Commercial Courts – Deutsche Elite-Gerichtsbarkeit goes international – Zum Eckpunktepapier des BMJ vom 16.1.2023

Am 16.1.2023 veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz „Eckpunkte zur Stärkung der Gerichte in Wirtschaftsstreitigkeiten und zur Einführung von Commercial Courts“. Das klingt vielversprechend.

I. Ausgangslage

Jetzt soll umgesetzt werden, was die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag 2021-2025 verabredet hatten: „Wir ermöglichen englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten.“ Nur auf diesen einen Satz nimmt das Eckpunktepapier Bezug, um sodann konzeptionelle Veränderungsideen aufzufächern, die der unbefangene Leser daraus kaum hätte erahnen können: Ausstattung des Gerichts mit moderner Technik, Online-Verhandlung, Wortprotokoll – alles Elemente, die mit der Gerichtssprache gar nichts zu tun haben, hier aber im selben Atemzug Erwähnung finden.

II. Zielsetzung

Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen solle der Justiz- und Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig gestärkt werden, wird im Anschluss an die Ist-Analyse die Zielsetzung des Vorstoßes beschrieben. Dabei könne „auf wertvollen Vorarbeiten der Länder“ aufgebaut werden.

Gemeint ist ein Experiment, das seit einigen Jahren in Stuttgart und Mannheim zu beobachten ist. Dort gibt es nämlich schon Commercial Courts und wer sich auf der dafür eingerichteten Webseite (https://commercial-court.de/) umschaut, wird verblüfft sein. Ein Justiz-Erlebnis kündigt sich den Prozessparteien an. „Die Top-Anlaufstelle bei wirtschaftsrechtlichen Streitverfahren“ wird dort selbstbewusst verkündet, darf man bei einem Gericht sagen: geprahlt? „Die“, nicht „eine“ Top-Anlaufstelle. Eine Alleinstellung offenbar. Man arbeite „hocheffizient“ – ein staatliches Gericht! – und sei „mit exzellenten Richterinnen und Richtern besetzt“, so weiter die Werbe-/Webseite der funktionierenden Commercial Courts.

Ein Schock für den, der richterliche Zurückhaltung, Anonymität, Sachlichkeit, Nüchternheit schätzt. Ein Labsal für den, der Transparenz, Offenheit, Nähe, die Menschen dahinter, Nachweise der zu erwartenden Qualität sucht. Was aber bedeutet die ambitionierte Ankündigung, heruntergebrochen auf die Details?

III. Die Eckpunkte im Einzelnen

  1. Verfahren in englischer Sprache vor den Landgerichten

Die Länder sollten vorsehen können, dass bestimmte Handelsstreitigkeiten an ausgewählten Landgerichten umfassend in der englischen Sprache geführt werden können. Die Parteien müssten sich dazu über die Verfahrenssprache Englisch einig sein und es müsse für die Wahl dieser Sprache einen sachlichen Grund geben. Das Verfahren, einschließlich der Entscheidung, solle dann vollständig in der englischen Sprache geführt werden.

Sachlicher Grund ist womöglich der Sitz mindestens eines Beteiligten im Ausland. Möglicherweise auch ein auf Englisch formulierter, dann in Streit befangener Vertrag. Ob es auch ausreicht, wenn die gesetzlichen Vertreter mindestens einer Partei des Deutschen nicht mächtig sind?

Gleiches wie in erster Instanz soll auch für Berufungen und Beschwerden gegen diese landgerichtlichen Entscheidungen gelten, die sodann auch vor dem jeweils zuständigen Senat des Oberlandesgerichts in der englischen Sprache verhandelt werden können.

  1. „Commercial Courts“ bei den Oberlandesgerichten

Für „große Handelssachen“ sollen die Länder erstinstanzliche Spezialsenate bei ihren Oberlandesgerichten einrichten dürfen. Das gilt generell, also unabhängig von der Ausrichtung auf eine englische Verfahrenssprache. Soweit der Streitwert eines Rechtsstreits eine bestimmte Schwelle, etwa von einer Million Euro, erreicht oder überschreitet, soll die direkte Anrufung des Commercial Courts beim OLG möglich sein, wenn alle Parteien einverstanden seien. Damit könne die Ebene des Landgerichts übersprungen werden, heißt es im Eckpunktepapier.

Schade, dass das Eckpunktepapier nicht an der Nomenklatur der in Stuttgart und Mannheim erprobten Praxis festhält: Commercial Court für die Kammern bei den Landgerichten, Commercial Court of Appeal für den Senat beim OLG. Stattdessen soll die Bezeichnung Commercial Court nach der Vorgabe des Eckpunktepapiers den erstinstanzlich zuständigen OLG-Senaten vorbehalten sein, während den Kammern beim LG keine besondere Bezeichnung zugedacht ist.

Auch bei den besonderen OLG-Senaten soll ein Verfahren auf Englisch möglich sein, wenn ein sachlicher Grund für die Verfahrenssprache Englisch besteht. Für die Verfahren vor den Commercial Courts beim OLG soll zudem die Möglichkeit der Erstellung eines Wortprotokolls eröffnet werden.

Diese Planung steht in gedanklicher Nähe zu den Referentenentwürfen für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) vom 22. November 2022 und zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 23. November 2022.

Die Kosten für Verfahren vor den Commercial Courts sollen auf OLG-Ebene den Kosten für Verfahren vor den Oberlandesgerichten entsprechen, mit anderen Worten: deutlich gesteigerte Qualitätsstandards zum gleichen Preis. Das kann sich insbesondere im Vergleich zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit positiv auswirken, liegen die Honorare dort doch regelmäßig über den Gebühren ihrer staatlichen Pendants.

  1. Revision zum Bundesgerichtshof

Gegen eine Entscheidung der Commercial Courts auf OLG-Ebene soll die Revision zum BGH eröffnet sein. Eine umfassende Verfahrensführung in der englischen Sprache soll – im Einvernehmen mit dem zuständigen Senat des BGH – auch in der Revision möglich sein.

Es bleibt abzuwarten, ob die jeweiligen Senate in die ungewohnte Verfahrenssprache Englisch einwilligen werden. Auch wenn das von Senat zu Senat unterschiedlich gesehen werden könnte, kann der Verfasser dieser Zeilen eine gewisse Grundskepsis, ob sich überhaupt ein Senat dazu bereitfinden wird, nicht unterdrücken.

  1. Übersetzung, Geschäftsgeheimnisse, Öffentlichkeit

Zur Ermöglichung der Vollstreckung und zur Unterstützung der Rechtsfortbildung sollen, so das Eckpunktepapier, die englischsprachigen Entscheidungen in die deutsche Sprache übersetzt und veröffentlicht werden. Im Vollstreckungsbereich ist die Einrichtung englischsprachiger Stellen bei Gericht und Gerichtsvollziehern nicht vorgesehen.

Offenbar ist eine ausnahmslose Veröffentlichung der Entscheidungen vorgesehen ist. Der Ist-Stand zum Thema Veröffentlichungen von Gerichtsurteilen in Deutschland ist ernüchternd: Unter drei Prozent der im Namen des Volkes verkündeten Entscheidungen werden der Allgemeinheit bekanntgegeben. Auf einmal hat man im Angesichte des Wettbewerbs mit ausländischen Gerichten – wo deutlich höhere Veröffentlichungsquoten von bis zu 100 Prozent anzutreffen sind – und Schiedsgerichten offenbar eine Möglichkeit entdeckt, bisher angeführte Schwierigkeiten zu überwinden.

Geschäftsgeheimnisse sollen künftig umfassender als bislang im Zivilprozess geschützt werden. Dazu sollen die Verfahrensregelungen nach dem Geschäftsgeheimnisschutzgesetz auf den gesamten Zivilprozess ausgeweitet werden. Das Thema „Geheimnisschutz“ hat im Grunde weder mit der englischen Verfahrenssprache noch mit der Modernisierung der Prozesse etwas zu tun, sondern behandelt einen Bereich, in dem nun offenbar eine Regelungslücke bemerkt wurde, die schon immer vorhanden war.

IV. Fazit

Dem Wettbewerb mit ausländischen Handelsgerichten und Schiedsgerichten wie in London, Singapur, Paris und Amsterdam wolle man sich stellen, sagt das Eckpunktepapier. Das ist ein ambitioniertes Ziel, zumal wenn man deren Tradition oder zukunftsorientierte Dynamik betrachtet. Ist es auf absehbare Zeit erreichbar?

Die deutsche Gerichtsbarkeit hat einen hohen, auch international anerkannten Qualitätsanspruch. Man hat im BMJ erkannt, dass das allein nicht reicht. Internationale Rechtsdienstleistungen – und als solche wird man auch dieses Angebot einer qualifizierten Gerichtsbarkeit einordnen dürfen – kommen nicht umhin, sich ohne Anstrengung und Zusatzkosten der lingua franca unserer Zeit zu bedienen. Sie werden aber auch dann nur ein müdes Lächeln international aktiver Unternehmen ernten, wenn sie technisch nicht auf der Höhe sind und ihre Transparenz zu wünschen übrig lässt.

Man hat im BMJ gravierende Defizite der deutschen Gerichtsausstattung erkannt und setzt sie auf die gesetzgeberische Agenda. Dazu gehört – nun gleich in mehreren Gesetzesvorhaben – eine deutlich verbesserte Dokumentation durch Ton-, Bild- und Textaufzeichnung. Dazu gehört die bislang fehlende Transparenz richterlicher Qualifikation und der Entscheidungen selbst. Auch die Länge der Verfahren, nicht zuletzt aufgrund der drei Instanzen, wirkt auf potenzielle Beteiligte abschreckend.

Einige dieser Problemfelder werden flächendeckend angegangen, etwa die Dokumentation der Verhandlungen. Das allerdings bedingt größere Investitionen und Zeit, um überall die erforderliche Technik einzuführen. Der spezielle Bereich von Wirtschaftsstreitigkeiten kann und soll vorgezogen werden.

Andere Problembereiche werden offenbar nur begrenzt ins Visier genommen, was eine spätere Ausweitung natürlich nicht ausschließt. So liegt es nahe, die Gerichtssprache auch außerhalb wirtschaftsrechtlicher Auseinandersetzungen flexibler in Varianten zuzulassen als bisher. Bedarf dafür gäbe es sicher auch in anderen Rechtsmaterien. Und auch für Dialog von Gericht und Beteiligten und für Spezialisierung und Qualifikation der Richter gibt es sicherlich nicht nur im Wirtschaftsrecht Nachfrage.

So erweist sich das Eckpunktepapier als bunte, heterogene Mischung von anstehenden, zum Teil schon seit Jahren fälligen Veränderungen. Nichts spricht dagegen, sie möglichst rasch in ein Gesetz zu gießen und umzusetzen. Um sogleich das Ausrollen auf andere Rechtsmaterien und Verfahrenszweige vorzusehen. Woher sollten ernsthafte, überzeugende Argumente gegen Dialog, gegen moderne Technik oder gegen Richterqualität kommen? Nicht zähe Diskussionen sind jetzt gefragt, sondern zeitnahe Umsetzung. Möge das Eckpunktepapier zügig zum Gesetzentwurf erstarken!

Bundestag verabschiedet Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (UmRUG)

Der Bundestag hat in der 80. Sitzung der 20. Legislaturperiode am 20.1.2023 das Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (UmRUG) im Rahmen des TOP 26 beschlossen (https://www.bundestag.de/mediathek; sowie https://www.bundestag.de/tagesordnung). Die jetzt verabschiedete finale Fassung des UmRUG (vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 18.1.2023, BT-Drucksache 20/5237) weicht inhaltlich nur marginal von der am 15.12.2022 vom Bundestag nicht beschlossenen Fassung ab (vgl. dazu BT-Drucksache 20/3822; Wertenbruch, GmbHR-Blog vom 19.12.2022; Heckschen/Knaier, GmbHR-Blog vom 29.12.2022). Die Änderungen beziehen sich im Wesentlichen auf registergerichtliche Fragen. Nicht gehalten werden konnte allerdings die von der Bundesregierung auch in zeitlicher Hinsicht anvisierte richtlinienkonforme Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie zum 31.1.2023 (vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses [6. Ausschuss], BT-Drucksache 20/5237, S. 97). Nach Art. 25 Abs. 1 UmRUG treten die Änderungen des UmwG nunmehr am Tag nach der Verkündung in Kraft. Der Anwendungsbereich der Übergangsvorschrift des § 355 UmwG n.F. wurde unter Berücksichtigung des Art. 25 Abs. 1 UmRUG in Bezug auf die Termine angepasst (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses [6. Ausschuss] BT-Drucksache 20/5237, S. 58; Begr. S. 90). Falls der Bundesrat in der für den 10.2.2023 anberaumten Sitzung das UmRUG konsentiert und die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten schon in der darauffolgenden Woche vonstattengeht, endet der Umsetzungsverzug des deutschen Gesetzgebers immerhin schon ca. zwei Wochen nach seinem Eintritt. Da in der neuen Zeitrechnung der parlamentarischen UmRUG-Genesis eben noch zwei Variablen enthalten sind, wäre die Festlegung eines fixen Stichtags des Inkrafttretens durch das UmRUG für die Vertragspraxis zwar sicherlich kommoder gewesen, hätte aber wohl das nicht unerhebliche Risiko der Entstehung einer Rückwirkungsproblematik begründet.

Der am 1.2.2023 beginnende Umsetzungsverzug des deutschen Gesetzgebers beruht darauf, dass die Abstimmung über das UmRUG in der Bundestagssitzung vom 15.12.2022 deshalb von der Tagesordnung genommen wurde, weil der Bundesrat dem Fristverkürzungsersuchen der Bundesregierung nicht stattgegeben hatte (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw42-de-umwandlungsrichtlinie-915592; Wertenbruch, GmbHR-Blog vom 19.12.2022; vgl. zu den Rechtsfolgen der verzögerten Umsetzung Heckschen/Knaier, GmbHR-Blog vom 29.12.2022). Nach den Darlegungen des für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprechenden Abgeordneten Stephan Mayer (CSU) beruhte dies auf einer von der Bundesregierung geplanten Änderung des § 3 LobbyRG, die unter der Chiffre UmRUG kurzfristig mitverabschiedet werden sollte (vgl. dazu Wertenbruch, GmbHR-Blog vom 19.12.2022). Nach diesem legislatorisch jetzt vom UmRUG abgespaltenen Amendment des LobbyRG sollte die Verpflichtung, bei größeren Zuwendungen an Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter die Personalien der Leistenden publik zu machen, temporär suspendiert werden (Wertenbruch, GmbHR-Blog vom 19.12.2022).

Folgenreiche „Blutgrätsche“ für das UmRUG auf der Zielgeraden

In den Tagen vor Weihnachten endete am 18.12.2022 nicht nur die – durchaus umstrittene – Fußball-WM der Herren in Qatar. Wenige Tage zuvor wurde am 15.12.2022 ein wesentlich weniger umstrittenes Vorhaben ebenso unsanft wie unnötig überraschend mittels einer „Blutgrätsche“ gestoppt: Die Rede ist vom Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (UmRUG, Regierungsentwurf: BT-Drucksache 20/3822).

Die bevorstehende Reform des Umwandlungsrechts beschäftigte seit Jahren und insbesondere 2022 die Wissenschaft in zahlreichen Teilaspekten (s. etwa J. Schmidt, NZG 2022, 579 u. 635; Baschnagel/Hilser, NZG 2022, 1333; Wollin, ZIP 2022, 989; Hommelhoff, NZG 2022, 683; Brandi/M. K. Schmidt, DB 2022, 1880; Bungert/Strothotte, BB 2022, 1411; Heckschen/Knaier, GmbHR 2022, 501 u. 613; Heckschen/Knaier, ZIP 2022, 2205). Für die Umsetzung der Richtlinie über grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (Umwandlungsrichtlinie – RL [EU] 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, ABl. EU Nr. L 321/2019, 1) haben die Mitgliedstaaten bis zum 31.1.2023 Zeit (J. Schmidt, ZEuP 2020, 565, 590; J. Schmidt, ZIP 2021, 112). Seit 2019 hatte eine Expertenkommission das Vorhaben vorbereitet (weitere Informationen abrufbar unter: https://www.bmjv.de/DE/Ministerium/ForschungUndWissenschaft/KommissionUmwandlungsrecht/KommissionUmwandlungsrecht.html). Das Umsetzungsverfahren in Deutschland war bereits weit fortgeschritten und nachdem es Gegenstand der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags gewesen ist und die Vorschläge des Bundesrats und der Sachverständigen im Rechtsausschuss von letzterem teilweise in einer ergänzten und abgeänderten Version des Gesetzesentwurfs zum UmRUG umgesetzt wurden, konnte man davon ausgehen, dass das UmRUG pünktlich zum 31.01.2023 in Kraft treten würde (zum Ganzen ausführlich Heckschen/Knaier, GmbHR 2022, R376).

In der Sitzung des Deutschen Bundestags vom 15.12.2022 kam nun jedoch alles anders als erwartet. Nach einer kurzen Debatte wurde das Gesetz nicht verabschiedet, sondern gem. § 82 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Bundestags einstimmig an den federführenden Rechtsausschuss zurücküberwiesen und die Abstimmung wurde abgesetzt (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw50-de-umwandlungsrichtlinie-924600). Offiziell hieß es hierzu, dass der zuständige Ausschuss des Bundesrats der Fristverkürzungsbitte des Bundestags nicht zugestimmt hatte und das Gesetz daher nicht vor Februar 2023 im Bundesrat beraten werden kann (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw50-de-umwandlungsrichtlinie-924600). Teilweise wird vermutet, dass die zahlreichen – thematisch nicht zum UmRUG gehörenden – Änderungen weiterer Gesetze, die dem letzten Entwurf angefügt wurden, zur Ablehnung der Fristverkürzung geführt hatten (dazu Wertenbruch, Bundesrat „vertagt“ UmRUG und stimmt Gesellschaftsregister-VO (GesRV) sowie der Änderung der Handelsregisterverordnung (HRV) zu, GmbHR-Blog v. 19.12.2022). Teilweise wird davon ausgegangen, dass der Bundesrat und die Länder allgemein unzufrieden damit sind, dass der Bundestag allzu oft eine Bitte um Fristverkürzung in den Gesetzgebungsverfahren äußert. Unabhängig davon, was letztlich den Ausschlag gegeben hat, kommt man nicht umhin Bundestag und Bundesrat ein Armutszeugnis dafür auszustellen, dass das wichtige UmRUG nun so kurz vor dem Ziel brutal aufgehalten wird (Der Podcast Parlamentsrevue spricht unter https://parlamentsrevue.de/ von „Trojaner[n] in der Umwandlungsrichtlinie“).

Das UmRUG selbst dient der Umsetzung einer EU-Richtlinie und betrifft im Bereich der grenzüberschreitenden Umwandlungen wichtige und wirtschaftlich weitreichende Vorgänge. Angesichts der Terminplanung des Bundesrats erscheint ein Inkrafttreten des UmRUG vor Ende Februar 2023 völlig aussichtslos. Die Folgen der „Blutgrätsche“ reichen jedoch weiter als eine bloße Verzögerung. Das UmRUG wird nun inhaltlich behandelt werden müssen. Es werden Anpassungen erforderlich, die dem verspäteten Inkrafttreten geschuldet sind. Es könnte angesichts der Verknüpfung mit anderen Gesetzgebungsvorhaben zu weiteren Verzögerungen kommen, die sich auf Wochen oder Monate erstrecken könnten.

Besonders hart trifft der unvorhergesehene Ausfall des UmRUG als Schlüsselspieler des grenzüberschreitenden Umwandlungsrechts nun die Praxis. Verschmerzbar wäre zwar das Zwangsgeld, welches der Bundesrepublik für die verspätete Richtlinienumsetzung droht. Weit schwerer wiegt jedoch, dass die Praxis nun auch ohne das UmRUG grenzüberschreitende Umwandlungen durchführen müssen wird. Mit Ablauf des 31.01.2023 droht hier enorme Rechtsunsicherheit. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist wird zu prüfen sein, inwiefern und welche Regelungen der Umwandlungsrichtlinie unmittelbare Anwendung finden müssen. Ein Rückgriff auf die EuGH-Rechtsprechung allein wird zur Durchführung grenzüberschreitender Umwandlungen jedenfalls wohl nicht mehr in Betracht kommen. Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt, „[…] dass sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat“ (EuGH v. 5. 10. 2004 – C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835). Für eine unmittelbare Wirkung einer Richtlinienvorschrift müssen demnach drei Voraussetzungen vorliegen (ausführlich Herrmann/Michl, JuS 2009, 1065):
1. ein Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung, etwa wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht oder nicht rechtzeitig umgesetzt hat,
2. hinreichende inhaltliche Bestimmtheit der fraglichen Vorschrift, diese muss also einen hinsichtlich Tatbestand und Rechtsfolge vollständigen Rechtssatz enthalten, der im Einzelfall von einem Gericht angewendet werden kann und
3. inhaltliche Unbedingtheit der Vorschrift; der Eintritt der Rechtsfolge darf also nicht von einer Entscheidung eines Mitgliedstaats abhängen.
Diese Voraussetzungen wären sodann für jede einzelne Richtlinienvorschrift, die in einem konkreten grenzüberschreitenden Umwandlungsverfahren zur Anwendung kommen könnte, zu prüfen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ergebnis einer dann evtl. gebotenen unmittelbaren Anwendung der Richtlinie nicht unbedingt im Einklang mit der im UmRUG vorgesehen Umsetzung stehen könnte. Weiterhin könnte der missliche Fall auftreten, dass einer der weiteren an einer grenzüberschreitenden Umwandlungsmaßnahme beteiligten Staaten die Richtlinie bereits umgesetzt hat und die Abstimmung mit den dortigen Umsetzungsnormen weitere Komplexität für die Umwandlung schafft. Zuletzt entsteht eine besondere Problemsituation, wenn das UmRUG während eines laufenden Umwandlungsverfahrens in Kraft tritt und unklar sein wird, welche Regelungen nun Geltung beanspruchen. Verschärfend wirkt, dass das Gesetz zur Umsetzung der Bestimmungen der Umwandlungsrichtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen vom Bundestag bereits am 01.12.2022 angenommen wurde (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw41-de-umwandlungsrichtlinie-912976) und daher schon vor dem UmRUG ausgefertigt werden und in Kraft treten könnte.

Es bleibt daher festzuhalten, dass das Finale des Erlasses des UmRUG nur als Akt schlechter, kurzsichtiger und nicht allgemeinwohlorientierter Gesetzgebung betrachtet werden kann. Die Folgen der nicht fristgerechten Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie könnten der Gestaltungs- und Beratungspraxis, ebenso wie den Gerichten zukünftig noch einige schwerwiegende Probleme bereiten.

Bundesrat „vertagt“ UmRUG und stimmt Gesellschaftsregister-VO (GesRV) sowie der Änderung der Handelsregisterverordnung (HRV) zu

I. Rückverweisung des UmRUG an den Rechtsausschuss – kein Inkrafttreten zum 31.1.2023

1. Der Bundestag hat am vergangenen Donnerstag, dem 15.12.2022, den Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie“ (BT-Drucksache 20/3822) nach knapp halbstündiger Debatte nicht verabschiedet, sondern gem. § 82 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Bundestages einstimmig an den federführenden Rechtsausschuss zurücküberwiesen und die Abstimmung abgesetzt. Der offizielle parlamentarische Hintergrund der Rücküberweisung bestand darin, dass der zuständige Ausschuss des Bundesrates der Fristverkürzungsbitte des Bundestages nicht zugestimmt hatte und das Gesetz daher nicht vor Februar 2023 im Bundesrat beraten werden kann. Im parlamentarischen Verfahren hatte der Rechtsausschuss des Bundestages noch Änderungen am UmRUG beschlossen (BT-Drucksache 20/4806). So wurde das UmRUG in der Gestalt eines Artikelgesetzes durch diverse sachfremde Gesetzesänderungen erweitert, die insbesondere das HGB, das VVG, das FamFG sowie das Lobbyregistergesetz (LobbyRG) betreffen.

2. Die kurzfristig vor Jahresultimo geplante Änderung des LobbyRG – also nicht etwaige inhaltliche Einwände gegen das UmRUG als wesentlicher Bestandteil des zu einem eigenartigen Artikelgesetz mutierten Gesetzentwurf – war nach den Ausführungen des Bundestagsabgeordnete Stephan Mayer (CSU) in der Plenardebatte der wahre Grund für die Ablehnung der Fristverkürzung durch den Bundesrat. Nach Art. 23 UmRUG (Änderung des Lobbyregistergesetzes) soll dem § 3 LobbyRG (BGBl. I S. 818) folgender Absatz 5 angefügt werden: „Absatz 1 Nummer 7 Buchstabe a und b ist bei Schenkungen Dritter bis einschließlich 31.12.2023 nicht anzuwenden.“ § 3 Abs. 1 LobbyRG regelt die Informationen, die Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter im Lobbyregister bereitstellen müssen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 7 lit. a) und b) müssen u.a. bei Schenkungen Dritter ab einem bestimmten Umfang der Name der Geberin oder des Gebers sowie der Wohnort bzw. Sitz der Geberin oder des Gebers angegeben werden.

Stephan Mayer (CSU) deklamierte im Namen der CDU/CSU-Fraktion, dass diese Änderung des LobbyRG vor allem eingedenk des aktuellen Korruptionsskandals im Europäischen Parlament nicht akzeptabel sei. Zudem sei mit der Änderung des LobbyRG eine „vollkommen sachfremde Materie“ im UmRUG platziert worden. Stephan Mayer signalisierte zwar in Bezug auf das UmRUG im engeren Sinne eine Zustimmungsbereitschaft der CDU/CSU, die Änderung des LobbyRG müsse aber davon abgekoppelt werden.

3. Das UmRUG wird aus den dargelegten Gründen definitiv nicht – wie geplant – am 31.1.2023 in Kraft treten. Die nächste planmäßige Sitzung des Bundesrats findet erst am 10.2.2023 statt. Der Bundestagsabgeordnete Dr. Thorsten Lieb (FDP) erläuterte in der Plenardebatte vom 15.12.2022 für die Fraktionen der „Ampel-Koalition“, dass angesichts dieser Terminlage durch eine Verabschiedung des UmRUG ein „verfassungsrechtliches Risiko“ entstanden wäre. Das Inkrafttreten des UmRUG müsse, so Dr. Thorsten Lieb, jetzt neu geregelt werden. Realistisch wird nunmehr wohl eine Geltung ab Mitte Februar 2023 sein.

II. Zustimmung des Bundesrats zur Verordnung des BMJ über die Einrichtung und Führung des Gesellschaftsregisters (GesRV) und zur Änderung der Handelsregisterverordnung (HRV)

1. Der Bundesrat hat in seiner 1029. Sitzung am 16.12.2022 gem.
Art. 80 Abs. 2 GG der Verordnung des BMJ über die Einrichtung und Führung des Gesellschaftsregisters (GesRV) und zur Änderung der Handelsregisterverordnung (HRV) zugestimmt (BR-Drucksache 560/22, Beschluss vom 16.12.2022). Mit der Verabschiedung der GesRV besteht – bereits ein Jahr vor Inkrafttreten des MoPeG am 1.1.2024 – eine valide Rechtsgrundlage für den die rechtsfähige GbR i.S.d. § 705 Abs. 2 Var. 1 BGB betreffenden Registerbetrieb und die daran beteiligten Parteien. Gegenüber dem Referentenentwurf des BMJ (vgl. dazu Wertenbruch, GmbHR-Blog vom 22.6.2022) ergeben sich nur marginale Änderungen. Hervorzuheben ist die in § 4 Abs. 2 Nr. 2 lit. c) GesRV aufgenommene Erweiterung in Bezug auf die Eintragung von Zweigniederlassungen der GbR. Einzutragen ist demnach auch die inländische Geschäftsanschrift der Zweigniederlassung.

2. Nach § 9 Abs. 1 S. 1 HRV bezüglich der Aufnahme von Dokumenten in den Registerordner wird folgender Satz eingefügt: „Aufgenommen werden sollen solche Dokumente, deren Einreichung zum Handelsregister durch Rechtsvorschriften besonders angeordnet ist; hiervon ausgenommen sind jedoch Dokumente, die gemäß § 12 Absatz 1 Satz 5 des Handelsgesetzbuchs eingereicht werden.“ § 9 Abs. 1 S. 2 HRV stellt zum einen klar, dass nur solche Dokumente in den Registerordner aufgenommen werden sollen, deren Einreichung – wie bspw. in § 12 Abs. 1 S. 1 HGB (Handelsregisteranmeldungen), § 8 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG (Gesellschaftsvertrag) oder § 17 Abs. 1 UmwG (Umwandlungsverträge) – durch besondere (handels-)rechtliche Vorschriften angeordnet ist (BR-Drucksache 560/22, S. 28). Zudem wird durch den eingefügten § 9 Abs. 1 S. 2 der HRV klargestellt, dass Dokumente, die nach § 12 Abs. 1 S. 5 HGB eingereicht werden, wie bspw. Erbscheine, Erbverträge, öffentliche Testamente oder Europäische Nachlasszeugnisse, nicht in den Registerordner aufgenommen werden sollen (BR-Drucksache 560/22, S. 28). Die Einsicht in diese Unterlagen sei nicht notwendig, da der Zweck des Handelsregisters nicht darin bestehe, eine Erbfolge nachzuweisen (BT-Drucksache 560/22 vom 2.11.2022, S. 28).

3. Der Bundesrat hat neben dem in Rede stehenden Zustimmungsakt einen weiteren Beschluss gefasst, der auf der Befürchtung beruht, dass mit der Zunahme von Zugriffen auf die zum Handelsregister einzureichenden Dokumente auch Datensammlungen außerhalb des Handelsregisters aufgebaut und ausgewertet werden (BR-Drucksache 560/22, Beschluss vom 16.12.2022, S. 1 f.). Der Bundesrat fordert daher das BMJ auf, unter Einbindung der Länder zu prüfen, auf welche Weise einer missbräuchlichen Verwendung der Daten, insbesondere durch sog. Data-Mining begegnet werden kann (BR-Drucksache 560/22, Beschluss vom 16.12.2022, S. 1 f.). Das Missbrauchsrisiko beziehe sich insbesondere auf massenhafte Downloads auf Vorrat, den Aufbau von sog. Parallelregistern und die Weiterverarbeitung des Datenbestandes mit Methoden aus dem Bereich „big Data“ (BR-Drucksache 560/22, Beschluss vom 16.12.2022, S. 1 f.).

Listing Act: Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Ende 2021 kündigte die Europäische Kommission an, im Rahmen eines sog. „Listing Act“ Regelungen vorzuschlagen, die die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts steigern sollten. Der Ankündigung folgte eine öffentliche Konsultation, die bis Februar 2022 dauerte (zu den Stellungnahmen Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 18 ff.). Nach einer längeren Funkstille präsentierte die EU-Kommission am 7.12.2022 ein umfangreiches Regelungspaket mit mehreren Entwürfen, die das Insolvenzrecht, das Clearing (u.a. Anpassung der EMIR und weiterer Verordnungen sowie der OGAW-RL und weiterer Richtlinien), die Mehrstimmrechte, die Änderung der EU-ProspektVO, der MAR und der MiFIR sowie die Änderung der MiFID II und die Abschaffung der Wertpapierzulassungs-RL 2001/34/EG betreffen.

Im Gesellschaftsrechts-Blog werden wir die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Pläne der EU-Kommission darstellen; das Vorhaben wird auch Gegenstand eines Beitrags im AG-Report sein.

Die (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie

Da aus einer gesellschaftsrechtlichen Perspektive der Entwurf einer Mehrstimmrechtsaktien-RL (s. COM(2022) 761 final) im Zentrum des Interesses stehen dürfte, konzentrieren wir uns im ersten Teil auf die Mehrstimmrechtsaktien, die in Deutschland bekanntlich seit 1998 nach § 12 Abs. 2 AktG unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Ankündigung ihrer Wiedereinführung durch die EU-Kommission – und durch das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (s. dazu Kuthe, AG 2022, R208 und meinen Zwischenruf) – eine Flut von Beiträgen auslöste, die sich mit den Vor- und Nachteilen dieses Governance-Instruments auseinandersetzen (vgl. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275; Nicolussi, AG 2022, 753).

Nun macht die EU-Kommission einen ersten Aufschlag und will die Emission von Mehrstimmrechtsaktien europaweit ermöglichen. Dabei definiert sie die Mehrstimmrechtsaktien in Art. 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als Aktien, die zu einer gesonderten und separaten Gattung gehören und mit höherem Stimmgewicht ausgestattet sind als eine andere Gattung von Aktien, die ein Stimmrecht in Angelegenheiten gewähren, die im Rahmen der Hauptversammlungskompetenzen liegen. Emittiert eine Gesellschaft solche Mehrstimmrechtsaktien, verfügt sie nach Art. 2 lit. c Mehrstimmrechtsaktien-RL-E über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur.

Überdies legt Art. 2 lit. f Mehrstimmrechtsaktien-RL-E fest, dass unter gewichtetem Stimmverhältnis das Verhältnis der mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Stimmen zu den Stimmen, die mit den „regulären“ Aktien verbunden sind, zu verstehen ist (lit. f). Ansonsten erschöpft sich der Katalog des Art. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E in Verweisungen auf Definitionen der Gesellschaft (erfasst ist nach lit. a nur die AG, nicht aber die GmbH), des Handelsplatzes (lit. d) und des KMU-Wachstumsmarktes (lit. e) in anderen Regelwerken.

Was die Zulässigkeit und Ausgestaltung der Mehrstimmrechtsaktien angeht, verfolgt die EU-Kommission das Konzept der Mindestharmonisierung: Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, Regelungen über die Zulässigkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen beizubehalten und/oder neu einzuführen (zur Verbreitung der Mehrstimmrechtsaktie in der EU Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 16; zur Ausgestaltung s. Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277). Zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soll Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E beitragen, der eine Pflicht zur Gestattung der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert:

  • Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt den Mitgliedstaaten vor, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen durch Unternehmen zu gestatten, deren Aktien nicht zum Handel an einem Handelsplatz zugelassen sind und die eine Zulassung von Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt (s. § 76 WpHG) in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten beantragen wollen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E untersagt, die Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt mit der Begründung zu verweigern, dass ein Unternehmen über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur verfügt.
  • Den Unternehmen soll nach Art. 4 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit offenstehen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen rechtzeitig vor der Beantragung der Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einzuführen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 4 Abs. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E gestattet, die Ausübung der mit den Mehrstimmrechtsaktien verbundenen erweiterten Stimmrechte an die tatsächliche Zulassung der Aktien zu knüpfen.

Mehrstimmrechtsaktie als Instrument der Machtsicherung

Die Ausgestaltung des Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E und die Erwägungsgründe machen deutlich, dass die EU-Kommission die Mehrstimmrechtsaktie nicht nur als eine gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption, sondern als ein Instrument begreift, das die Attraktivität des Kapitalmarkts für kleine und mittlere Unternehmen steigern soll. Die wirtschaftlichen Eigentümer solcher Unternehmer – häufig dürfte es sich um Start-ups oder Familiengesellschaften handeln – sollen die Möglichkeit haben, den öffentlichen Kapitalmarkt zu betreten, ohne dabei das Risiko einzugehen, die Macht in der Hauptversammlung zu verlieren; die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sollen also der Machterhaltung und -sicherung dienen.

Ob sich die Geldgeber auf solche Machtverhältnisse einlassen und tatsächlich in die Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen investieren, steht auf einem anderen Blatt (zur Skepsis der Investoren und Stimmrechtsberater im angelsächsischen Rechtsraum Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen; zu den Erwartungen des Kapitalmarkts ferner Denninger, DB 2022, 2329, 2334).

Aktionärsschutz durch Verfahrensrecht

Im Hinblick auf die Machtungleichgewichte, die mit Mehrstimmrechtsaktien einhergehen, überrascht es nicht, dass die EU-Kommission dem Schutz der Aktionäre, die „reguläre“ Aktien halten, Sorge tragen will (vgl. Erwägungsgrund 10 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E; generell zum Minderheitenschutz Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 32 ff.; vgl. ferner Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277 f.). Dabei ist zum einen zwischen zwei Anlässen zu differenzieren, aus denen der Aktionärsschutz geboten sein kann: erstens, wenn ein Unternehmen eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur einführt, und zweitens, wenn die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien diese nutzen, um einen Beschluss zu fassen. Zum anderen kommen unterschiedliche Schutzinstrumente in Betracht, und zwar Verfahrensregelungen einerseits, materiell-rechtliche Regelungen andererseits.

Blickt man auf das Richtlinienkonzept, soll der Aktionärsschutz in erster Linie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen im Zusammenhang mit der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sichergestellt werden:

  • Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt vor, dass der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer qualifizierten Mehrheit bedarf; in Deutschland handelt es sich um die ¾-Kapitalmehrheit des § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.
  • Überdies müssen die Inhaber der Aktien besonderer Gattungen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit haben, einen Sonderbeschluss zu fassen, soweit ihre Rechte durch die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien betroffen sind (vgl. dazu §§ 138, 179 Abs. 3 AktG und Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 37).
  • Ferner muss das Stimmgewicht der Mehrstimmrechtsaktien nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E der Höhe nach begrenzt werden (hierzu generell Denninger, DB 2022, 2329, 2335).
  • Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sieht eine Öffnungsklausel für weitere nationalen Schutzmaßnahmen zugunsten der Aktionäre und der Gesellschaft vor. Die in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E genannten Bestimmungen – zum einen Verfallsklauseln, zum anderen Auflösungsklauseln – haben wie Art. 5 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einen eher verfahrensrechtlichen Charakter.

Aktionärsschutz durch materielles Recht

Ein Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen ist im Richtlinienentwurf zwar nicht vorgesehen, indes dürfte die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E den Mitgliedstaaten erlauben, die Minderheit durch inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und der Ausübung der Mehrstimmrechte zu schützen. Dafür spricht auch Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E, der das Ermessen der Mitgliedstaaten betont.

Im Lichte von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E dürfte in Deutschland eine Diskussion darüber entflammen, ob ein Beschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer sachlichen Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Kali+Salz-Rechtsprechung bedarf (BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40). Die Antwort ist kurz und einfach: nein. Es ist absehbar, dass die Erforderlichkeit der sachlichen Rechtfertigung mit dem Standardargument abgelehnt wird, die gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen trage den sachlichen Grund in sich (so der Sache nach bereits für die Einführung der Höchststimmrechte BGH v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, BGHZ 70, 117).

Sollte die Diskussion den BGH erreichen, wäre es ein willkommener Anlass, das Konzept der materiellen Beschlusskontrolle generell zu überdenken, sich dabei vom Grundsatz sachlicher Rechtfertigung – der bei Lichte besehen nur für die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung eine Rolle spielt, in diesem Kontext aber wegen der Möglichkeit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle obsolet ist – zu verabschieden und auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht als das maßgebliche Schutzinstrument zu verweisen. Freilich wird ein Treuepflichtverstoß bei Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen tendenziell fernliegen.

Eine Treuepflichtverletzung dürfte hingegen eher in Betracht kommen, wenn sich die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen der Stimmrechtsausübung hinsichtlich anderer Beschlussgegenstände allzu opportunistisch verhalten und die Interessen der Minderheitsaktionäre missachten. Wer wegen der Mehrstimmrechtsaktienstruktur über eine besondere Machtposition verfügt, muss auf die beweglichen Schranken der Stimmrechtsmacht achten. Anderenfalls kann der auf Mehrstimmen beruhende Hauptversammlungsbeschluss wegen eines Inhaltsfehlers nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein. Überdies kommt es in Betracht, den Aktionärsschutz mit Hilfe konzernrechtlicher Instrumente sicherzustellen (s. nur Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 40). Es dürfte im Lichte des Erwägungsgrundes 12 und des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E unbedenklich sein, auf diese tradierten Grundsätze des deutschen Aktienrechts zurückzugreifen, auch wenn sich die Richtlinie dazu nicht explizit äußert.

Mehrstimmrechtsaktie im ESG-Zeitalter

Während der Richtlinienentwurf den Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen weitgehend vernachlässigt, wird in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d deutlich, dass der Vorschlag im ESG-Zeitalter entwickelt wurde. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E enthält nämlich eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (vgl. ferner Erwägungsgrund 11 Satz 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Ausübung der Mehrstimmrechte mit einer solchen Zielrichtung unzulässig ist.

Gegen eine solche Vorschrift ist im Ausgangspunkt nichts einzuwenden, die mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einhergehende Übergewichtung der Umwelt- und Sozialaspekte zulasten der Governance-Probleme – die im Zusammenhang mit Mehrstimmrechtsaktien auf der Hand liegen (s. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Nicolussi, AG 2022, 753) – ist aber doch nicht unbedenklich. Es ist verblüffend, dass der europäische Richtliniengeber der Verfolgung exogener Ziele mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Lösung herkömmlicher aktienrechtlicher Regelungsaufgaben. Gleichwohl dürfte dieser Fokus jedenfalls in Deutschland im Ergebnis hinnehmbar sein, wenn man den Aktionärsschutz qua Treuepflicht und Konzernrecht nicht aus den Augen verliert.

Zugleich könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E eine Diskussion um das Zusammenspiel zwischen dem Menschenrechts- und Umweltschutz und der materiellen Beschlusskontrolle auslösen. Aus der Perspektive der deutschen Beschlussdogmatik könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als eine Regelung gedeutet werden, die es erlaubt, die Hauptversammlung dem interessenpluralistischen Zielkonzept zu unterwerfen. Ein solches Verständnis führte dazu, dass ein Anfechtungsgrund wegen eines Inhaltsfehlers angenommen werden könnte, wenn die Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung Umwelt- und Sozialbelange missachtet – und zwar unabhängig davon, ob der fragliche Beschluss durch Mehrstimmrechtsaktien getragen wird oder in Gesellschaften ohne Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gefasst wird. Dieser Ansatz ist bei unbefangener Betrachtung kontraintuitiv, weil er die shareholder dazu zwingt, im Rahmen der Beschlussfassung die Interessen der stakeholder in ihre Abwägung einzubeziehen. Berücksichtigt man indes die aktuelle Debatte zum „Say on ESG“ und die ESG-bezogenen Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich des Unternehmens- und Wirtschaftsrechts, erscheint die Idee der Hauptversammlung als Agenten der Menschenrechte und der Umwelt nicht gänzlich unplausibel.

Anlegerschutz durch Transparenzpflichten

Dem kapitalmarktrechtlichen Charakter des Richtlinienentwurfs trägt dessen Art. 6 Rechnung, der – im Einklang mit dem Informationsmodell des europäischen Kapitalmarktrechts – Transparenzpflichten für Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert. Solche Unternehmen müssen gem. Art. 6 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E im Wachstumsemissionsdokument i.S.d. Art. 15a EU-ProspektVO-E oder im Zulassungsdokument i.S.d. Art. 33 Abs. 3 lit. c MiFID II sowie im Jahresfinanzbericht eine Reihe von Umständen offenlegen. Hierzu zählen die Kapitalstruktur des Unternehmens (lit. a), die Beschränkungen hinsichtlich der Wertpapierübertragung (lit. b), die Sonderrechte und ihre Inhaber (lit. c), die Stimmbindungen (lit. d) und die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien (lit. e sowie Art. 6 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Die Erfüllung der Transparenzpflichten soll den Anlegern einen Einblick in die Unternehmensstrukturen ermöglichen und damit eine Grundlage für eine informierte Investitionsentscheidung schaffen (vgl. auch Erwägungsgrund 13 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Umsetzungsoptionen des deutschen Gesetzgebers

Wird die Mehrstimmrechte-RL wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen, ist § 12 Abs. 2 AktG in seiner aktuellen Fassung hinfällig. Gleichwohl stehen dem deutschen Gesetzgeber mehrere Umsetzungsoptionen offen (generell zur Umsetzung Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 23 ff.). Namentlich wird er im Rahmen der Umsetzung die Frage beantworten müssen, ob er die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in enger Anlehnung an Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nur für Unternehmen öffnet, deren Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt zugelassen sind, oder ob er darüber hinaus – und im Einklang mit Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E – das Aktienrecht weitergehend dereguliert und das Verbot der Mehrstimmrechte generell aufhebt. Die Aussagen im Eckpunktepapier für das Zukunftsfinanzierungsgesetz deuten darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber die Mehrstimmrechte in erster Linie als ein Instrument für Wachstumsunternehmen und Start-ups ansieht. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn das Verbot der Mehrstimmrechte nur insoweit entfällt, als Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E es erfordert.

Zwingend ist eine solche minimalinvasive Umsetzung freilich nicht. Da Mehrstimmrechte in Publikumsgesellschaften größeren Bedenken ausgesetzt sind als in geschlossenen Gesellschaften und die Zulässigkeit der Mehrstimmrechte in der GmbH konsentiert ist, spricht viel dafür, von der Gestaltungsoption des Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E jedenfalls für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften Gebrauch zu machen (dafür etwa Habersack, AG 2009, 1, 10 f.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1898 f.).

Für börsennotierte Unternehmen, deren Aktien nicht nur an einem KMU-Wachstumsmarkt gehandelt werden und die deshalb nicht von Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E erfasst sind, dürfte ein Abschied von § 12 Abs. 2 AktG schwieriger zu rechtfertigen sein (zu den Bedenken wegen der Ausschaltung des externen Effizienzdrucks am Kapitalmarkt Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Ein solcher Schritt wäre jedenfalls nur dann rechtspolitisch haltbar, wenn der Gesetzgeber für ein mit Art. 5 und 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E vergleichbares Schutzniveau sorgt. Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftsrechtlichen Schutzvorkehrungen und kapitalmarktrechtlichen Transparenzpflichten würde es erlauben, die Entscheidung über die Investition in ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur dem privatautonomen Urteil der Kapitalmarktakteure zu überlassen, statt diese zu bevormunden.

Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Stimmrechtsberater den Mehrstimmrechten kritisch gegenüberstehen und ihre Skepsis zum einen den Investoren bei der Entscheidungsfindung behilflich sein könnte, zum anderen einen externen Druck auf Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und die bevorzugten Aktionäre erzeugen würde (zur Position der Stimmrechtsberater vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen).

 

Die digitale Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab 1.1.2023

Zum 1.1.2023 kommt (endgültig) die elektronische AU-Bescheinigung (eAU): Jährlich wurden bislang laut AOK mehr als 77 Millionen Arbeitsunfähigkeiten in Deutschland festgestellt und mittels Papiervordruck in dreifacher Ausführung von Ärzten bescheinigt. Der „gelbe Schein“ als Ausfertigung für die Krankenkasse entfällt vollständig und muss von den Versicherten nicht mehr selbst an ihre Kasse oder den Arbeitgeber übermittelt werden. Ob diese Digitalisierung den angestrebten Einspareffekt erbringen wird, wurde und wird bezweifelt (frühzeitig bereits Weichert, CuA 2019, 25). Die Ärzte müssen ab 1.1.2023 die notwendige technische Ausstattung sicherstellen, die bisherige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit den bekannten Durchschlägen scheidet aus. Die Neuregelung sollte zum 1.7.2022 in Kraft treten, wurde aber auf den 1.1.2023 hinausgeschoben (instruktiv Otto/Millgramm, ArbRB 2022, 87, dort auch zu mitbestimmungsrechtlichen Aspekten).

Im Wesentlichen gilt ab dem 1.1.2023 gemäß § 109 SGB IV Folgendes, wozu § 5 EFZG um einen neuen Abs. 1a ergänzt wurde (vgl. praxisorientiert auch „Die wichtigsten Arbeitgeberfragen zu eAU“, abrufbar unter https://www.aok.de/fk/sozialversicherung/entgeltfortzahlung-und-ausgleichsverfahren/elektronische-au-bescheinigung/elektronische-au-bescheinigung/):

I. Die wesentliche Änderung durch die eAU

Für die gesetzliche versicherten Arbeitnehmer sind die Krankenkassen verpflichtet, aus den Daten, die ihnen aus der Übermittlung nach § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V aus der Ärzteschaft in den Fällen einer Arbeitsunfähigkeit vorliegen, eine Meldung zum Abruf für die Arbeitgeber zu erzeugen, die diese insbesondere über den Beginn und das Ende einer Arbeitsunfähigkeit ihrer Arbeitnehmer unterrichtet. Die Arbeitnehmer, die von dieser Regelung betroffen sind, bleiben allerdings gemäß § 5 Abs. 1 a EFZG verpflichtet, das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer ärztlicherseits feststellen zu lassen, auch wenn die Verpflichtung zur Vorlage der entsprechenden Bescheinigung beim Arbeitgeber entfällt. Das führt dazu, dass der Arbeitgeber nicht mehr die Aushändigung einer AU-Bescheinigung durch den gesetzlich versicherten Arbeitnehmer verlangen kann, die bisherige Bringschuld wird zu einer Holschuld umgewandelt, denn der Arbeitgeber muss die eAU abrufen. Unverändert gilt aber die Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Denn Voraussetzung für den Abruf der Informationen bleibt natürlich, dass der Arbeitnehmer, bei welchem eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ärztlicherseits festgestellt ist, hierüber dem Arbeitgeber diese Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG ordnungsgemäß mitgeteilt hat. Neben den Ärzten übermitteln auch ab 1.1.2023 die Krankenhäuser die Zeiten eines stationären Aufenthalts im Rahmen der eAU an die Krankenkassen. Die eAU beinhaltet auch die Angabe, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Arbeitsunfähigkeit auf einem Arbeitsunfall, sonstigen Unfall oder auf den Folgen einer Berufskrankheit beruht. Stationäre oder ambulante Reha-Maßnahmen werden hingegen nicht elektronisch bereitgestellt.

II. Denkbare Störfälle der eAU

Denkbare Störfälle der eAU können ab dem 1.1.2023 sein:

Es dürfte einen störenden zeitlichen Nachlauf geben. Denn in vielen Fällen wird die tatsächliche ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers erst am vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit erfolgen. Wegen der zeitversetzten Übermittlung vom Arzt an die Krankenkasse spätestens am Ende des Tages ist eine Abfrage der eAU-Daten laut AOK frühestens einen Kalendertag nach der ärztlichen Feststellung sinnvoll, also sogar erst am fünften Kalendertag der gemeldeten Arbeitsunfähigkeit. Dies gilt ebenso bei einer Verpflichtung zur Vorlage der AU-Bescheinigung ab dem ersten Tag: Hier ist die Abfrage der eAU-Daten frühestens einen Kalendertag nach der verpflichtenden ärztlichen Feststellung laut AOK für den Arbeitgeber sinnvoll, also erst am zweiten Tag der Arbeitsunfähigkeit. Dies setzt sich fort bei Folgekrankschreibungen: Denn hier ist laut AOK eine Abfrage der eAU frühestens einen Kalendertag nach dem bisherigen Ende der Arbeitsunfähigkeit für den Arbeitgeber sinnvoll.

Ferner kann ein Störfall auch bei vorzeitiger Genesung mit vorzeitigem Arbeitsantritt eintreten: Denn der Krankenkasse wird hierbei nicht automatisch bekannt, wenn der Genesene die Arbeit wieder (früher) aufnimmt. Dann weichen die gespeicherten AU-Daten von der tatsächlichen Lage ab.

Insbesondere aber die Klärung von Vorerkrankungen erscheint streitträchtig. Denn zur Klärung der anrechenbaren Vorerkrankungen soll der Arbeitgeber aktiv bei der Krankenkasse nachfragen müssen. Als Voraussetzung für die Anfrage gilt, dass die aktuelle eAU-Bescheinigung vorliegen muss.  Außerdem soll laut AOK mindestens eine bescheinigte potenzielle Vorerkrankung in den letzten sechs Monaten vor Beginn der aktuellen Arbeitsunfähigkeit vorhanden sein. Die kumulierten Zeiten aller potenziellen Vorerkrankungen müssen inklusive der aktuellen Arbeitsunfähigkeit mindestens 30 Tage betragen. Diese angekündigte AOK-Herangehensweise steht nicht in Einklang mit der BAG-Rechtsprechung zu den Grundsätzen des einheitlichen Verhinderungsfalles (BAG v. 11.12.2019 – 5 AZR 505/18, ZIP 2020, 788). Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist auch dann auf die Dauer von sechs Wochen beschränkt, wenn während bestehender Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls). Ist der Arbeitnehmer innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 EFZG länger als sechs Wochen arbeitsunfähig, ist die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ausreichend, weil sie keine Angaben zum Bestehen einer Fortsetzungserkrankung enthält. Der Arbeitnehmer muss deshalb darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt. Bestreitet der Arbeitgeber das Vorliegen einer neuen Krankheit, obliegt dem Arbeitnehmer die Darlegung der Tatsachen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen Um dieser abgestuften Darlegungslast gerecht zu werden, muss der Arbeitnehmer grundsätzlich zu allen Krankheiten im Jahreszeitraum substantiiert vortragen. Er kann nicht eine „Vorauswahl“ treffen und nur zu denjenigen Erkrankungen vortragen, die ihm als möglicherweise einschlägig erscheinen (LAG Hessen v. 14.12022 – 10 Sa 898/21, nrkr., im Anschluss an BAG v. 31.3.2021 – 5 AZR 197/20, DB 2021, 1822). Hieran wird offensichtlich, dass die Arbeitsgerichtsbarkeit die Arbeitnehmerpflichten bei denkbaren Vorerkrankungen viel weiter fasst, als die angekündigte Herangehensweise der AOK dies ab dem 1.1.2023 zur eAU vorsieht, wobei hier Beweisfragen zu der neuen eAU (vgl. bereits Ricken, RdA 2022, 235) wichtig werden.


Hinweis der Redaktion
Mehr zum Thema:

  • ArbRB-Blog: Kleinebrink, Hilfe bei der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
  • ArbRB 2022, 364: Kleinebrink, Die allgemeine Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zum 1.1.2023 – Individual- und kollektivrechtliche Konsequenzen
  • ArbRB 2022, S9: Kleinebrink, Muster: Hinweisschreiben an Arbeitnehmer zur neuen elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
  • ArbRB 2022, S10: Muster: Betriebsvereinbarung zur Regelung des Verhaltens bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nach Inkrafttreten der Regelungen zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
  • ArbRB 2022, 87 ff.: Otto/Millgramm, Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Auswirkungen

SanInsKG in Kraft

Das Gesetz zur Abschaffung des Güterrechtsregisters und zur Änderung des COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes ist am 8.11.2022 im Bundesgesetzblatt verkündet worden, das SanInsKG ist als Teil davon am Tag danach in Kraft getreten. Im Folgenden sollen das Gesetzgebungsverfahren und die Inhalte des Gesetzes kritisch betrachtet werden.

I. Verkappte Regierungsentwürfe

Warum wird an dieser Stelle etwas zum Thema eheliches Güterrecht berichtet? Das liegt an der Gesetzgebungskultur, die vor vielen Jahren in Deutschland Einzug gehalten hat und in der Krisenära seit Corona ihre Blütezeit erlebt. Gesetzentwürfe der Bundesregierung heißen heutzutage nur noch manchmal Gesetzentwürfe der Bundesregierung. Soll es schnell gehen, betitelt man sie „Formulierungshilfe“ und sorgt dafür, dass sie nicht – wie in der Verfassung für ordentliche Gesetzentwürfe der Bundesregierung vorgeschrieben – erst zum Bundesrat gelangen und von dort aus in den Deutschen Bundestag, sondern eine Abkürzung nehmen: Vom Bundeskabinett direkt in die Hände von Abgeordneten des Bundestags, mit deren (vermeintlicher) Autorenschaft versehen in den Rechtsausschuss, dort an einen beliebigen Gesetzentwurf angeheftet, dann in zweiter und dritter Lesung (die erste findet nur im Grundgesetz statt und gilt für den Entwurfsteil, den man mehr oder weniger zufällig im Rechtsausschuss auf einem Stapel vorfand) verabschiedet, vom Bundespräsidenten unterzeichnet (der mit dem Verfahren offensichtlich einverstanden ist, es womöglich in Zeiten der eigenen Mitgliedschaft in einer Regierung selbst genutzt hat) und amtlich verkündet. Im Fall des SanInsKG war es ein Gesetz zum Familienrecht, das im Rechtsausschuss auf Verabschiedung wartete, und so verknüpft sich das Schicksal der deutschen Wirtschaftsunternehmen mit jenem von Ehe und Familie.

Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen, oder – amtlich kürzer – Sanierungs- und insolvenzrechtliches Krisenfolgenabmilderungsgesetz, so lautet der Lang- bzw. Kurztitel des Gesetzes, das mit SanInsKG auf die kürzeste Formel gebracht wird. Abmilderung, das kennt man nicht zuletzt aus der Zeit von COVID-19 (s. etwa den Buchtitel „COVID-19 Abmilderungsgesetze“, vom Verfasser dieser Zeilen im Jahre 2020 herausgegeben; 2. Auflage 2022 unter dem Titel „COVInsAG“). Es besagt so viel wie: Keine Lösung eines Problems, aber Linderung der Folgen. Und erfasst damit Phänomene, von denen der Gesetzgeber selbst schon im Titel seiner Maßnahme eingestehen muss, dass er sich zur restlosen Bewältigung außerstande sieht.

II. Gesetzesmantel neu befüllt

Das Gesetz, dessen Teil das SanInsKG bildet, nimmt ein anderes, bereits bestehendes Gesetz, ändert seinen Titel und fügt zwei Bestimmungen ein. Das andere Gesetz ist das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG). Denkt man in Kategorien des Gesellschaftsrechts, so würde man vermutlich von einem „Mantel“ sprechen: Eine Struktur, eine leere Hülle. Die Vorschriften, die dieses am 27.3.2020 verabschiedete und rückwirkend zum 1.3.2020 in Kraft getretene Gesetz zunächst mit sich brachte, später mehrfach verändert und ergänzt, entfalten fast durchweg keine Wirkung mehr. Sie waren gedacht, die Zahl von Insolvenzen zu begrenzen, indem man die Insolvenzantragspflicht – unter wechselnden Voraussetzungen – aussetzte. Hinzu kamen Regelungen der Rechtsfolgen und später Umgestaltungen des Insolvenzrechts, alles temporär.

Nun nimmt der Gesetzgeber also diesen Gesetzesmantel und führt ihn einem anderen Zweck zu. Handelte es sich um eine GmbH, so würde sich der Gegenstand fundamental ändern und die Gründungsvorschriften müssten im Wesentlichen noch einmal durchlaufen werden. War das Gesetz nämlich ursprünglich – wie schon der Titel zeigt – auf die Sondersituation einer bestimmten Pandemie ausgelegt, so hat sich der Gesetzgeber jetzt entschlossen, ein ganz anderes Krisenfeld zu bearbeiten: die Energiekrise. Das wird in den Vorschriften nicht explizit adressiert, ergibt sich aber aus dem Kontext und der Laufzeit. Der neue Name des Gesetzes ist ebenso neutral auf Krisen aller Art gemünzt wie der spärliche Inhalt. Immer neu befüllbar, je nach gerade akuter Krise.

III. Spärlicher Inhalt

Was bringt dieses Gesetz nun inhaltlich? Überraschend wenig. Der Kelch nochmaliger Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ist dieses Mal (bislang noch?) an der deutschen Wirtschaft vorbeigegangen. Seine im Grundsatz verheerenden Folgen (insbesondere das Züchten von Zombies mit allen Konsequenzen einer sich verlangsamenden Volkswirtschaft) waren in den letzten zwei Jahren nur deswegen nicht eingetreten, weil die Regierung schuldenbasiert bis dahin kaum vorstellbare Mengen Geldes in Form von Beihilfen in Unternehmen gegeben hat. Dieses Mal hätten die Folgen einschneidender ausfallen können, auch wenn nicht verkannt werden soll, dass ein vergleichbarer Reflex des „Wegkaufens“ von Problemen mit weiterem, geliehenen Geld (und nachfolgender Inflation) zu beobachten ist.

Die Prognosezeiträume der Insolvenzordnung und des StaRUG bei der Fortführungsprognose im Tatbestand der Überschuldung, der Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsplanung werden jeweils auf vier Monate verkürzt. Zwölf Monate – wie bisher bei der Überschuldungsprüfung – könne schließlich in Zeiten wie diesen niemand vorhersehen, heißt es zur Begründung. Das trifft in der Tendenz zu, wäre indes durch die Beobachtung zu ergänzen, dass angesichts einer drohenden Gasmangellage und unvorhersehbarer Preisentwicklung bei der (nicht durch eine staatliche Preisfixierung abgedeckten) Energiebeschaffung auch vier Monate noch eine lange Zeit darstellen.

IV. Geringer Anwendungsbereich

Außerdem wird die Höchstfrist zur Antragstellung in der Konstellation einer Überschuldung von sechs auf acht Wochen erhöht. Der Grundsatz bleibt insoweit, dass „ohne schuldhaftes Zögern“ gehandelt werden muss. Auswirkungen hat diese Verlängerung also nur, wenn die Geschäftsleitung bis zur sechsten Woche der Überschuldung noch seriös auf eine gute Entwicklung vertrauen darf und dann zu neuer Erkenntnis gelangt.

Nimmt man bei alledem in den Blick, dass unter fünf Prozent der Insolvenzanträge in der Praxis auf Überschuldung gründen, dann zeigt sich: Nennenswerte Veränderungen bringt dieses Gesetz nicht. Für die Lage auf dem Sektor Sanierung und Insolvenz kommt es auf diese Norm praktisch nicht an, sie zeigt nur denen, die es hören möchten, dass der Gesetzgeber „irgendetwas“ getan hat.

V. Perspektiven für den Restrukturierungsbereich

Ob es aber Restrukturierungs- oder Insolvenzfälle geben wird, hängt wie schon in der Corona-Zeit maßgeblich davon ab, wie viel Geld der Staat in die Wirtschaft gibt. Und das wiederum bedingt das Einverständnis der Europäischen Kommission mit erneuten gewaltigen Beihilfen, die wegen der damit typischerweise verbundenen Marktverzerrung grundsätzlich untersagt wären. In der Corona-Krise hat sich die EU großzügig, oder sollte man besser sagen: bereit gezeigt, die längerfristigen Grundsätze einer Sicherung funktionierender Marktwirtschaft hinter eine kürzer wirkende Staatsintervention zurücktreten zu lassen.

So könnte es im Ergebnis dabei bleiben, dass der Staat in Zeiten größter Krise – wie schon bei Auftreten von Corona – alles dafür tut, die praktische Anwendung seines dafür eigentlich geschaffenen Systems von Insolvenzregeln und Sanierungsinstrumenten zu vermeiden und stattdessen auf flächendeckende Beihilfen zu setzen. Das SanInsKG ist, soweit man ihm überhaupt eine Wirkung beimisst, ein kleiner Teil dieser größeren Strategie.

Aufsichtsratsvergütung und Umsatzsteuer – jetzt doch nur scheinbar geklärt?

Mit Urteil vom 27.11.2019 (V R 23/19 und V R 62/17) hatte der Bundesfinanzhof (BFH) unter anderem entschieden, dass Mitglieder des Aufsichtsrats hinsichtlich der Umsatzsteuererstattungen durch die Aktiengesellschaften nicht mehr als Unternehmer anzusehen seien. Die dadurch sich in der Praxis stellenden Fragen, insbesondere zu Übergangsregelungen, hatte das Bundesfinanzministerium (BMF) Mitte letzten Jahres dann geklärt – siehe BMF-Schreiben vom 8.7.2021 – III C 2 – S 7104/19/10001:003. Tragender Grund für die Versagung der Umsatzsteuer durch BFH wie BMF war das fehlende Unternehmer- bzw. Vergütungsrisiko der Aufsichtsratsmitglieder.

Die Praxis hat sich damit – roma locuta, causa finita – mittlerweile eingerichtet. Doch die schöne neue Weltordnung des V. Senats ist nun mit einem neuen Urteil zur Geschäftsführerhaftung des VI. Senats des BFH (Urteil vom 8.3.2022 – VI R 19/20) überraschend ins Wanken gebracht. Denn für diesen sind Aufwendungen für eine Haftungsinanspruchnahme unzweifelhaft lohn- und einkommensteuerlich Werbungskosten.

Geht man mit dieser (an sich überzeugenden) Einwertung zurück zur Aufsichtsratstätigkeit bzw. Vergütung, zeichnet sich mit Blick auf die latente Organhaftung aus § 116 AktG ein neues Bild. Da die Umsatzsteuerbarkeit von Aufsichtsratsvergütung aber nicht davon abhängen kann, ob man in/für ein Geschäftsjahr in Regress genommen wird, könnte die neue Entscheidung des VI. Sentas unseres Erachtens dafür sprechen, die Überlegungen des V. Senats, dem das aktienrechtliche Haftungsregime damals (noch?) nicht ausreichte, neu zu hinterfragen. Kurzum, die Diskussion ist hiermit eröffnet.

Zu Aufsichtsratsvergütung und Umsatzsteuer vgl. Mutter, AG 2019, R263; Vobbe/Stelzer, AG 2022, 519. Zum Urteil des BFH v. 8.3.2022 – VI R 19/20 vgl. Binnewies/Hischer, AG 2022, 771.

Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie: Nachgelagerte Verhandlungspflicht zur Durchsetzung nationaler Mitbestimmungsregeln? – Rechtliche Bewertung der Prüfbitte des Bundesrats

Die im Zuge des sog. „Company Law Package“ erlassene Umwandlungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/2121) zu grenzüberschreitenden Umwandlungen (Formwechsel, Verschmelzungen und Spaltungen) ist bis zum 31.1.2023 in nationales Recht umzusetzen. Hierfür sind in Deutschland zwei Artikelgesetze vorgesehen: Den gesellschaftsrechtlichen Rahmen soll das „Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie“ (UmRUG) regeln, den mitbestimmungsrechtlichen Rahmen das „Gesetz zur Umsetzung der Bestimmungen der Umwandlungsrichtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen“. Letzteres sieht dafür insbesondere ein neues „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung“ (MgFSG‑E) sowie Änderungen des „Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung“ (MgVG‑E) vor.

Nachdem das Kabinett am 6.7.2022 entsprechende Regierungsentwürfe beschlossen hat (vgl. zur Unternehmensmitbestimmung Müller-Bonanni/Jenner im Gesellschaftsrechts-Blog und Müller-Bonanni/Jenner, AG 2022, 457), sind am 16.9.2022 nunmehr die entsprechenden Stellungnahmen des Bundesrats ergangen (BR-Drucks. 360/22(B) und BR-Drucks. 371/22(B)). Darin bittet der Bundesrat – einer Empfehlung des Ausschusses für Arbeit, Integration und Sozialpolitik folgend – nebst einigen Änderungen im UmRUG insbesondere um eine Prüfung folgender Frage im weiteren Gesetzgebungsverfahren:

Der Bundesrat bittet im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, inwieweit im Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfs Verhandlungen über die Mitbestimmung für die aus einer Umwandlung hervorgehende Gesellschaft auch dann verpflichtend geregelt werden können, wenn nachträglich ein mitbestimmungsrelevanter Schwellenwert des Wegzugsstaates erreicht wird.

I. Einordnung

Die Prüfbitte des Bundesrats ist von der Sorge getrieben, Unternehmen könnten die „neuen“ (auf Basis der europäischen Grundfreiheiten allerdings bereits bestehenden; vgl. u.a. EuGH v. 13.12.2005 – C-411/03 („SEVIC“), AG 2006, 80; EuGH v. 25.10.2017 – C-106/16 („Polbud“), AG 2017, 854) Gestaltungsmöglichkeiten dazu nutzen, sich der Unternehmensmitbestimmung zu entziehen. Der Bundesrat begründet seine Prüfbitte dementsprechend wie folgt:

Allerdings widmet sich der Gesetzentwurf nicht der Problematik des sogenannten Einfrierens der Mitbestimmung. Diese Thematik ist auch bei der „Heraus-Umwandlung“ einschlägig. Etwa bei einem Formwechsel in eine ausländische Limited (Ltd.) kann in einer deutschen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die kurz vor der Schwelle von 500 Beschäftigten stand und somit einer Drittelbeteiligung entgegensah, das Mitbestimmungsniveau bei Null eingefroren werden. Dies ist insbesondere bei weiterer Wertschöpfung und Sitz in Deutschland ein dem innerstaatlichen Anspruch an den Schutz der Mitbestimmung nicht gerecht werdender Zustand.

In der Tat knüpft das Recht der Unternehmensmitbestimmung an das Gesellschaftsstatut an, im Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit also grundsätzlich an das Recht des Mitgliedstaats, in dem eine Gesellschaft ihren Satzungssitz hat. Das muss nicht der Mitgliedstaat sein, in dem sich die Hauptverwaltung der Gesellschaft befindet. Ausnahmen hiervon bilden die Societas Europaea, für die Art. 7 SE-VO anordnet, dass sich (Satzungs-)Sitz und Hauptverwaltung im selben Mitgliedstaat befinden müssen, und (Rück‑)Versicherungsgesellschaften (vgl. Art. 20 Richtlinie (EG) 2009/138, „Solvency II“).

Wandelt sich beispielsweise – wie in dem vom Bundesrat gebildeten Fall – eine deutsche GmbH formwechselnd in eine irische Ltd. um, beanspruchen die deutschen Mitbestimmungsgesetze (DrittelbG, MitbestG etc.) deshalb fortan für die Gesellschaft keine Geltung mehr, obwohl möglicherweise die Hauptverwaltung der Gesellschaft und der Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit in Deutschland verbleibt. Lag die Zahl der im Inland tätigen Arbeitnehmer der Gesellschaft vor dem Formwechsel noch unter dem Schwellenwert des DrittelbG von in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern, kann diese Zahl im Anschluss an den Formwechsel anwachsen, ohne dass das DrittelbG oder, wenn der Schwellenwert von in der Regel mehr als 2.000 im Inland tätigen Arbeitnehmern erreicht ist, das MitbestG greift. Bereits im Koalitionsvertrag 2021-2025 haben die Regierungsparteien sich vorgenommen, diesen sog. „Einfriereffekt“ zu beseitigen (S. 56 des Koalitionsvertrags; s. dazu Harnos/Holle, AG 2021, R359, 361 f.).

II. Bewertung

1. Unvereinbarkeit mit dem Vorher-/Nachher-Prinzip

Allerdings kann der „Einfriereffekt“ nicht beseitigt werden, ohne zuvor das europäische Recht zu ändern. Das scheint auch den Regierungsparteien klar gewesen zu sein, als sie im Koalitionsvertrag eher zurückhaltend formuliert haben, sie wollten sich für eine Beseitigung des Einfriereffekts „einsetzen“. Der Einfriereffekt ist das Ergebnis eines mühevoll in einem vier Jahrzehnte dauernden Verhandlungsprozess zwischen insbesondere der Bundesrepublik Deutschland und der Mehrzahl der Mitgliedstaaten, die keine Unternehmensmitbestimmung kennen, errungenen Kompromisses zur Societas Europaea (vgl. Jacobs in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, vor § 1 SEBG Rz. 2 ff.). Der Mitbestimmungsstatus der Gesellschaft, die aus der grenzüberschreitenden Umwandlung hervorgeht, wird nach dem Kompromiss im Verhandlungswege zwischen einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer und der oder den Unternehmensleitung(en) festgelegt, die eine grenzüberschreitende Maßnahme plant bzw. planen. Scheitern die Verhandlungen, erhalten gesetzliche Auffangregelungen das im Zeitpunkt der Maßnahme bestehende Mitbestimmungsniveau aufrecht – nicht weniger, aber auch nicht mehr (sog. „Vorher-/Nachher-Prinzip“).

In der Umwandlungsrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber das Vorher-/Nachher-Prinzip durch die Anordnung einer entsprechenden Geltung des SE-Rechts noch einmal ausdrücklich bestätigt. Weitergehende Forderungen nach einer Dynamisierung der Auffangregeln haben sich nicht durchsetzen können (hierzu auch Teichmann, NZG 2019, 241, 246 f.). Stattdessen sieht die Umwandlungsrichtlinie verschiedene, das Vorher‑/Nachher-Prinzip ergänzende Schutzmechanismen für die Unternehmensmitbestimmung vor. Dazu zählt insbesondere die neue sog. 4/5-Regelung, die bereits dann zur Bildung und Aufnahme von Verhandlungen mit einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer verpflichtet, wenn in einem an der grenzüberschreitenden Umwandlung beteiligten Unternehmen 4/5 der Zahl der Arbeitnehmer beschäftigt wird, die in dem Mitgliedstaat die Mitbestimmung auslöst. Darüber hinaus werden die Registergerichte zu einer erweiterten Missbrauchskontrolle ermächtigt, die sich auch auf die Unternehmensmitbestimmung bezieht (Art. 86m Abs. 8, Art. 127 Abs. 8 und Art. 160m Abs. 8 Umwandlungsrichtlinie). Nicht zuletzt werden mit der Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie neue Bußgeldtatbestände für die Verletzung von Informationsrechten der Arbeitnehmervertretungen eingeführt.

Die vom Bundesrat in Betracht gezogene Einführung einer Pflicht zur Aufnahme erneuter Mitbestimmungsverhandlungen, wenn nach der Eintragung der grenzüberschreitenden Umwandlung im Wegzugsstaat ein mitbestimmungsrechtlicher Schwellenwert erreicht wird, widerspricht dem Vorher-/Nachher-Prinzip. Sie läuft letztlich auf eine Dynamisierung der Unternehmensmitbestimmung in grenzüberschreitenden Gesellschaften hinaus (man könnte auch von einem Mitbestimmungsexport sprechen), wie sie in Jahrzehnten von Verhandlungen zur SE und nunmehr erneut in den Verhandlungen über die Umwandlungsrichtlinie nicht durchgesetzt werden konnte. Für ein Redaktionsversehen in der Richtlinie (so Stelmaszczyk, ZIP 2019, 2437, 2446) gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der Richtlinie lassen keinen Zweifel daran, dass der Richtliniengeber die Geltung des Vorher-/Nachher-Prinzips unmodifiziert zur Anwendung bringen will, so dass eine Regelung, die erneute Mitbestimmungsverhandlungen erfordern würde, wenn die Gesellschaft die relevanten Schwellenwerte innerhalb einer bestimmten Frist nach der Umwandlung erreicht, richtlinienwidrig wäre (vgl. in diese Richtung Uffmann, AG 2022, 427, 432).

2. Fehlende Regelungskompetenz

Die vom Bundesrat in Betracht gezogene Einführung einer Pflicht zur Aufnahme von Mitbestimmungsverhandlungen im Falle einer nachträglichen Überschreitung mitbestimmungsrechtlicher Schwellenwerte im Wegzugsstaat scheitert auch an der fehlenden Regelungskompetenz der Wegzugsstaaten. Die Unternehmensmitbestimmung und das Verhandlungsverfahren zur Bestimmung des Mitbestimmungsstatus richten sich nämlich kraft ausdrücklicher Anordnung des Richtliniengebers umfassend nach dem Recht desjenigen Mitgliedstaats, in dem die aus der grenzüberschreitenden Umwandlung hervorgehende Gesellschaft ihren Sitz hat bzw. haben wird, also nach dem Recht des Zuzugsstaats (Art. 86l Abs. 3, 133 Abs. 3 und 160l Abs. 3 der durch die Umwandlungsrichtlinie geänderten Richtlinie (EU) 2017/1132 i.V.m. Art. 6 der Richtlinie 2001/86/EG, „SE-Richtlinie“). Eine Pflicht zur Aufnahme erneuter Mitbestimmungsverhandlungen, wenn im Wegzugsstaat ein mitbestimmungsrechtlicher Schwellenwert überschritten wird, müsste deshalb ebenfalls durch den Zuzugsstaat geregelt werden, in dem eingangs gebildeten Beispiel also durch Irland. Dem deutschen Gesetzgeber wäre dies europarechtlich versagt.

Auch der jeweilige Zuzugsstaat könnte die vom Bundesrat erwogene Regelung übrigens letztlich nicht schaffen, weil er mit der nachträglichen Verhandlungspflicht (in Abhängigkeit von der Zahl der im Ausland tätigen Arbeitnehmer) ein Sondermitbestimmungsregime für zuziehende Gesellschaften etablieren würde. Dies stünde dem Ziel der Umwandlungsrichtlinie entgegen, einen einheitlichen europäischen Rechtsrahmen für grenzüberschreitende Umwandlungen zu etablieren und liefe letztlich sowohl auf eine unzulässige Diskriminierung solcher Gesellschaften wie auch auf eine Beschränkung der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit hinaus.

Die Regelungen der Gesellschaftsrechtsrichtlinie zur Unternehmensmitbestimmung sind abschließend. Für nationale Sonderwege ist hierneben kein Raum.

Update vom 12.10.2022: Die Bundesregierung hat in einer Gegenäußerung zur Prüfbitte des Bundesrates (BT-Drucks. 20/3817, S. 65 f.) im Einklang mit der hier vertretenen Auffassung mitgeteilt, dass sie die angeregte Regelung auf nationaler Ebene für rechtlich unzulässig hält. Die Problematik des „Einfrierens der Mitbestimmung“ habe der EU-Gesetzgeber durch eine Ausweitung der Verhandlungspflicht vor Erreichen der Schwellenwerte des Wegzugsstaats erkannt, aber nicht hinreichend gelöst. Das MgFSG sehe im Einklang mit der Richtlinie den Verhandlungsmechanismus auch in solchen Konstellationen vor, in denen wenigstens vier Fünftel des Schwellenwerts im Mitbestimmungsrecht des Wegzugsstaates erreicht werden. Verhandlungen bei nachträglichem Überschreiten der nationalen Schwellenwerte des Wegzugsstaates seien nach den Vorgaben der Umwandlungsrichtlinie dagegen nicht vorgesehen. Im Ergebnis könne die vom Bundesrat beschriebene Problematik des „Einfriereffekts“ daher rechtssicher nur durch einen europäischen Rechtsakt gelöst werden.

Neues zu virtuellen Gesellschafterversammlungen in der GmbH

Zum 1.8.2022 wird nicht nur die Möglichkeit virtueller Hauptversammlungen für Aktiengesellschaften in das AktG eingeführt, es treten ebenfalls mit dem Gesetz zur Ergänzung der Regelungen zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften (DiREG) Erleichterungen für die Abhaltung virtueller Gesellschafterversammlungen in der GmbH in Kraft.

Durch das DiREG wird § 48 Abs. 1 GmbHG folgender Satz 2 angefügt: „Versammlungen können auch fernmündlich oder mittels Videokommunikation abgehalten werden, wenn sämtliche Gesellschafter sich damit in Textform einverstanden erklären.“

Diese Ergänzung ist zu begrüßen, denn der Austausch in Konferenzschaltungen, sei es per Telefon oder Videoschaltungen, in Gremien und Organen ist durch die Corona-Pandemie mehr und mehr zum Normalfall in der Praxis geworden. Dieser Entwicklung trägt der Gesetzgeber durch die Einfügung des neuen zweiten Satzes in § 48 Abs. 1 GmbHG Rechnung. Er ergänzt die (dispositiven) Bestimmungen über die innere Organisationsverfassung der GmbH – und damit das gesetzliche Leitbild – und erweitert die Möglichkeit der Willensbildung im Rahmen einer Gesellschafterversammlung auf nichtphysische Zusammenkünfte. Nach der Gesetzesbegründung sind auch sogenannte kombinierte Versammlungen zulässig, bei denen mehrere Gesellschafter, die sich physisch an einem Ort befinden, sich gemeinsam, fernmündlich oder mittels Videokommunikation mit einem oder mehreren Gesellschaftern versammeln, die sich an anderen Orten befinden. Es müssen sich daher nicht sämtliche Gesellschafter an unterschiedlichen Orten befinden.

Vorstehendes gilt allerdings nur mit der Maßgabe, dass die Gesellschafter sich damit ausdrücklich einverstanden erklären. Hierfür wird eine Bestätigung in Textform verlangt, was nach der Gesetzesbegründung schon durch den Austausch beispielsweise von E-Mails oder Textnachrichten einfach und unkompliziert möglich ist, wenn man sich ohnehin elektronischer Mittel bedient. Für die Beschlussfassung selbst reicht dann die mündliche Kommunikation im Rahmen der (auch rein telefonischen) Konferenzschaltung aus.

Auf den ersten Blick wirkt die Neuregelung vermeintlich wie eine schnelle und unkomplizierte Lösung für den Umgang mit virtuellen Gesellschafterversammlungen in der GmbH. Denn nach der Gesetzesbegründung wird die bisherige rechtliche Unsicherheit, ob bei einer gemeinsamen Zusammenschaltung der Gesellschafter mittels elektronischer Kommunikationsmittel die notwendigen Voraussetzungen für eine Versammlung hergestellt werden können, beseitigt. Nach der Gesetzesbegründung bleibt allerdings „[d]ie bisherige Möglichkeit zur Abweichung vom (dispositiven) gesetzlichen Leitbild im Rahmen des § 45 Absatz 2 GmbHG, nämlich der Schaffung einer eigenen Grundlage für die Durchführung der Beschlussfassung, […] unberührt.“ D.h. der Gesellschaftsvertrag kann von§ 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. beliebig abweichen.

Mit Blick hierauf stellt sich die Frage, der Zulässigkeit virtueller Gesellschafterversammlungen, wenn Gesellschaftsverträge, die vor der Gesetzesänderung wirksam geworden sind, bereits detaillierte Regelungen hierzu enthalten oder schlicht den „alten“ Gesetzeswortlaut des § 48 Abs. 1 GmbHG wiederholen. Gilt dann ein Vorrang des Gesetzes oder des Gesellschaftsvertrages bzw. besteht eine Sperrwirkung? In der Praxis  regeln viele Gesellschaftsverträge ausschließlich Präsensversammlungen; die virtuelle Gesellschafterversammlung war, wie sich in der Corona-Pandemie deutlich gezeigt hat, beim Entwurf und Wirksamwerden dieser Gesellschaftsverträge noch gar nicht auf der Agenda. Vor diesem Hintergrund wäre es wohl fehlgeleitet anzunehmen, dass ein Gesellschaftsvertrag mit der bloßen Wiederholung des „alten“ Gesetzeswortlauts die virtuelle Gesellschafterversammlung unter Geltung der neuen Gesetzeslage ausschließt. In diesem Fall gilt u.E. für die Zulässigkeit von virtuellen Gesellschafterversammlungen § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. Eine ähnliche Annahme wurde aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage beim vollständigen Wechsel zum elektronischen Bundesanzeiger für Satzungsregelungen mit altem Gesetzeswortlaut bevorzugt getroffen.

Differenzierter zu betrachten ist u.E. allerdings der Fall, dass in bestehenden Gesellschaftsverträgen bereits Detailregelungen zur virtuellen Gesellschafterversammlungen enthalten sind. Hier ist etwa denkbar, dass bestehende Gesellschaftsverträge das Einverständnis der Gesellschafter mit virtuellen Gesellschafterversammlungen an eine strengere Form (z.B. Schriftform) oder an eine geringere Form (z.B. mündliche) knüpfen oder gar kein Einverständnis der Gesellschafter oder ein geringeres Quorum gefordert wird. Jedenfalls solche Detailregelungen wird man als „besondere Bestimmungen“ im Sinne des § 45 Abs. 2 GmbHG anzusehen haben, die der dispositiven Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. vorgehen.

Inwieweit Gesellschaften mit beschränkter Haftung von der virtuellen Gesellschafterversammlung nach Maßgabe des § 48 Abs. 1 Satz 2 GmbHG in Zukunft Gebrauch machen werden, wird sich zeigen. Die praktischen Erfahrungen der letzten beiden Jahre deuten darauf hin, dass insbesondere das Erfordernis des Einverständnisses sämtlicher Gesellschafter, gerade bei streitigen Gegenständen von Gesellschafterversammlungen, beschwerlich zu erzielen sein könnte. Daher bietet es sich für Gesellschafter von GmbH an, die gesetzliche Neuregelung zum Anlass zu nehmen, bestehende Gesellschaftsverträge hinsichtlich der Regelungen zu Gesellschafterversammlungen zu modernisieren und bei entsprechendem Konsens klare und der jeweiligen Gesellschafterstruktur angemessene Regelungen auch zu virtuellen Gesellschafterversammlungen zu beschließen.