42 Rz. 13).

Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die Hauptversammlung 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes? (Teil 1 – Intro)

Der Beitrag wurde am 15.2.2024 aktualisiert und ergänzt. In einem weiteren Blog-Beitrag v. 15.2.2024 (Deep Dive) gehen die Autoren noch näher auf die Entscheidungsgrundlage und -möglichkeiten der betroffenen Unternehmen ein – insbesondere warum der Vorratsbeschluss das Mittel der Wahl sein kann.

Nach der am 5.1.2023 in Kraft getretenen Corporate Sustainability Reporting Directive („CSRD“) müssen große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern bereits für nach dem 31.12.2023 beginnende Geschäftsjahre ihren Lagebericht um einen Nachhaltigkeitsbericht erweitern, der extern durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen sog. unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen zu prüfen ist. Damit müssen also Unternehmen, die bereits heute der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. § 289b Abs. 1, § 315b Abs. 1 HGB unterliegen, erstmals für das Geschäftsjahr 2024 einen Nachhaltigkeitsbericht aufstellen und extern prüfen lassen. Im ersten Quartal 2025 werden somit die ersten Nachhaltigkeitsberichte veröffentlicht. Die Mitgliedstaaten haben die CSRD bis zum 6.7.2024 in nationales Recht umzusetzen.

I. Gesetzgebungsverfahren und seine Folgen für die HV-Saison 2024

Mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der CSRD in deutsches Recht („RefE“) ist in Kürze zu rechnen. Die derzeit in der Ressortabstimmung befindliche (unveröffentlichte) Fassung des RefE vom 11.12.2023 sieht vor, dass der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts nicht zwingend der Abschlussprüfer des Jahres- bzw. Konzernabschlusses sein muss, sondern auch ein anderer Wirtschaftsprüfer („WP“) bzw. eine andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaft („WPG“) sein kann. Eine Übergangsregelung für die (erstmalige) Bestellung des Prüfers in Bezug auf den Nachhaltigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 2024 sieht die Entwurfsfassung des RefE nicht vor.

Zahlreiche Unternehmen, die in den nächsten Wochen – und damit noch vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes – ihre Hauptversammlung einberufen werden, stehen daher vor der Frage, ob sie die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch auf die Tagesordnung ihrer Hauptversammlung setzen sollten. Eine spätere Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch eine weitere (außerordentliche) Hauptversammlung nach Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes scheidet schon aus Kostengründen aus, so dass der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts gerichtlich bestellt werden müsste.

1. Gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts

Wird der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 nicht durch die Hauptversammlung gewählt, müsste er auf Antrag durch das zuständige Gericht bestellt werden. Falls das CSRD-Umsetzungsgesetz die für die gerichtliche Bestellung des Abschlussprüfers geltende Regelung des § 318 Abs. 4 HGB für entsprechend anwendbar erklärt (wie in der derzeitigen Entwurfsfassung des RefE vorgesehen), würde dies insbesondere zweierlei bedeuten:

a) Der Antrag auf gerichtliche Bestellung könnte erst nach dem Ablauf des Geschäftsjahres 2024 gestellt werden – und zwar selbst dann, wenn bereits vorher abzusehen ist, dass die Hauptversammlung den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts nicht mehr vor dem Geschäftsjahresende wählen wird (h.M., z.B. Justenhoven/Heinz in BeckBilanzKomm, 13. Aufl. 2022, § 318 HGB Rz. 111 m.w.N.; a.A. etwa Mylich in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, 4. Aufl. 2024, § 318 HGB Rz. 156). Bis das zuständige Registergericht am Sitz der Gesellschaft über den Antrag entscheidet, können ggf. mehrere Wochen vergehen (s.u. b)), so dass eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts etwa auch erst im März 2025 nicht ausgeschlossen wäre.

b) Neben dem zur Antragstellung berechtigten und verpflichten Vorstand und dem antragsbefugten Aufsichtsrat könnte auch jeder Aktionär beim zuständigen Registergericht am Sitz der Gesellschaft einen Antrag auf Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts stellen und für den WP bzw. die WPG entsprechende Vorschläge unterbreiten. Solche Aktionärsanträge würden nicht nur das gerichtliche Bestellungsverfahren in die Länge ziehen, sondern hätten aus Sicht des Vorstands zudem das Risiko, dass das Gericht bei der Auswahl des Prüfers nicht seinem Vorschlag folgt. Denn das Gericht ist auch an die Vorschläge der Verwaltungsorgane nicht gebunden, und zwar selbst dann, wenn beantragt wird, dass die WPG, welche die Abschlussprüfung bereits durchführt, auch die Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung übernimmt.

Vor diesem Hintergrund wäre für das CSRD-Umsetzungsgesetz eine Übergangsregelung wünschenswert, die eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsbericht 2024 bereits vor dem Ende des Geschäftsjahrs 2024 gestattet und die Aktionäre von den Antragsberechtigten ausnimmt, etwa wie folgt:

„Ist der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das zum 31.12.2024 endende Geschäftsjahr bis zum Ablauf des 31.8.2024 noch nicht gewählt worden, so hat das Gericht auf Antrag des Vorstands oder Aufsichtsrats den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu bestellen.“

Noch vorzugswürdiger wäre eine Übergangsregelung, wonach der Abschlussprüfer als der Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 gilt, soweit die Hauptversammlung bei diesem Bestellungsbeschluss nichts Abweichendes beschließt.

Da sich Unternehmen kaum auf die Einführung einer solchen Übergangsregelung werden verlassen können, gilt es folgende Handlungsoption zu erwägen:

2. Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die HV 2024 vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes

Sollten also die betroffenen Unternehmen die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bereits vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes von ihrer Hauptversammlung beschließen lassen und damit schon vor Abschluss des erst noch einzuleitenden Gesetzgebungsverfahrens auf die Tagesordnung ihrer HV-Einberufung setzen?

Gegen die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts durch die Hauptversammlung vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes könnte vorgebracht werden, dass die Hauptversammlung zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts verfügt. Denn nach § 119 Abs. 1 AktG beschließt die Hauptversammlung (nur) in den im Gesetz und in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen; bis zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gehört aber die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts noch nicht zu den (ausdrücklichen) Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung, sondern (lediglich) die Bestellung des Abschlussprüfers (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG).

Dieser Argumentation könnte jedoch wiederum entgegengehalten werden, dass die für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständige Hauptversammlung erst recht auch für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zuständig sein muss (argumentum a maiore ad minus). Denn wenn die Hauptversammlung bereits für die Bestellung des Abschlussprüfers zuständig ist und der Abschlussprüfer auch den Lagebericht prüfen muss (vgl. § 316 Abs. 1 HGB), der zukünftig um den Nachhaltigkeitsbericht als weiteren prüfungspflichtigen Gegenstand zu erweitern ist, dann muss – in dem (starren) Organisationsgefüge bestehend aus Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung – dieser Hauptversammlungsbefugnis auch die Kompetenz zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts immanent sein.

Darüber hinaus würde eine vermeintliche Unzuständigkeit der Hauptversammlung für die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes (lediglich) zur Anfechtbarkeit des Beschlusses führen, also nicht seine Nichtigkeit begründen (vgl. § 241, § 243 Abs. 1 AktG). Und falls dann überhaupt eine Anfechtungsklage innerhalb der Einmonatsfrist erhoben werden sollte, dürfte hier die Gerichtspraxis in der Weise helfen, dass bei einer anhängigen Anfechtungsklage analog § 318 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 HGB eine gerichtliche Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts zulässig wäre, und zwar auch schon vor Abschluss des Geschäftsjahres (OLG Karlsruhe v. 27.10.2015 – 11 Wx 87/15, AG 2016, 42 ff.; Koch, 17. Aufl. 2023, § 243 AktG Rz. 44f m.w.N.).

Schließlich könnte dem möglichen Vorbringen der (einstweiligen) Unzulässigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses, mit dem die den Jahresabschluss zum 31.12.2024 prüfende WPG auch zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 bestellt wird, dadurch begegnet werden, dass der Hauptversammlungsbeschluss mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes gefasst wird.

Vor dem Hintergrund aber, dass sich das Risiko einer Anfechtungsklage nicht vollständig ausschließen lässt, sollte die Beschlussfassung über die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 aus Vorsichtsgründen als separater Tagesordnungspunkt mit Beschlussvorschlag des Aufsichtsrats aufgenommen werden. Denn dann dürften sogar Berufskläger kaum geneigt sein, eine Anfechtungsklage wegen vermeintlicher Unzuständigkeit der Hauptversammlung zu erheben, weil der gesonderte (Standard-)Hauptversammlungsbeschluss über die Bestellung des Abschlussprüfers davon unberührt bliebe. Wenn dem nicht so wäre, d.h. bei einer einheitlichen Beschlussfassung über die Bestellung des Abschlussprüfers und des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts, hätten die Kläger ein höheres Drohpotenzial, da die möglichen Folgen einer erfolgreichen Wahlanfechtung von der Nichtigkeit des Jahresabschlusses bis zur drohenden Rückabwicklung von Dividendenzahlungen reichen.

Im Falle eines – zu empfehlenden – gesonderten Tagesordnungspunkts bestünde zudem die Möglichkeit, den Tagesordnungspunkt betreffend die Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts bis zum Beginn der Hauptversammlung wieder abzusetzen. Eine Absetzung des Tagesordnungspunkts könnte z.B. in Betracht kommen, wenn das Gesetzgebungsverfahren eine Übergangsregelung erwarten lässt, die eine entsprechende Beschlussfassung der Hauptversammlung obsolet werden ließe.

II. Vorschlag für den Tagesordnungspunkt und Beschlussvorschlag zur Bestellung des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts in der HV-Einberufung vor Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes

[•]. Beschlussfassung über die Wahl des Prüfers des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024

Nach der am 5.1.2023 in Kraft getretenen Corporate Sustainability Reporting Directive  („CSRD“) müssen große kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern bereits für nach dem 31.12.2023 beginnende Geschäftsjahre ihren (Konzern-)Lagebericht um einen (Konzern-)Nachhaltigkeitsbericht erweitern, der extern durch den Abschlussprüfer oder – nach Wahlmöglichkeit des jeweiligen Mitgliedstaats – einen anderen (Abschluss-)Prüfer oder einen unabhängigen Erbringer von Bestätigungsleistungen zu prüfen ist. Damit müssen also Unternehmen, die wie die [Firma der Gesellschaft] bereits heute der nichtfinanziellen Berichterstattung i.S.d. § 289b Abs. 1, § 315b Abs. 1 HGB unterliegen, erstmals für das Geschäftsjahr 2024 einen Nachhaltigkeitsbericht für die Gesellschaft und den Konzern aufstellen und extern prüfen lassen.

Die EU-Mitgliedstaaten haben die CSRD bis zum 6.7.2024 in nationales Recht umzusetzen. Es ist somit davon auszugehen, dass der deutsche Gesetzgeber ein Gesetz zur Umsetzung der CSRD in deutsches Recht („CSRD-Umsetzungsgesetz“) verabschieden und das CSRD-Umsetzungsgesetz bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist in Kraft treten wird. [ggf. Ausführungen zum aktuellen Stand des Gesetzgebungsverfahren ergänzen]

Der Aufsichtsrat der Gesellschaft schlägt daher – gestützt auf die Empfehlung seines Prüfungsausschusses – vor, die [Wirtschaftsprüfungsgesellschaft], [Sitz], Zweigniederlassung [Ort], mit Wirkung zum Inkrafttreten des CSRD-Umsetzungsgesetzes zum Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts für das Geschäftsjahr 2024 zu wählen. Der Beschluss kommt nur zur Durchführung, wenn nach dem CSRD-Umsetzungsgesetz ein für das Geschäftsjahr 2024 zu erstellender Nachhaltigkeitsbericht extern durch einen von der Hauptversammlung zu bestellenden Prüfer zu prüfen ist.

Der Prüfungsausschuss hat in seiner Empfehlung gemäß Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 3 der EU-Abschlussprüferverordnung (Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission) erklärt, dass diese frei von ungebührlicher Einflussnahme durch Dritte ist und ihm keine die Auswahlmöglichkeiten der Hauptversammlung beschränkende Klausel der in Art. 16 Abs. 6 der EU-Abschlussprüfungsverordnung genannten Art auferlegt wurde.

Abschließend noch ein Hinweis zur Vorbereitung eines solchen „Vorratsbeschlusses“: Der Prüfungsausschuss ist nicht verpflichtet (etwa abgeleitet aus Art. 16 Abs. 2 UAbs. 2 Abschlussprüferverordnung – „AP-VO“), dem Aufsichtsrat zwei Vorschläge für den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts zu unterbreiten. Die AP-VO gilt (nur) für Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften, die bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (PIEs) Abschlussprüfungen durchführen. Mit der CSRD ist die AP-VO nur marginal dahingehend angepasst worden, dass auch bestimmte Nichtprüfungsleistungen verboten sind, wenn der Abschlussprüfer die Prüfung des Nachhaltigkeitsberichts durchführt. In der CSRD ist insbesondere auch keine Vorgabe vorgesehen, dass für den Prüfer des Nachhaltigkeitsberichts eine vorherige Ausschreibung erforderlich ist, welche gewissermaßen die Grundlage für zwei Vorschläge des Prüfungsausschusses an den Aufsichtsrat bilden würde.

Zukunftsfinanzierungsgesetz: Änderungen im Parlament

Nach dem Eckpunktepapier vom Juni 2022 (s. etwa Kuthe, AG 2022, R208), dem Referentenentwurf vom April 2023 (dazu u.a. Harnos, AG 2023, 348; Joser, ZIP 2023, 1006; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 1077) und dem Regierungsentwurf vom August 2023 (hierzu u.a. Kuthe/Reiff, AG 2023, R308; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292) hat der Bundestag am 17.11.2023 das Zukunftsfinanzierungsgesetz beschlossen und dabei einige Änderungen vorgenommen, die auf Vorarbeiten des Finanzausschusses zurückgehen (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363). Nun steht das ZuFinG auf der Tagesordnung der 1038. Bundesratssitzung am 24.11.2023 (TOP 58). Die Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf werden im Folgenden dargestellt.

Aktienrecht

Die Neuregelungen der Mehrstimmrechtsaktie, eAktie und SPACs haben das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren weitgehend unverändert verlassen. Die Änderungen, die der Finanzausschuss angestoßen hat, sind redaktioneller Natur:

  • Die Neuregelung in § 67 Abs. 1 Satz 7 AktG, der eine Informationsversorgung von Emittenten elektronischer Aktien sicherstellen soll (hierzu Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 109 f.), wird auf § 67 Abs. 1 Satz 2 AktG i.d.F. des MoPeG erstreckt. Damit sollen Emittenten elektronischer Aktien auch mit Informationen über Aktionäre, die eine juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft sind, versorgt werden (s. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung).
  • Im Vergleich zum Regierungsentwurf neu gefasst wurde § 12 Satz 2 AktG. Die Mehrstimmrechtsaktien sind darin nun vor den Vorzugsaktien genannt, was ausweislich des Ausschussberichts deutlich machen soll, dass die Mehrstimmrechtsaktie keine Unterart der Vorzugsaktie ist (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung; zur anderweitigen Deutung des § 12 Satz 2 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG s. von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292). Nach § 135a Abs. 4 AktG n.F. berechtigen – und nicht berechtigten – die Mehrstimmrechtsaktien bei Beschlüssen nach § 119 Abs. 1 Nr. 5, § 142 Abs. 1 AktG zu nur einer Stimme. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 WpHG n.F., der an § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG n.F. angelehnt ist, muss der Inlandsemittent bei einer Zu- oder Abnahme von Stimmrechten die Gesamtzahl der Stimmrechte unter Angabe der auf diese entfallenden Anzahl von Mehrstimmrechten veröffentlichen.

Auch im Bereich des Kapitalerhöhungsrechts bleiben einige Elemente des Regierungsentwurfs erhalten: Der Bundestag hat es bei der Anhebung der Wertgrenzen in § 186 Abs. 3 Satz 4, § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG n.F. belassen (dazu statt vieler Harnos, AG 2023, 348 Rz. 17 ff.) und auch nicht den Riegel des § 202 Abs. 1 Satz 2 AktG n.F. entfernt, wonach die Ausgabe von Mehrstimmrechtsaktien nicht im Rahmen des genehmigten Kapitals vorgesehen werden kann (hierzu etwa Kuthe/Reiff, AG 2023, R308, R309; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292, 2293). Größere Anpassungen inhaltlicher Art hat das parlamentarische Verfahren im Kontext des Wertverwässerungsschutzes gem. §§ 255 ff. AktG n.F. nach sich gezogen. Die Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf, die im Wesentlichen den Vorschlägen von Bungert/Strothotte, DB 2023, 2422, 2424 entsprechen, verringern aus der Perspektive der Emittenten und Inferenten die Hürden und Risiken bei Sachkapitalerhöhungen, führen aber auch zu einer spürbaren Absenkung des Aktionärsschutzniveaus:

  • Nach § 255 Abs. 2 und 4 AktG n.F. sollen die vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre auch in Fällen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses i.S.d. § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG n.F. weder den Kapitalerhöhungsbeschluss anfechten noch einen Barausgleich verlangen können. Dies soll augenscheinlich auch dann gelten, wenn der Börsenkurs – dem der Wert der neu geschaffenen Aktien gem. § 255 Abs. 5 Satz 1 AktG n.F. grundsätzlich entsprechen muss – gem. § 255 Abs. 5 Satz 3 AktG n.F., also bei Verletzung der Ad-hoc Pflicht (Nr. 1), Marktmanipulation (Nr. 2) oder Marktenge (Nr. 3), nicht allein maßgeblich ist und deshalb eine Unternehmensbewertung durchgeführt werden muss.
  • Überdies ist § 255 Abs. 4 Satz 3 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG weggefallen. Die Vor-schrift sah einen Freistellungsanspruch der gem. § 255 Abs. 4 Satz 2 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG barausgleichspflichtigen Gesellschaft gegen den neu eintretenden Aktionär vor.

Investmentrecht

Gemäß §§ 231, 260b, 261, 284 KAGB i.d.F. des RegE ZuFinG sollten Immobilienfonds zu Investitionen in Grundstücke ermächtigt werden, auf denen sich ausschließlich Erneuerbare-Energien-Anlagen befinden oder auf denen solche Anlagen alsbald errichtet werden sollen (Freiflächenanlagen). Zudem sollte die Zulässigkeit von Erwerb und Betrieb von mit Immobilien verbundenen Erneuerbare-Energien-Anlagen (Aufdachanlagen) und Ladeinfrastruktur für Elektromobilität sowie von Direktinvestitionen in Erneuerbare-Energien-Anlagen durch Infrastrukturfonds klargestellt werden. All diese Regelungen, die die Energiewende durch privates Kapital ankurbeln sollten (s. Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 154 ff.), wurden auf Vorschlag des Finanzausschusses gestrichen (vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung). Die Koalitionsfraktionen haben aber zu Protokoll erklärt, dass die Erweiterung der Investmentoptionen für Immobilienfonds im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2024 aufgegriffen werden soll (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 106 – Vorabfassung).

Bank- und Kapitalmarktrecht

Im Bereich des Crowdfunding hat der Bundestag die Neufassung der Regelungen über die Haftung für Angaben im Anlagebasisinformationsblatt in §§ 32c ff. WpHG, die namentlich auf Vermeidung der persönlichen Geschäftsleiteraußenhaftung bei Crowdfunding-Plattformbetreibern abzielen (im Einzelnen Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, S. 94), mit der neuen Übergangsregelung in § 143 WpHG flankiert. Damit hat er den zeitlichen Geltungsbereich der reformierten Haftungsvorschriften auf Fälle erstreckt, in denen das fehlerhafte Anlagebasisinformationsblatt vor dem Inkrafttreten des ZuFinG erstellt, der Crowdfunding-Vertrag aber nach dem Inkrafttreten abgeschlossen wurde (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung).

In Umsetzung des Koalitionsvertrags (vgl. dort S. 135) hat der Bundestag das Koppelungsverbot des § 492a BGB in einem neuen Abs. 1a auf Fälle erstreckt, in denen der Abschluss eines Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags vom Abschluss eines Restschuldversicherungsvertrags abhängig gemacht wird (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 126 – Vorabfassung). Flankiert wird diese Regelung durch die Neufassung des § 7a Abs. 5 VVG: Künftig darf ein Versicherer einen Restschuldversicherungsvertrag, der sich auf einen Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag bezieht, nur dann abschließen, wenn der Versicherungsnehmer die Vertragserklärung frühestens eine Woche nach Abschluss des Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags abgegeben hat (im Einzelnen BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 131 – Vorabfassung). Etwaige Verstöße gegen die neuen Verbotsgesetze führen nach § 492a Abs. 2 BGB n.F., § 7a Abs. 5 Satz 2 VVG n.F. zur Nichtigkeit des Restschuldversicherungsvertrags, nicht aber des Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags.

Mit den Änderungen der §§ 16 ff. ZKG n.F. wird das Konzept des zertifizierten privaten Betriebs von Vergleichswebseiten über Zahlungskontenentgelte aufgegeben. Künftig wird ausschließlich die BaFin eine Vergleichswebseite betreiben (vgl. auch BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung).

Die Bereichsausnahme für die AGB-Kontrolle in der Finanzbranche in § 310 Abs. 1a BGB n.F. wurde minimalinvasiv geändert: Nach dem Wortlaut des § 310 Abs. 1a Satz 1 BGB i.d.F. des RegE ZuFinG sollte die Bereichsausnahme eingreifen, wenn ein Vertragspartner eine Finanzdienstleistung i.S.d. § 310 Abs. 1a Satz 2 BGB n.F. rechtmäßig gewerbsmäßig tätigt. Nunmehr soll es darauf ankommen, ob der Vertragspartner die Finanzdienstleistung rechtmäßig gewerbsmäßig tätigen kann. Überdies wird der Kreis privilegierter Unternehmen in § 310 Abs. 1a Satz 4 Nr. 5 BGB n.F. auf Zentralbanken der EWR-Staaten und des Vereinigten Königreichs erweitert (s. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 126 – Vorabfassung).

Steuerrecht

Der Regierungsentwurf wollte die Leistungen im Zusammenhang mit der Verwaltung von Krediten und Kreditsicherheiten von der Umsatzsteuer befreien, um die Rahmenbedingungen für Konsortialführer an den Standard in den anderen EU-Mitgliedstaaten anzugleichen (Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 133), und schlug eine entsprechende Erweiterung des Ausnahmekatalogs in § 4 Nr. 8 UStG vor. Der Bundestag hat diese steuerlichen Erleichterungen für die Kreditbranche wegen der potenziellen finanziellen Auswirkungen und der angespannten Haushaltslage gestrichen (zum Entfall der Steuermindereinnahmen i.H.v. 100 Mio. € vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung). Spielte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des zweiten Nachtragshaushalts 2021 insoweit eine zentrale Rolle?

Überdies wollte die Ministerialbürokratie im Zuge des Zukunftsfinanzierungsgesetzes einige Hebel im Steuerrecht bewegen, um die Anreize für Aktieninvestitionen zu erhöhen (hierzu etwa Lay/Neubauer/Schäfer, AG 2023, R156 ff.): Bei Mitarbeiterkapitalbeteiligung sollte die Regelung zur Lösung des Dry-Income-Problems in § 19a EStG verbessert werden. Außerdem sollte der Freibetrag in § 3 Nr. 39 EStG i.d.F. des RegE ZuFinG von 1.440 € auf 5.000 € pro Kalenderjahr angehoben werden.

Der Bundestag hat die Dry-Income-Regelung nachjustiert. Nach § 19a Abs. 1 Satz 3 EStG n.F. gilt ein nicht steuerbarer Vorteil i.S.d. § 19a Abs. 1 Satz 1 EStG a.F. auch dann als zugeflossen, wenn es dem Arbeitnehmer rechtlich unmöglich ist, über die Vermögensbeteiligung zu verfügen. Mit dieser begrüßenswerten Änderung hat das Parlament auf den Umstand reagiert, dass Mitarbeiter von Start-ups in aller Regel mit vinkulierten Anteilen vergütet werden, was nach § 19a EStG a.F. dazu führte, dass sie nicht in den Genuss der aufgeschobenen Besteuerung kamen (vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 129 – Vorabfassung). Diese Änderung dürfte in der Tat die Aktienkultur fördern. Gegenläufig könnten sich indes weitere Änderungen des Einkommensteuerrechts gegenüber dem Regierungsentwurf auswirken:

– Die Nachversteuerungsfrist des § 19a Abs. 4 EStG wurde im Vergleich zum Regierungsentwurf von 20 auf 15 Jahre verkürzt.

– Die Konzernklausel, die noch in § 19a Abs. 1 Satz 3 EStG i.d.F. des RegE ZuFinG vorgesehen war, ist weggefallen. Damit genießen Arbeitnehmer, die nicht mit Anteilen des Arbeitgebers, sondern eines Konzernunternehmens i.S.d. § 18 AktG vergütet werden, keine steuerliche Privilegierung nach § 19a EStG.

– Der Freibetrag in § 3 Nr. 39 EStG wird auf lediglich 2.000 € angehoben. Auch insoweit könnte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des zweiten Nachtragshaushalts 2021 eine gewisse Rolle gespielt haben (zum Wegfall der Steuermindereinnahmen i.H.v. 225 Mio. € durch Absenkung des Freibetrags gegenüber dem Regierungsentwurf vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 129 – Vorabfassung).

Schließlich wird die Einkommensgrenze bei der Arbeitnehmer-Sparzulage für die Anlage der vermögenswirksamen Leistungen in Vermögensbeteiligungen und Bausparverträge nach § 13 Abs. 1 Satz 1 5. VermBG verdoppelt (40.000 € statt 20.000 € bei Einzelveranlagung und 80.000 € statt 40.000 € bei Zusammenveranlagung, vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 132 – Vorabfassung).

Baustellen im SPACs-Regime nach dem Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Im Blog-Beitrag v. 24.8.2023 hat Niklas Joser die Grundzüge der Börsenmantelaktiengesellschaft (BMAG) nach §§ 44 ff. BörsG-E erläutert und zugleich dargestellt, an welchen Stellen der Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes die Regelungsvorschläge aus dem Referentenentwurf nachgebessert hat. Auch wenn der Vorstoß der Bundesregierung, die deutsche AG durch punktuelle Modifikationen des Aktienrechts SPACs-fähig zu machen, generell zu begrüßen ist und die Nachbesserungen im Regierungsentwurf ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben doch einige Baustellen offen, die im Gesetzgebungsverfahren geschlossen werden sollten.

Baustelle 1: Konkretisierung des Vollständigkeitsbegriffs in § 44 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E

Der Gegenstand einer BMAG erstreckt sich gem. § 44 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E auf die Vorbereitung und den Abschluss einer Zieltransaktion. Nach § 44 Abs. 2 BörsG-E umfasst die Zieltransaktion sämtliche Erwerbsvorgänge einschließlich Umwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz, bei denen die BMAG mindestens drei Viertel der Anteile der Zielgesellschaft erwirbt (share deal) oder das Vermögen der Zielgesellschaft vollständig auf die Gesellschaft übergeht (asset deal). Für den letztgenannten Fall sollte der Gesetzgeber im Regelungswortlaut oder zumindest in den Materialien klarstellen, wann ein vollständiger Übergang des Vermögens der Zielgesellschaft auf die BMAG zu bejahen ist: Ist die Vollständigkeit wörtlich zu verstehen oder ist der Begriff in Anlehnung an die – durchaus umstrittenen – Grundsätze auszulegen, die im Kontext des § 179a Abs. 1 AktG entwickelt wurden (s. dazu Seibt in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 179a AktG Rz. 8)?

Baustelle 2: Konkretisierung des Durchführungsbegriffs in § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E

Nach § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E ist der Bestand der BMAG von der Durchführung der Zieltransaktion innerhalb der in der Satzung festgelegten Frist abhängig. Der Durchführungsbegriff ist konkretisierungsbedürftig, weil sich aus dem Gesetz nicht ergibt, wann die Zieltransaktion durchgeführt wurde. Vielmehr kann an mehrere Ereignisse angeknüpft werden, etwa den Abschluss des schuldrechtlichen Geschäfts (signing), den Hauptversammlungsbeschluss über die Zieltransaktion oder den „dinglichen“ Vollzug der Zieltransaktion (closing). Der Gesetzgeber sollte eindeutig im Gesetz regeln oder zumindest in den Materialien Auslegungshinweise darauf geben, was unter der Durchführung i.S.d. § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E zu verstehen ist.

Zudem sollte § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E nicht den irreführenden Eindruck erwecken, dass die BMAG nach dem Verstreichen der Durchführungsfrist als Rechtsträger erlischt. Anders als im Gesetzeswortlaut angedeutet, hängt der Bestand der Gesellschaft nicht von der Durchführung der Zieltransaktion ab. Vielmehr ist der erfolglose Fristablauf gem. § 47b Abs. 1 Satz 1 BörsG-E lediglich ein Auflösungsgrund (hierzu mit gelungenem Formulierungsvorschlag Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drucks. 362/23, 15).

Baustelle 3: terminologische Ungereimtheiten

Wie bereits an einer anderen Stelle moniert, bedient sich das Gesetz einer uneinheitlichen Terminologie (s. Harnos, AG 2023, 348 Rz. 35 Fn. 165): In § 44 Abs. 1 Satz 1 BörsG-E ist vom „Gegenstand der Gesellschaft“, in § 44 Abs. 4 Nr. 1 BörsG-E vom „Geschäftsgegenstand“ die Rede. Vorzugswürdig erscheint es, in Anlehnung an § 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG auch in § 44 BörsG-E einheitlich vom Unternehmensgegenstand zu sprechen.

Baustelle 4: Börsenzulassung der Wertpapiere

Nach § 44 Abs. 4 Nr. 2 BörsG-E gelten die Sonderregelungen in §§ 44 ff. BörsG-E, wenn die Wertpapiere der Gesellschaft zum Handel am regulierten Markt zugelassen sind. Zumindest in den Gesetzesmaterialien sollte klargestellt werden, dass die Wertpapiere der Initiatoren (§ 44 Abs. 6 BörsG-E) – wie in der internationalen Transaktionspraxis üblich – nicht zum Börsenhandel zugelassen werden müssen (vgl. hierzu auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740).

Baustelle 5: Zeitpunkt für den Rechtsformzusatz

Nicht ganz klar geregelt ist der Zeitpunkt, ab dem die Gesellschaft den Rechtsformzusatz „Börsenmantelaktiengesellschaft“ führen muss (zu dieser Vorgabe s. § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E). Da die Wertpapiere der Gesellschaft bei ihrer Gründung nicht automatisch zum Börsenhandel zugelassen sind, ist § 44 Abs. 4 Nr. 2 BörsG-E nicht erfüllt, so dass § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E im Zeitpunkt der Gründung nicht einschlägig ist. Dies spricht dafür, dass die Gesellschaft zunächst als eine „reguläre“ AG firmieren muss; den besonderen Rechtsformzusatz kann und muss sie erst nach dem Börsengang annehmen. Folgt man dem, muss nach dem Börsengang eine Hauptversammlung einberufen werden, um den Rechtsformzusatz in der Satzung zu ändern. Um diesen umständlichen Weg zu vermeiden, sollte § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E der Gesellschaft gestatten, schon in der Gründungsphase und bis zum Börsengang den Rechtsformzusatz „BMAG i. Gr.“ zu führen (dafür DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740). Alternativ könnte der Aufsichtsrat in § 44 Abs. 5 Satz 3 BörsG-E – in Anlehnung an § 179 Abs. 1 Satz 2 AktG (s. dazu Seibt in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 179 AktG Rz. 23 ff.) – zu einer Fassungsberichtigung nach dem Börsengang gesetzlich ermächtigt werden.

Baustelle 6: generelle Zulässigkeit selbständiger Aktienoptionen

Es ist zu begrüßen, dass § 47a BörsG-E die Emission selbständiger Optionsscheine (naked warrants) durch die BMAG gestattet. Dabei vermeidet der Regierungsentwurfs eine Formulierung, die noch im Referentenentwurf enthalten war („… abweichend von § 221 des Aktiengesetzes …“) und die nahelegen würde, dass selbständige Aktienoptionen im allgemeinen Aktienrecht unzulässig seien (zur unglücklichen Formulierung des Referentenentwurfs s. Joser, Blog-Beitrag v. 24.8.2023 unter 3. und Joser, ZIP 2023, 1006, 1008 f.). Vorzugswürdig wäre es, wenn der Gesetzgeber einen Schritt weiter gehen und die Zulässigkeit selbständiger Aktienoptionen – im Einklang mit der ganz herrschenden Auffassung (s. nur Fest in Hopt/Seibt, Schuldverschreibungsrecht, 2. Aufl. 2023, § 221 AktG Rz. 238 ff.; Koch, 17. Aufl. 2023, § 221 AktG Rz. 75) – in §§ 187, 192, 221 AktG bestätigen würde; § 47a Abs. 1 BörsG-E wäre dann zu streichen (dafür und die Anhebung der Höchstgrenze in § 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG erwägend DAV-HRA, NZG 2023, 738, 742). Die Ausnahme für Vorstands- und Mitarbeiteroptionen, die in § 47a Abs. 2 BörsG-E vorgesehen ist (keine Frist nach § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG), sollte hingegen im Gesetz verbleiben.

Baustelle 7: Verzinsung beim Andienungsrecht

Erklärt ein Aktionär der BMAG gegen den Hauptversammlungsbeschluss über die Zieltransaktion (s. § 46 BörsG-E) Widerspruch zur Niederschrift, kann er gem. § 47 Abs. 1 BörsG-E ein Andienungsrecht geltend machen. Der Gesetzgeber sollte klarstellen, dass der Anspruch des Aktionärs auf Rückzahlung der Bareinlage nebst Aufgeld zu verzinsen ist. Die Verzinsung des Rückzahlungsanspruchs steht systematisch im Einklang mit § 45 Abs. 2 Satz 2 BörsG-E, wonach das Treuhandkonto für Einlagen der BMAG-Aktionäre angemessen zu verzinsen ist.

Baustelle 8: Ungereimtheiten bei Vermeidung unbedeutender Zieltransaktionen

Wird die Zieltransaktion nicht während der statutarischen Frist durchgeführt, so wird die BMAG gem. § 47b Abs. 1 Satz 1 BörsG-E grundsätzlich aufgelöst (s. dazu bereits Baustelle 2). Dies gilt nach § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E nicht, wenn die Zieltransaktion einschließlich der Bedienung des Andienungsrechts erfolgreich durchgeführt wurde, soweit der Wert der im Zuge der Zieltransaktion durch die BMAG erworbenen Vermögenswerte nicht um mehr als 20 Prozent hinter dem Wert der Einlagen einschließlich Aufgeld zurückbleibt. Mit der Einführung der 20-Prozent-Grenze will der Gesetzgeber vermeiden, dass die BMAG-Initiatoren eine unbedeutende Zieltransaktion durchführen, um einen Ansehensverlust zu vermeiden und ihre Vergütung – die über BMAG-Aktien und selbständige Optionen auf BMAG-Aktien erfolgt – zu realisieren (zum teleologischen Hintergrund des § 47b Abs. 1 Satz 2 BörsG-E s. Joser, Blog-Beitrag v. 24.8.2023 unter 4.; für die Einführung einer solchen Regelung DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740).

Dieses Ziel ist im Ausgangspunkt zu begrüßen. Allerdings erscheint das eingesetzte Instrument problematisch: Wird die 20-Prozent-Grenze überschritten, folgt aus dem Wortlaut des § 47b Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E, dass die BMAG aufgelöst wird. Gilt dies auch in Fällen, in denen die Zieltransaktion inklusive ggf. nötiger Registereintragungen durchgeführt wurde, weil die in § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E geregelte Grenzüberschreitung niemandem aufgefallen ist? Wenn man bedenkt, dass die Anwendung des § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E die Bewertung einer nicht börsennotierten Zielgesellschaft erfordert und die Unternehmensbewertung mit Unsicherheiten behaftet ist, erscheint ein solches Szenario – also eine „versehentliche“ Registereintragung einer unbedeutenden Transaktion – nicht völlig ausgeschlossen. Wird in einem solchen Fall die Auflösung nach § 47b Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E wegen der Bestandskraft der Zieltransaktion nach der Registereintragung verdrängt, um die Transaktionssicherheit zu erhöhen? Dieses Problem sollte der Gesetzgeber umschiffen, indem er die Regelung über die Vermeidung unbedeutender Transaktionen von den Auflösungsvorschriften trennt und sie als eine Vorstandsvorgabe formuliert. Als Regelungsstandort bietet sich etwa ein (neuer) § 44 Abs. 3 Satz 2 BörsG-E an.

Baustelle 9: share deal im Zieltransaktionsbericht

Die Zieltransaktion bedarf der Zustimmung der Hauptversammlung der BMAG. Für Umwandlungsmaßnahmen folgt dies aus dem Umwandlungsgesetz, für sonstige Zieltransaktionen aus § 46 Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E. Im letztgenannten Fall muss der Vorstand der BMAG gem. § 46 Abs. 1 Satz 4 BörsG-E einen Zieltransaktionsbericht erstellen und dabei u.a. „die Angemessenheit der der Zielgesellschaft versprochenen Gegenleistung im Verhältnis zum Wert der Zielgesellschaft“ erläutern und begründen. Diese Formulierung ist allein auf den asset deal zugeschnitten. Bei einem share deal erhält nicht die Zielgesellschaft eine Gegenleistung, sondern deren Gesellschafter. Diesen Fall sollte der Gesetzgeber in § 46 Abs. 1 Satz 4 BörsG-E ebenfalls erfassen.

Baustelle 10: Unklarheiten in § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E

Unklar ist der Regelungsgehalt des § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E, wonach sich die Bekanntmachungspflicht nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG auch auf den Zieltransaktionsbericht erstreckt (krit. auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741). Es leuchtet nicht ein, wieso der Zieltransaktionsbericht Gegenstand des Beschlussvorschlags der Verwaltungsorgane sein soll. Wenn sich der Beschlussvorschlag der Verwaltungsorgane auf die Zieltransaktion selbst beziehen soll (was selbstverständlich erscheint und deshalb nicht speziell für die BMAG geregelt werden muss), ist § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E entsprechend anzupassen.

Baustelle 11: Anfechtungsrelevanz fehlerhafter Zieltransaktionsberichte

Ein Fehler des Zieltransaktionsberichts kann unter Umständen ein Anfechtungsgrund i.S.d. § 243 Abs. 1, Abs. 4 AktG sein. In einem solchen Fall sind nach § 245 Nr. 1 AktG diejenigen BMAG-Aktionäre anfechtungsbefugt, die gegen den Zustimmungsbeschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt haben. Zugleich können diese Aktionäre nach § 47 Abs. 1 AktG das Andienungsrecht geltend machen. Dieses Nebeneinander ist bedenklich. Es leuchtet nicht unmittelbar ein, wieso die Aktionäre wegen etwaiger Berichtsfehler gegen die gesamte Zieltransaktion vorgehen können, wenn sie sich durch die Ausübung des Andienungsrechts schützen können. Im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren sollte deshalb ein genereller Anfechtungsausschluss erwogen werden (vorsichtig in diese Richtung DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741).

Baustelle 12: Freigabeverfahren für begleitende Beschlüsse

Hinzu kommt, dass die Aktionäre unter Berufung auf einen Berichtsfehler die Zieltransaktion ausbremsen könnten: Wird aus der BMAG eine „reguläre“ AG mit operativem Geschäftsbetrieb, muss deren Satzung zum einen wegen des Unternehmensgegenstandes, zum anderen wegen des Rechtsformzusatzes geändert werden. Weil der Satzungsänderungsbeschluss kein Gegenstand des Freigabeverfahrens nach § 246a AktG sein kann, könnte er ein Ziel etwaiger Beschlussmängelklagen sein, die sich auf (womöglich nur behauptete) Fehler des Zieltransaktionsberichts stützen. Vor diesem Hintergrund sollte der Gesetzgeber erwägen, das Freigabeverfahren auf registerpflichtige (Satzungsänderungs-)Beschlüsse im Umfeld der Zieltransaktion zu erstrecken (dafür auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741).

Baustelle 13: kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts

Während die Baustellen 11 und 12 die gesellschaftsrechtlichen Folgen des Zieltransaktionsberichts betreffen, hat die Baustelle 13 die kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts zum Gegenstand: Wenn Anleger im Rahmen eines Börsengangs Wertpapiere eines operativ tätigen Unternehmens erwerben, können sie sich anhand des (Börsenzulassungs-)Prospekts u.a. über das Geschäftsmodell, die Finanzzahlen und weitere investitionsrelevante Umstände informieren. Der Prospekt einer BMAG ist weniger aussagekräftig. Er erstreckt sich wegen des Mantelcharakters der BMAG in erster Linie auf die Umschreibung potenzieller Zielgesellschaften (etwa nach Branchenzugehörigkeit oder Region) und der Erwerbsstrategie (dazu etwa Hell, BKR 2021, 26, 29). Detaillierte Informationen über die unternehmerische Ausrichtung der BMAG enthält der Prospekt nicht, weil die BMAG keinen eigenen operativen Geschäftsbetrieb hat. Die Anleger erhalten Informationen zum (künftigen) operativen Geschäftsbetrieb erst mit dem Zieltransaktionsbericht. Insoweit kann der Bericht als eine Verlängerung des Prospekts und damit als eine Kapitalmarktinformation angesehen werden.

Folgt man der Einordnung des Zieltransaktionsberichts als eine besondere Art der Kapitalmarktinformation, könnten diejenigen Aktionäre, die das Andienungsrecht aus § 47 Abs. 1 BörsG-E nicht ausgeübt haben, wegen etwaiger Berichtsfehler analog §§ 9 ff. WpPG Ansprüche geltend machen, die auf Rückabwicklung der Investition in die BMAG gerichtet sind. Für die Praxis hilfreich wäre ein Hinweis des Gesetzgebers darauf, ob ein fehlerhafter Zieltransaktionsbericht solche kapitalmarktrechtlichen Folgen nach sich ziehen kann. Bleibt ein gesetzgeberischer Hinweis aus, dürften Praxis und Wissenschaft die kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts dogmatisch vermessen.

Baustelle 14: Vorstandshaftung

Praxis und Wissenschaft werden zudem die Aufgabe meistern müssen, die Grundsätze der Vorstandshaftung wegen einer ungünstigen Zieltransaktion und eines fehlerhaften Zieltransaktionsberichts herauszuarbeiten (erste Ansätze bei Fuhrmann, AG 2022, R91, R92). So bleibt etwa zu klären, inwieweit der Zustimmungsbeschluss gem. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG eine Enthaftungswirkung erzeugt und ob sich die Vorstandsmitglieder trotz etwaiger Interessenkonflikte auf die Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) berufen können.

Baustelle 15: Regelungsstandort

Schließlich sollte der Standort des deutschen SPACs-Regimes im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren überdacht werden. Aus systematischen Gründen spricht viel dafür, die BMAG-Großbaustelle vom Börsengesetz ins Aktiengesetz zu verlegen (dafür etwa Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drucks. 362/23, 10 f.; Herzog/Gebhard, NZG 2023, 1055, 1056; Kuthe, BB 2023, 1603, 1606 f.; s. auch bereits Harnos, AG 2023, 348 Rz. 40 f.).

Insolvenzanfechtung unberechtigter Dividendenzahlungen nur gegenüber gutgläubigen Aktionären?

Im aktuellen BGH-Urteil vom 30.3.2023 – IX ZR 121/22 hat der IX. Zivilsenat entschieden, dass Dividendenzahlungen, die auf einem nichtigen Jahresabschluss beruhen, wegen Unentgeltlichkeit gemäß § 134 InsO anfechtbar sind. Die Privilegierung in § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG nützt dem gutgläubigen Aktionär gegenüber der Insolvenzanfechtung nichts, weil sie nur für den gesellschaftsrechtlichen Rückgewähranspruch gilt. Fälle wie „Wirecard“ lassen insoweit grüßen und die Anleger bangen!

Der IX. Zivilsenat überträgt die mit BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233 begründete neue Rechtsprechung zur Unentgeltlichkeitsanfechtung bei rechtsgrundlosen Leistungen auf gesellschaftsrechtlich unzulässige Dividendenzahlungen. Auch hier soll § 134 InsO nur in solchen Fällen eingreifen, in denen der Empfänger keinem zivilrechtlichen – nun gesellschaftsrechtlichen – Rückforderungsanspruch ausgesetzt ist (Rz. 13 ff. der Entscheidungsgründe). Im Ergebnis haftet nur der gutgläubige Aktionär auf Rückgewähr aus § 134 InsO, nicht hingegen der bösgläubige und damit weniger schutzwürdige Aktionär.

I. Vermeintliche oder echte Wertungswidersprüche der jüngeren Rechtsprechung?

Die von mir in KTS 2022, 423 ff. und ZIP 2023, 169 ff. an jener Rechtsprechung geübte Kritik weist der IX. Zivilsenat erstmals ausdrücklich zurück (Rz. 17 f. der Gründe), ohne dass die Begründung für mich nachvollziehbar wäre. Jene Wertungswidersprüche, welche der IX. Zivilsenat vor gut 30 Jahren selbst noch erkannt und zu vermeiden gesucht hatte (BGH v. 29.11.1990 – IX ZR 29/90, BGHZ 113, 98, 105 f. [juris-Rn. 21]; dazu Bitter, KTS 2022, 423, 451 f.; ZIP 2023, 169, 171 ff.), werden nun als „angebliche“ bzw. „vermeintliche“ Widersprüche abgetan. Will die heutige Besetzung des IX. Senats damit sagen, dass die früheren Richterkollegen im Jahr 1990 einem Irrtum unterlagen, als sie jenen Wertungswiderspruch aufzeigten, der sich auf der Basis der heutigen Rechtsprechung ergibt? Wird § 134 InsO immer nur dann angewendet, wenn ein Bereicherungsanspruch aus § 812 BGB an §§ 814, 817 BGB scheitert, laufen das Bereicherungs- und Anfechtungsrecht wertungsmäßig auseinander: Nur ein im Bereicherungsrecht als schutzwürdig erkannter und deshalb nicht der Rückforderung unterworfener Empfänger wird der Unentgeltlichkeitsanfechtung ausgesetzt und umgekehrt.

Die von mir im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des IX. Senats entwickelte Gegenposition, nach der alle rechtsgrundlosen Leistungen gemäß § 134 InsO anfechtbar sind, wird in Rz. 18 des neuen Urteils mit folgenden Worten in Frage gestellt: „Die vermeintlichen Wertungswidersprüche sollen nicht aufgelöst, sondern dadurch überdeckt werden, dass jede rechtgrundlose Leistung zugleich unentgeltlich im Sinne des § 134 InsO ist (Bitter, KTS 2022, 423, 476; ders., ZIP 2023, 169, 175).“ Doch ging es mir nicht um irgendeine „Überdeckung“ von (angeblich nur vermeintlichen) Widersprüchen, sondern allein um die Erkenntnis, dass der Tatbestand der „Unentgeltlichkeit“ i.S.v. § 134 InsO bei rechtsgrundlosen Leistungen völlig unabhängig davon erfüllt ist, ob die erbrachte Leistung zugleich nach § 812 BGB zurückgefordert werden kann oder nicht. Immer noch erläutert der IX. Senat nicht, warum ein Bereicherungsanspruch aus § 812 BGB bzw. im aktuellen Urteil ein gesellschaftsrechtlicher Rückgewähranspruch als relevante „Gegenleistung“ für den abgeflossenen Vermögenswert in Betracht kommen soll, obwohl der IX. Senat hierfür ansonsten immer fordert, dass die Parteien selbst eine Verknüpfung zwischen Leistung und „Gegenleistung“ hergestellt haben. Daran fehlt es bei rechtsgrundlosen Leistungen offensichtlich, weil niemand eine rechtsgrundlose Leistung erbringt, um im Gegenzug einen Anspruch aus § 812 BGB zu erlangen (näher Bitter, ZIP 2023, 169, 173 f.). Ebenso erbringt keine Gesellschaft eine gesellschaftsrechtlich unzulässige Dividendenzahlung, um als „Gegenleistung“ einen gesellschaftsrechtlichen Rückgewähranspruch (aus § 62 AktG) zu erlangen.

Ebenso erläutert der IX. Zivilsenat auch in seinem neuen Urteil nicht, warum bei einer nichtigen Schenkung der entstehende Bereicherungsanspruch nicht als Kompensation in Betracht kommen soll, wohl aber bei anderen nichtigen Verträgen (dazu schon Bitter, ZIP 2023, 169, 173). Bei einer nichtigen Schenkung stellt der BGH maßgeblich darauf ab, ob „– die Wirksamkeit des Grundgeschäfts unterstellt – dem Schuldner bereits nach dem Grundgeschäft keine ausgleichende Gegenleistung zufließen sollte“ (Rz. 13 der Entscheidungsgründe). Wie aber eine nichtige und damit rechtlich wirkungslose Willenserklärung über die Einordnung des Grundgeschäfts als „unentgeltlich“ i.S.v. § 134 InsO entscheiden kann, erklärt der IX. Zivilsenat auch in seinem neuen Urteil nicht.

Kurzum: Meine Kritik ist in keiner Weise entkräftet, während der BGH schlicht an seiner bisherigen Linie festhält und diese auf (fehlende) gesellschaftsrechtliche Rückgewähransprüche überträgt. Die dadurch hervorgerufenen, früher vom IX. Senat selbst noch erkannten Wertungswidersprüche bestehen nicht nur „angeblich“ oder „vermeintlich“, sondern sie sind real. Langfristig lässt sich so keine konsistente und überzeugende Rechtsprechung begründen.

II. Vorrang der Insolvenzanfechtung vor der gesellschaftsrechtlichen Privilegierung

Überzeugend erscheint es hingegen, wenn der IX. Zivilsenat in seinem ersten Leitsatz festhält, dass der aktienrechtliche Schutz des gutgläubigen Dividendenempfängers eine Insolvenzanfechtung nicht ausschließt (näher Rz. 32 ff. der Entscheidungsgründe; a.A. insbesondere Foerster, WM 2022, 2359 ff. m.w.N. zum Streitstand). Ganz allgemein gibt die Insolvenzanfechtung – wie der BGH mit Recht betont – dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, Leistungen des späteren Insolvenzschuldners auch dann zurückzufordern, wenn dies nach dem zugrunde liegenden Zivilrecht (hier Gesellschaftsrecht) nicht möglich wäre. Besonders deutlich wird dies am Paradefall des § 134 InsO, der echten Schenkung i.S.v. § 516 BGB. Obwohl der Beschenkte das Geschenk nach dem Zivilrecht behalten dürfte, muss er es in der Insolvenz des Schenkers zugunsten der Insolvenzgläubiger herausgeben, weil sein unentgeltlicher Erwerb speziell in der Mangelsituation der Insolvenz gegenüber den vorrangigen Interessen jener Insolvenzgläubiger zurückzutreten hat, die werthaltige Leistungen aus ihrem Vermögen an den späteren Insolvenzschuldner erbracht haben und nun nicht mehr befriedigt werden können (vgl. Bitter, KTS 2022, 423, 469 m.w.N.). Das Insolvenzrecht folgt insoweit eigenen Wertungen und es bedürfte klarer Anhaltspunkte, dass der gesellschaftsrechtliche Gesetzgeber den Schutz des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG auch gegenüber jenem Sonderrecht der Insolvenzanfechtung gewähren wollte.

Gerade weil aber das Insolvenzanfechtungsrecht eigenen Wertungen folgt, es insbesondere in § 134 InsO an das fehlende „Entgelt“, also die fehlende – von den Parteien selbst hergestellte – Verbindung zu einer „Gegenleistung“ anknüpft, sind rechtsgrundlose und/oder gesellschaftsrechtlich nicht berechtigte Leistungen unabhängig davon rückforderbar, ob sie im Einzelfall zugleich einen zivilrechtlichen Rückforderungsanspruch auslösen oder nicht. Wer schon zivilrechtlich zur Rückgewähr verpflichtet ist, muss jedenfalls erst recht der Unentgeltlichkeitsanfechtung unterliegen (oben I.).

Prof. Dr. Georg Bitter, Universität Mannheim

Vorreiter bei Say on Climate: die Alzchem Group AG

Say on Climate war in Deutschland bisher nur ein Zeitschriftenthema (vgl. etwa Cahn, NZG 2023, 299, 300 ff.; Fleischer/Hülse, DB 2023, 44; Harnos/Holle, AG 2021, 853; Ott, NZG 2020, 99; Sanders, VGR 2022, 59; J. Vetter, Börsen-Zeitung v. 14.5.2022 (s. auch hier); VGR, AG 2022, 239 Rz. 31 ff.; Weller/Hoppmann, AG 2022, 640). Anders als im Ausland haben es Konsultativbeschlüsse über die Klimapolitik der Unternehmen lange Zeit nicht auf die Tagesordnungen deutscher Hauptversammlungen geschafft.

Nun wagt es die Alzchem Group AG, ihren Klimafahrplan den Aktionären zur konsultativen Abstimmung vorzulegen (vgl. S. 34 ff. der HV-Einladung). Dabei bezeichnet das Unternehmen den Klimawandel als eine der größten global anzugehenden Herausforderungen und zeigt sich als ein Vertreter der Spezialchemie-Branche seiner besonderen Verantwortung für die Umwelt bewusst. Sodann skizziert es sein Tätigkeitsfeld und erklärt die Klimaneutralität zum neuen grünen Meilenstein. Dieses Ziel will Alzchem auf zwei Wegen erreichen: zum einen durch die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen, zum anderen durch eine klimaneutrale Produktion. Überdies schildert das Unternehmen, wie es zu Reduzierung des Energieeinsatzes, Vermeidung von Abfällen, Schutz der Gewässer sowie Immissions- und Lärmschutz beitragen will.

Sodann erklärt Alzchem, den Ausstoß der Scope 1-Emissionen – also solcher, die an sämtlichen Unternehmensstandorten freigesetzt werden – bis zum Jahr 2030 um 75 % reduzieren zu wollen. Die vollständige Klimaneutralität will das Unternehmen 2033 erreichen und stellt vier Maßnahmenpakete dar, mit denen es das Ziel verwirklichen will:

  1. CO2-Verflüssigung und Nutzung von CO2 als Rohstoff
  2. Nachhaltiges Rohstoffmanagement
  3. Wärmerückgewinnung
  4. Effizienzsteigerungen

Abschließend geht Alzchem auf Maßnahmen zur Reduzierung der Scope 2- bis 4-Emissionen ein. Diese Emissionsarten erfassen die indirekte Freisetzung klimaschädlicher Emissionen durch Energie von Dritten (Scope 2), die indirekte Freisetzung klimaschädlicher Emissionen in den bezogenen Roh- und Einsatzstoffen in der gesamten Wertschöpfungskette (Scope 3) sowie die klimapositive Wirkung der Produkte eines Unternehmens bei seinen Kunden (Scope 4).

Es bleibt zu beobachten, wie sich die Aktionäre der Alzchem Group AG in der Hauptversammlung am 11.5.2023 positionieren und ob sich andere deutsche Unternehmen trauen, dem Vorreiter aus Bayern zu folgen und mit ihren Anteilseignern über die Klimapolitik auf offener HV-Bühne anlässlich eines separaten Tagesordnungspunkts und nicht nur in Hinterzimmern zu diskutieren.

Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Am 12.4.2023 haben das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz den Referenzenentwurf eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG) veröffentlicht, dessen Eckpunkte bereits am 29.6.2022 präsentiert wurden (dazu etwa Kuthe, AG 2022, R208). Das Gesetz verfolgt das Ziel, den Kapitalmarkt moderner und leistungsfähiger werden zu lassen, um mehr privates Kapital für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren und den privaten Vermögensaufbau zu unterstützen (s. RefE ZuFunG, S. 1, 53 ff.). Im Folgenden finden Sie einen ersten Überblick über die Inhalte des Gesetzes.

Aktienrecht

Zahlreiche Vorschläge im Entwurf haben das Aktienrecht zum Gegenstand (s. dazu ausführlich Harnos, AG0054414):

  • Wie im Koalitionsvertrag der „Ampel“ angekündigt, soll die elektronische Aktie eingeführt werden. Dabei soll nicht nur der Anwendungsbereich des eWpG erweitert werden (s. § 1 eWpG-E und RefE ZuFinG, S. 106 ff., auch zu weiteren Änderungen des eWpG). Vielmehr sollen die Neuregelungen im eWpG durch Änderungen des Aktiengesetzes und des Depotgesetzes flankiert werden (s. § 10 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3, Abs. 6 AktG-E, § 13 Satz 4 AktG-E, § 67 Abs. 1 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 91 ff.; zum Depotrecht Art. 14 ZuFinG-E und RefE ZuFinG, S. 106).
  • Ebenfalls im Koalitionsvertrag wurzeln die Regelungen zur Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktie (hierzu aus neuerer Zeit etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 17 ff.; Nicolussi, AG 2022, 753 ff.): Einerseits soll § 12 Abs. 2 AktG gestrichen werden. Andererseits sollen im neuen § 134 Abs. 2 AktG-E die Rahmenbedingungen für die Emission von Mehrstimmrechtsaktien geschaffen werden. Ergänzt werden die Vorschläge, die im Kontext des Entwurfs einer Mehrstimmrechtsaktien-RL zu lesen sind (dazu etwa Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Harnos, Blog-Beitrag vom 1.3.2023; Kuthe, AG 2023, R28, R29), durch Anpassungen des § 129 Abs. 1 Satz 2 AktG (Angaben im HV-Teilnehmerverzeichnis), § 130 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AktG (Feststellung über die Beschlussfassung in börsennotierten Gesellschaften) und § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG (Transparenz in Bezug auf Mehrstimmrechtsaktien). Schließlich sollen Mehrstimmrechtsaktien auch ins eWpG Eingang finden (vgl. RefE ZuFinG, S. 107).
  • Im Kapitalerhöhungsrecht sollen zum einen die Regelungen über den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss und das genehmigte Kapital liberalisiert werden: Die in § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG vorgesehene Kapitalgrenze und die Höchstbeträge in § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG sollen angehoben werden (im Einzelnen RefE ZuFinG, S. 100 ff.). Zum anderen schlägt der Entwurf eine Neukonzeption des Wertverwässerungsschutzes in § 255 AktG vor. Die derzeit geltende Anfechtungslösung in § 255 Abs. 2 AktG soll durch eine Ausgleichslösung ersetzt und durch eine Erweiterung des SpruchG flankiert werden (s. § 255 Abs. 2–6 AktG-E und RefE ZuFinG, S. 103 ff.). Dabei soll der Unternehmenswert bei börsennotierten Gesellschaften anhand des durchschnittlichen Börsenkurses bemessen werden (s. § 255 Abs. 4 AktG-E, der sich an die Delisting-Regelung in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG anlehnt; vgl. dazu RefE ZuFinG, S. 104 f.).
  • Im neuen Abschnitt 4a des Börsengesetzes sollen Regelungen über Börsenmantelgesellschaften (SPACs) geschaffen werden (s. §§ 44 ff. BörsG und RefE ZuFinG, S. 85 ff.), die das – nach § 44 Abs. 7 BörsG-E BörsG subsidiär geltende – Aktienrecht in vielerlei Hinsicht modifizieren.
  • Schließlich soll die Regelung zum Nachweisstichtag in § 123 AktG präzisiert werden (s. RefE ZuFinG, S. 96).

Kapitalmarktrecht

Auch das Kapitalmarktrecht soll an einigen Stellen angepasst werden:

  • Die Voraussetzungen für die Börsenzulassung sollen durch eine Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 BörsZulVO moderat erleichtert werden: Der voraussichtliche Kurswert der zuzulassenden Aktien soll von mindestens 1,25 Mio. € auf mindestens 1 Mio. € herabgesetzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 78).
  • Um die Senkung der Zulassungskosten für die Emittenten zu ermöglichen, soll der neue § 32 Abs. 2a BörsG den Börsen mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung der Zulassungsvoraussetzungen in Teilbereichen des regulierten Marktes gewähren (s. RefE ZuFinG, S. 85); flankiert wird diese Änderung durch eine Anpassung des § 8 Satz 3 WpPG (s. RefE ZuFinG, S. 84).
  • Die Haftungsvorschriften für Schwarmfinanzierungsdienstleister in §§ 32c, 32d, 32e WpHG sollen an die Parallelregelungen in §§ 11, 13 WpPG, § 22 VermAnlG angeglichen werden (s. RefE ZuFinG, S. 80).
  • Sicherlich zur Freude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sollen die Möglichkeiten der offenen Immobilienfonds, Infrastrukturfonds und Spezialfonds mit festen Anlagebedingungen, im Bereich des Grundstückserwerbs und des Betriebs von Energieanlagen zu investieren, erweitert werden, um die Energiewende mit marktwirtschaftlichen Instrumenten zu flankieren (s. die Änderungen der §§ 231, 260b KAGB und RefE ZuFinG, S. 56, 137 ff.).
  • Im Blickfeld des Referentenentwurfs liegt auch WpÜG, das an einigen Stellen geändert werden soll (s. RefE ZuFinG, S. 80 ff.). Insbesondere soll die Kommunikation mit der BaFin künftig ausschließlich elektronisch erfolgen (s. §§ 36, 37, 45 WpÜG-E).

Recht der Finanzmarktaufsicht

  • Elektronische Behördenkommunikation ist ferner Gegenstand der § 16m FinDAG-E, § 5 KWG-E, § 310a VAG-E, §§ 7b, 53, 223 KAGB-E, §§ 4a, 10, 11, 19, 25, 26, 34, 38, 39, 60, 61 ZAG-E und § 42a SAG-E.
  • Die Kommunikation mit der BaFin soll künftig auch in englischer Sprache geführt werden dürfen (s. § 4j FinDAG-E, § 19 Abs. 5a KAGB-E, § 10 Markzugangsangaben-VO-E, § 41 Abs. 1a SAG-E, § 2 Abs. 3 Inhaberkontroll-VO-E).
  • Im KWG sollen Vorgaben zur Kryptoverwahrung (schon mit Blick auf die MiCAR, s. RefE ZuFinG, S. 55 und 119 f.) und Regelungen zur DLT-Pilotregelung nach der Verordnung (EU) 2022/858 eingeführt werden (s. RefE ZuFinG, S. 121 f.). Die DLT-Pilotenregelung ist auch Gegenstand der §§ 78a ff. WpIG (s. RefE ZuFinG, S. 135 f.).

Zahlungsdiensterecht

  • Um die Vorgaben des Art. 106 PSD II eindeutig umzusetzen, soll der neue § 62a ZAG die Regelungen über die kollektive Verbraucherinformation gesetzlich verankern (s. RefE ZuFinG, S. 135).
  • Die Vorschriften über den Betrieb von Vergleichswebsites für Zahlungskonten in §§ 16 ff. ZKG sollen ergänzt werden (s. RefE ZuFinG, S. 128 ff.).

Steuerrecht

  • Die Änderungen des Einkommensteuerrechts und des Vermögensbildungsgesetzes sollen Anreize für die Investition in Aktien verbessert werden (s. RefE ZuFinG, S. 109 ff. und S. 142).
  • Um eine Wettbewerbsgleichheit mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sollen die deutsche Kreditwirtschaft und die Investmentfonds durch Anpassungen des Umsatzsteuergesetzes entlastet werden (s. RefE ZuFinG, S. 113 f.).

AGB-Recht

Last but not least: Ein neuer § 310 Abs. 1a BGB soll die AGB-Inhaltskontrolle der Geschäfte im bank- und kapitalmarktrechtlichen Bereich einschränken (s. dazu RefE ZuFinG, S. 76 ff.; im Vorfeld des Entwurfs etwa Casper, ZHR 187 [2023], 5, 8 ff.).

Ausblick

Für die diskussionsfreudige unternehmensrechtliche Community ist der Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes ein verspätetes Ostergeschenk. Die „Aktiengesellschaft“ wird die Debatte um das Zukunftsfinanzierungsgesetz aktiv begleiten.

Stellungnahme des DAV-Handelsrechtsausschusses zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Die Diskussion über die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien im Zuge des Listing Acts ist im vollen Gange (zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL s. etwa Casper, ZHR 187 (2023), 5, 29 f.; Gumpp, BKR 2023, 82, 88 f.; Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Kuthe, AG 2023, R28, R29; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193; Schlitt/Ries, NZG 2023, 145). Am 27.2.2023 hat der Ausschuss Handelsrecht des Deutschen Anwaltvereins eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er den Vorstoß der Europäischen Kommission zwar grundsätzlich begrüßt, aber eine Reihe von Änderungsvorschlägen unterbreitet. Zahlreiche Anregungen des Ausschusses sind durchaus erwägenswert: eine ausdrückliche Regelung zur KGaA und SE, eine Klarstellung hinsichtlich der Zulässigkeit von Sonderbeschlüssen benachteiligter Aktionäre, eine weitere Klarstellung, dass die Schaffung der Mehrstimmrechtsaktien durch Ausübung genehmigten Kapitals unzulässig ist, und die Konkretisierung der Obergrenzen für die Stimmrechtsmacht in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Überzeugend sind zudem die Überlegungen zur Ausgestaltung der sunset clauses, zur Erweiterung der gegenständlichen Beschränkungen in Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sowie zu den Transparenzvorgaben in Art. 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Zwei Vorschläge des DAV-Handelsausschusses sind dagegen bedenklich: die erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrstimmrechtsaktien-RL und die Streichung der „Klimaschutz-Regelung“ in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL zwischen Mindest- oder Vollharmonisierung

Nach dem bisherigen Konzept der EU-Kommission soll die Mehrstimmrechtsaktien-RL nur insoweit einen Harmonisierungsdruck erzeugen, als Mehrstimmrechtsaktienstrukturen lediglich für Aktiengesellschaften geöffnet werden sollen, die eine Notierung auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben (vgl. Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Werden die Aktien bereits auf einem KMU-Wachstumsmarkt oder einem anderen Handelsplatz gehandelt oder will der (künftige) Emittent die Aktien von vornherein in einem anderen Marktsegment als KMU-Wachstumsmarkt – etwa im geregelten Markt – platzieren, können die Mitgliedstaaten die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gem. Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E zulassen, müssen es aber nicht. Kein Zwang zur Zulassung der Mehrstimmrechtsaktien gilt ferner für geschlossene Aktiengesellschaften; auch insoweit folgt der Richtlinienentwurf dem Konzept der Mindestharmonisierung (vgl. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30: große Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten).

Dagegen schwebt dem DAV-Handelsrechtsausschuss eine Vollharmonisierung dahingehend vor, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für alle Aktiengesellschaften zu öffnen – und zwar unabhängig davon, ob die Aktien bereits auf einem geregelten Markt oder in einem multilateralen Handelssystem (MTF), das kein KMU-Wachstumsmarkt ist, gehandelt werden oder ob die Eigentümer der Gesellschaft überhaupt den das Börsenparkett betreten möchten (vgl. S. 9 ff. der Stellungnahme; für Erstreckung auf alle MTF Gumpp, BKR 2023, 82, 89). Dabei vermisst der Ausschuss eine tragfähige Begründung für die Ausklammerung der Gesellschaften, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL fallen.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in allen Kapitalmarktsegmenten

Der Vorschlag des DAV-Handelsrechtsausschusses, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften in allen Kapitalmarktsegmenten zu öffnen, klingt bei unbefangener Betrachtung verlockend, weil er einer weiteren Fragmentierung des – ohnehin unübersichtlichen – Aktien- und Kapitalmarktrechts in der Europäischen Union entgegenwirkt. Zudem will der Ausschuss offenbar erreichen, dass die Kapitalmarktteilnehmer mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie Unternehmen mit einer „one share, one vote“-Kultur oder mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur für vorzugswürdig halten (zur Einstellung der Investoren und Stimmrechtsberater vgl. Denninger, DB 2022, 2329, 2334; Kuthe, AG 2023, R28, R29; Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193). In Zeiten eines übergreifenden Paternalismus wirkt die damit verbundene Liberalisierungsbrise erfrischend.

Dennoch geht die Kritik an der Harmonisierungskonzeption der EU-Kommission zu weit. Die Kommission versteht die Zulassung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen augenscheinlich als ein Instrument, um kleine und mittlere Unternehmen an den öffentlichen Kapitalmarkt zu locken und damit ihre Finanzierungsbasis zu stärken: Die Investoren der ersten Stunde können einerseits den externen Anlegern die Beteiligung am Unternehmen ermöglichen, müssen aber andererseits keinen Machtverlust befürchten, wenn sie sich ausreichend Mehrstimmrechtsaktien sichern. Ist ein KMU bereits auf einem Handelsplatz notiert, bedarf es der Mehrstimmrechtsaktien als Lockmittel nicht mehr; insoweit ist das Konzept der EU-Kommission durchaus in sich schlüssig.

Will die Gesellschaft von vornherein ins kalte Wasser springen und eine Notierung auf einem „höherwertigen“ Marktsegment anstreben, kann die Zurückhaltung der EU-Kommission mit einem Verweis auf die kritischen Stimmen begründet werden, die vor einer allzu breiten Öffnung des Gesellschaftsrechts für Mehrstimmrechtsaktienstrukturen warnen: Die Mehrstimmrechtsaktien schaffen das Risiko, die Kontrollfunktion der Kapitalmärkte auszuhebeln und die Governance-Strukturen zu schwächen (s. nur Casper, ZHR 187 (2023), 5, 24 ff.; Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Dies relativiert die Zwangsläufigkeit, die der DAV-Handelsrechtsausschuss im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Marktsegmente vorspiegelt.

Namentlich ist die Schaffung eines level playing field, auf das der DAV-Handelsrechtsausschuss mehrfach Bezug nimmt, bei Lichte besehen nicht zwingend. Wieso sollte der Richtliniengeber den Wettbewerb zwischen den nationalen Aktienrechtsordnungen durch eine zwingende Vorgabe unterbinden, deren Daseinsberechtigung nicht unumstritten ist? Das bisherige Konzept der EU-Kommission hat – auch im Lichte des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) – den Charme, im Zeitalter der Mobilitäts-RL die Bedingungen für einen Systemwettbewerb zu schaffen, in dem beobachtet werden kann, welche Anziehungskraft Mehrstimmrechtsaktien für notierungswillige Gründer haben (s. dazu bereits Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 17; zur Competition of Policy Makers jüngst auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 27 ff.). Erweisen sich Rechtsordnungen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen generell zulassen, als überlegen, kann die EU-Kommission diesen Umstand im Rahmen der ohnehin vorgeschriebenen Überprüfung berücksichtigen und den Anwendungsbereich der Richtlinie erweitern (vgl. Gumpp, BKR 2023, 82, 89: Test; trial and error).

Nebenbei: Entscheidet sich der Richtliniengeber dafür, von der ursprünglichen Konzeption der EU-Kommission abzurücken und die Vorschläge des DAV-Handelsrechtsausschusses umzusetzen, sollte er über den Standort der Regelung nachdenken, die die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften aller Kapitalmarktsegmente öffnet. Jedenfalls für börsennotierte Aktiengesellschaften spricht viel dafür, insoweit die Aktionärsrechte-RL zu ändern, statt die Zulässigkeit der Mehrstimmrechtsaktien in einer separaten Richtlinie zu regeln.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in geschlossenen Gesellschaften

In der Sache überzeugend sind die Ausführungen des DAV-Handelsrechtsausschusses zu Mehrstimmrechtsaktiensystemen in geschlossenen Gesellschaften. Es ist in der Tat kein Grund ersichtlich, solchen Unternehmen die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien zu verbieten (s. bereits Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; s. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30). Nur: Ist eine EU-Richtlinie der richtige Ort, um die Governance-Vorgaben für Unternehmen jenseits des Kapitalmarkts zu lockern?

Die EU-Kommission stützt ihren Vorschlag auf Art. 50 AEUV und Art. 114 AEUV. Wieso das Verbot der Mehrstimmrechtsaktien in kapitalmarktfernen Gesellschaften die Niederlassungsfreiheit einschränkt und deshalb qua Richtlinie abgeschafft werden muss, liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Auch ein Binnenmarktmarktbezug drängt sich bei geschlossenen Unternehmen nicht auf. Insoweit sollte der Richtliniengeber – ggf. mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip – an der bisherigen Konzeption festhalten und die Entscheidung den Mitgliedstaaten überlassen.

Streichung des „ESG-Artikels“

Auf S. 20 f. der Stellungnahme beschäftigt sich der DAV-Handelsrechtsausschuss mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Diese Vorschrift enthält eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Dass der „ESG-Artikel“ überrascht, wurde bereits im Blog-Beitrag v. 13.12.2022 näher erläutert – eine Streichung erscheint aber dennoch vorschnell.

Insbesondere verstößt Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nicht zwingend gegen das aktienrechtliche Kompetenzsystem. Wenn der DAV-Handelsrechtsausschuss auf § 119 AktG verweist, blendet er aus, dass die deutsche Organisationsverfassung nicht alternativlos ist und die EU-Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung flexibel sind. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht verpflichtet wäre, Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E umzusetzen. Vielmehr enthält Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E lediglich eine Liste mit optionalen Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten (ggf. in modifizierter Form) erlassen können. Im Hinblick darauf und die derzeitige Diskussion um „Say on ESG“ wirkt der Vorschlag des Ausschusses wie ein (nicht zeitgemäßer) Versuch, jeglichen Gedanken an eine Erweiterung der HV-Kompetenzen im Keim zu ersticken.